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Landwirtschaft

«Die Seele will, dass man sich für sie Zeit nimmt»

Landwirte leiden öfter an Burnout und haben ein höheres Suizidrisiko als die übrige Bevölkerung, sagen Studien. Fachleute aus der Region erklären, wie es um die Seeländer Bauern steht. 
Die Botschaft: Tabus brechen und frühzeitig über Probleme reden.

Frühzeitig Hilfe holen und den Mut fassen, über die eigenen Probleme zu sprechen. Das bringt Licht in den Nebel. Bild: Brigitte Jeckelmann
  • Dossier

Brigitte Jeckelmann

Überfordert, ausgebrannt und depressiv. Bauern in der Schweiz wählen eher den Freitod als andere Männer aus einer ländlichen Gemeinde und sind stärker Burnout-gefährdet als der Rest der Bevölkerung. Das haben Forscher von Agroscope und der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften sowie des Instituts für Sozial- und Präventivmedizin der Uni Bern herausgefunden. Auch um das Seelenleben manch eines Bauern im Seeland steht es schlecht. Kein Wunder. Die Landwirtschaft gerät immer stärker unter Druck. Bauern kämpfen mit Preiszerfall und einem schlechten Image. Doch wenn Daniel Weber eines satt hat, dann ist es, dass die Öffentlichkeit Bauern «als Jammeri wahrnimmt», stellt der Landwirt und Präsident der Landwirtschaftlichen Organisation Seeland aus Gerolfingen klar. Er steht selbstbewusst zu seinem Berufsstand, verschliesst aber auch nicht die Augen vor der Entwicklung: Obwohl er ein «durchwegs positiver Mensch» sei, mache er sich zunehmend Sorgen, wenn er die Situation auf manchen Betrieben beobachte.

Die Gründe ortet Weber an mehreren Stellen: Auf vielen Betrieben sei die finanzielle Lage schwierig. Einkommensausfälle kompensieren manche Bauern mit Schulden oder sie gehen einem Nebenerwerb nach. Beides hat Folgen. Finanzielle und auch persönliche. Weber glaubt, viele Betriebsleiter sollten deshalb eigentlich ihren Betrieb so rasch als möglich aufgeben. «Doch dies kommt für sie einem gesellschaftlichen Scheitern gleich», sagt er.


Bauern opfern sich für Betrieb auf
Der Betrieb steht über allem. Er ist oft seit Generationen in der Familie und er muss weiter bestehen. Koste es, was es wolle. Und sei es die eigene Gesundheit oder die der Familie. Das erlebt Renate Hurni bei ihrer Arbeit oft. Sie ist Beraterin und Coach am Inforama Seeland und führt in Teilzeit einen Bauernbetrieb zusammen mit ihrem Mann. Hurni sagt: «Ich weiss, was ich berate, weil ich es selber lebe.» Bauern opfern sich für ihre Betriebe auf, sagt Hurni, «weil sie es von ihren Eltern nicht anders gelernt haben». Cool sei, wer am meisten und am Längsten arbeiten kann. Überlastung bis zum Burnout und im schlimmsten Fall Suizid sind die Folgen. Dabei gerät unweigerlich das Familienleben ins Hintertreffen. «Vereinsamen kann man auch in der Familie», sagt sie. Fehlt Zeit für Gespräche, für gemeinsame Auszeiten mit dem Partner, leidet die Beziehung. Das Thema Scheidung ist bei Bauern deshalb keine Seltenheit.

Für ihre Beratungen geht Renate Hurni oft auf die Betriebe. Sie blickt in die Familien, schaut sich an, wie sie miteinander umgehen und hält ihnen «einen Spiegel vor, aber ohne zu werten», sagt sie. «Mein Ziel ist, ihnen Impulse zu geben, damit sie anfangen, an sich zu arbeiten.» Dabei ist klar: Veränderungen brauchen Zeit. Es sind Prozesse. Man könne alte Gewohnheiten nicht von einem Tag auf den andern ablegen, sagt die Beraterin. Oft sind es aber auch einfache Massnahmen in den Arbeitsabläufen, die angespannte Situationen entschärfen. Manchmal empfiehlt Renate Hurni, sich Hilfe bei anderen Bauern zu holen, sich Maschinen mit ihnen zu teilen, ohne gleich selber viel Geld in eigene zu investieren, das man eigentlich gar nicht hat. Kommt dazu: Viele Bauern im Seeland sind Gemüseproduzenten. Dieser Zweig in der Landwirtschaft unterscheidet sich vom Ackerbau. Gemüsebauern sind stark von Unsicherheit betroffen, sagt Renate Hurni. So könne ein Händler eine vom Bauern vorbereitete Ladung Gemüse jederzeit zurückweisen, wenn ihm etwas nicht passe. Geschehe dies mehrmals, «dann fängt der Bauer an, an sich zu zweifeln». Es bedeute auch immer einen Erwerbsausfall. Hurni: «Das ist zermürbend.»

