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Justiz

Ein Facebook-Post stellte
 sein Leben auf den Kopf

Valentin Abgottspon teilte auf Facebook einen Artikel – und wurde dafür vom Tierschützer Erwin Kessler angezeigt. Nun soll ein Crowdfunding helfen.

Nicht immer so ruhig: Spricht Valentin Abgottspon über Erwin Kessler, wird er emotional. Bild: Beat Mathys

Sheila Matti

Hinter Valentin Abgottspon liegen fünf schwierige Jahre. Schlaflose Nächte, konstante existenzielle Angst, Schuldgefühle gegenüber seiner Frau und den beiden Kindern. «Ich hätte nie gedacht, dass das Ganze solche Ausmasse annimmt», sinniert er heute, zu Hause an seinem Wohnzimmertisch in Lyss.

Mehrfach wehrte sich der gebürtige Walliser vor Gericht gegen Klagen und Anzeigen. Der bekannte Tierschützer Erwin Kessler beschuldigte ihn der üblen Nachrede und Ehrverletzung, weil er einen Artikel auf Facebook geteilt und kommentiert hat. Das wollte sich Abgottspon, der auch Kolumnist des «Bieler Tagblatt» ist, nicht gefallen lassen und zog das Verfahren bis vors Bundesgericht – wo seine Beschwerde in zwei von drei Punkten gutgeheissen wurde.

Dieses Urteil sei zwar eine «riesige Erleichterung», alle Probleme löse es aber nicht. Der Spiessrutenlauf vor Gericht hinterliess seine Spuren, insbesondere finanziell. Über 100000 Franken kostete Abgottspon der Kampf.

Ein anonymer Artikel
Die Geschichte begann am 12. August 2015. Über seinen Facebook-Account teilte Abgottspon einen Artikel der Internetplattform Indyvegan, ein anonymes, antifaschistisches Netzwerk.
Darin kritisiert wurde das Winterthurer Strassenfest Veganmania – oder genauer die Tatsache, dass dort der Verein gegen Tierfabriken (VGT) teilnehmen durfte. Präsident des VGT ist der bekannte Tierschützer Erwin Kessler, dem in Vergangenheit immer wieder antisemitische Tendenzen vorgeworfen wurden. So auch im Artikel von Indyvegan.

«Ich war mir bewusst, dass der Artikel mit Vorsicht zu geniessen war», reflektiert Valentin Abgottspon heute, «aber er wirkte seriös und gut belegt.» Primär sei es ihm darum gegangen, die Leute zum Nachdenken anzuregen, zur Diskussion anzustossen.

Valentin Abgottspon ist kein unbeschriebenes Blatt. Als Vizepräsident der Freidenker-Vereinigung Schweiz eckt er öfter an. In dieser Funktion setzt er sich für die Trennung von Staat und Kirche und für ein wissenschaftliches, humanistisches Weltbild ein. Meist richtet sich seine Kritik gegen Religion, «insbesondere gegen religiösen Fundamentalismus».

2010 arbeitete Abgottspon als Lehrperson in der Walliser Gemeinde Stalden. Dort hängte er das Kruzifix in seinem Klassenzimmer ab und wurde deshalb fristlos entlassen. Der Vorfall schlug Wellen, immer wieder wurde Abgottspon von verschiedenen Medien porträtiert und interviewt.

Ein wenig Provokation dürfe sein, findet Abgottspon: «Um Denkanstösse zu geben, muss man manchmal halt auch etwas anstössig sein.» Gegen Privatpersonen und Minderheiten würde er zwar nicht vorgehen. «Beim Präsidenten eines national tätigen Vereins jedoch, da darf man auch mal etwas kritischer sein.»
Wenn der Familienvater über Erwin Kessler und dessen Äusserungen spricht, wird er lauter, schneller, gestikuliert mit den Händen. Besonders störend findet er, dass Kessler die Massentierhaltung mehrfach mit Konzentrationslagern verglichen oder gar gleichgestellt hat.
«Ich setze mich zwar auch für das Tierwohl ein», so Abgottspon, «dieser Vergleich ging aber deutlich zu weit.»

Miteinander in Kontakt
Valentin Abgottspon ist nicht der Einzige, der von Erwin Kessler verklagt wurde. In Zusammenhang mit dem Artikel von Indyvegan reichte Kessler gegen zirka 20 Personen Strafanzeige ein, die den Beitrag geteilt, verbreitet oder gelikt hatten. Viele Prozesse gingen zugunsten des Tierschützers aus.
Noch heute stehen einige der Angeklagten in Verbindung. Man teilt Geschichten, Unterlagen, Dokumente – und tauscht Erfahrungen aus. Daher wusste Abgottspon etwa, was auf ihn zukommen könnte. Unterschätzt habe er das Ganze aber trotzdem.

Die Zeit vor Gericht: für Abgottspon ein emotionales Auf und Ab. Als das Regionalgericht Bern-Mittelland den Fall 2017 erstmals behandelte, wurde er zwar verurteilt – erhielt aber zumindest in einem Punkt recht. Das habe ihm Mut gemacht: «Ich räumte mir für den Weiterzug ans Obergericht gute Chancen ein.»
Die Ernüchterung kam vor dem Obergericht. Dieses bestätigte nicht nur den Entscheid des Regionalgerichts, es verschärfte das Urteil sogar und sprach Abgottspon in allen drei Punkten schuldig. «Das war wie ein Schlag ins Gesicht.» Nach diesen beiden Niederlagen ging Abgottspon über die Bücher. Rund 40000 Franken hatte er an diesem Punkt bereits für die Arbeit seines Anwalts bezahlt, mindestens so viel stellte dieser ihm zudem noch in Rechnung.

Hinzu kamen die Kosten des