Geldsorgen, zu viel Arbeit, zu wenig Erholung und dazu noch fehlende Wertschätzung sind auf Dauer Gift für jeden Menschen. Bei Bauernfamilien kommen häufig noch Generationenkonflikte hinzu. Enge Platzverhältnisse, Alt und Jung unter einem Dach oder nahe beieinander – das geht nur gut, wenn die Kommunikation stimmt. Und dort hapert es in vielen Fällen. Generationenprobleme sind deshalb einer der häufigsten Gründe für Landwirte, die sich beim Bäuerlichen Sorgentelefon melden. Lukas Schwyn, in Biel aufgewachsen, Präsident des Bäuerlichen Sorgentelefons und Pfarrer in Signau im Emmental, bezeichnet das Zusammenleben von mehreren Generationen und daraus entstehende Konflikte als spezifisch bei Bauern. Daneben erlebt er oft, dass sich Bauern schwertun mit der zunehmenden administrativen Arbeit in den Betrieben. Schwyn: «Sie sind es gewohnt, viel zu arbeiten, aber der ganze Papierkram überfordert manch einen, weil die Arbeit im Büro und am Computer nicht sein Ding ist.» Doch heute reiche «einfach viel chrampfen» nicht mehr. Zahlreiche Vorschriften zwingen Bauern, jeden Arbeitsschritt zu dokumentieren. Sonst riskieren sie Kürzungen bei den Direktzahlungen. Der Schritt vom Arbeiter zum Unternehmer sei für einen Teil der Bauern eine schier unüberwindbare Hürde, sagt Lukas Schwyn.

Er beobachtet, dass sich vor allem die 55- bis 65-Jährigen schwertun mit den veränderten Bedingungen in der Landwirtschaft. Schwyn: «Sie haben die guten Zeiten noch erlebt, als der Staat die Preise garantierte.» Mit dem steten Wandel in der Landwirtschaftspolitik käme besonders diese Altersgruppe schwer zurecht. So erstaunt es nicht, dass gerade jene Männer die Depression trifft. Und wenn sie leiden, dann leiden sie still. Über Gefühle reden, das weiss der Pfarrer, fällt ihnen schwer.

Dabei wäre es wichtig, zugeben zu können: Ich habe ein Problem, ich brauche Hilfe. Nach Schwyns Erfahrung können sich so schwere Fälle von Burnout verhindern lassen. Er warnt: Wenn es einmal zum Zusammenbruch kommt, geht es mindestens zwei Jahre, bis man das überwindet: «Die Seele braucht dann Zeit und will, dass man sich diese Zeit für sie nimmt.» Frauen seien da anders. Sie seien aktiver und eher bereit, sich Rat zu holen. Und oft seien es auch Frauen, die beim Bäuerlichen Sorgentelefon anrufen, weil sie nicht wissen, was sie mit ihren Männern tun sollen, die sich partout nicht helfen lassen wollen.


Furcht vor Gerede
Weshalb unter Bauern psychisches Leiden ein Tabu ist, kann Annekäthi Schluep erklären. Sie ist pensionierte Bäuerin aus Schnottwil und im Vorstand des Schweizerischen Bäuerinnen- und Landfrauenverbands. «Man will nicht, dass die Nachbarn davon wissen, weil man das Gerede fürchtet.» Denn die «Landwirtschaftsszene» ist klein. «Viele kennen sich.» Und: Bauern sind an den Boden gebunden, sie könnten ihre Zelte nicht einfach abbrechen und woanders hinziehen, sagt sie. Doch auch Annekäthi Schluep macht sich Sorgen darüber, dass immer mehr Bäuerinnen und Bauern überfordert sind.

Der Landfrauenverband hat darauf mit einer Vermittlungsplattform auf seiner Internetseite reagiert (siehe Infobox). Dort finden Ratsuchende Fachleute aus verschiedenen Gebieten: Psychologen, Landwirtschaftliche Berater, Anwälte und mehr. Annekäthi Schluep sagt, dass man alle eingehend geprüft habe. Das Wichtigste: «Jede Fachperson hat einen Bezug zur Landwirtschaft und weiss daher um die Sorgen und Nöte von Betroffenen.»

Sie selber ist keine Bauerntochter, hat aber jung in eine Bauernfamilie geheiratet und mit ihrem Mann vier Kinder grossgezogen. Für sie sei es gewöhnungsbedürftig gewesen, mit so vielen Menschen auf engem Raum zu leben und zu arbeiten. Acht Personen lebten damals im Bauernhaus und dem Stöckli daneben. Heute sind sie und ihr Mann pensioniert und leben im Stöckli. Die Tochter und der Schwiegersohn haben den Betrieb übernommen. «Ich musste auch erst lernen, ihnen den nötigen Raum zu geben und loszulassen», sagt sie. Für Annekäthi Schluep ist der Beruf Bäuerin aber nach wie vor der schönste: Man erlebe Tiere und Natur jeden Tag hautnah, und: «Ich sehe direkt das Ergebnis meiner Arbeit.»

Annekäthi Schluep, Daniel Weber, Lukas Schwyn und Renate Hurni sind gegen Trübsal gewappnet. Alle haben sie ihre eigenen, bewährten Methoden.


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Lukas Schwyn

«Eigentlich habe ich fast nie schlechte Laune und düstere Stimmung. Ausser wenn ich zu lange 
allzuviel zu tun habe. Meine Rezepte dagegen sind einfach: Ich gehe hinaus und lüfte meinen Kopf und weite meine Seele auf einem Gang in der Natur. Oder ich höre mir ein gutes Musikstück an, hole mir bei meiner Frau eine Umarmung und trinke am Abend ein Glas Wein mit ihr. Oft bete ich und werfe mich ganz einfach Gott in die Arme. Tabletten nehme ich dagegen nie.»


Daniel Weber

«Für mich ist es wichtig, auch Leute zu treffen, die nichts mit der Landwirtschaft zu tun haben. Im Austausch mit anderen erkennt man, dass sie in ihrem Beruf auch ähnliche Situationen erleben wie wir Bauern. Damit relativieren sich die eigenen Probleme. Die Freizeit sollte man nicht vernachlässigen. Meine Frau und ich nehmen uns regelmässig Auszeiten und pflegen unsere Beziehung. So können wir uns gegenseitig unterstützen. Und letztlich sage ich mir: Bauer sein ist ein Beruf und kein Zustand.»


Renate Hurni

«Ich bin eine Frohnatur. Aber auch mir geht es nicht immer blendend. Wenn ich mich einmal schlecht fühle, dann ziehe ich meine Turnschuhe an und gehe eine halbe Stunde zügig in der Natur spazieren. Dabei spielt das Wetter keine Rolle. Man sagt, dass man Depressionen einfach verlaufen kann. Mir jedenfalls hilft das immer. Ich gehe auch gerne mit Freunden essen oder ein Glas Wein oder ein Bier trinken. Dann mag ich nicht Probleme wälzen, sondern liebe es, einfach so zu plaudern.»


Annekäthi Schluep

«Als optimistischer Mensch bemühe ich mich, die Dinge von der positiven Seite zu sehen. Mir ist es ein Bedürfnis, mir selber Zeit für meine Hobbys zu nehmen. Beim Lesen und der Gartenarbeit entspanne ich mich. Probleme überdenke ich am liebsten draussen in der Natur. Wenn ich durch den Wald walke, kann ich Strategien entwickeln. Für mich ist der Kontakt zu anderen Menschen sehr wichtig. Ich rede und diskutiere auch gerne mit Leuten ausserhalb der Landwirtschaft.»


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Hier finden Sie Hilfe

- Adressen von ausgewiesenen Fachpersonen unter www.landfrauen.ch oder telefonisch unter 056 441 12 63.

- Bäuerliches Sorgentelefon: 
Telefonnummer 041 820 02 15, jeweils Montag 8 bis 12 Uhr und Donnerstag, 18 bis 22 Uhr.

- Netzwerk Mediation im ländlichen Raum: Telefonnummern 031 941 01 01 oder 078 790 04 04.

- Weitere Adressen von Hilfsangeboten auf der Website des Schweizerischen Bauernverbands: www.sbv-usp.ch – Services – Brauchen Sie Hilfe? bjg

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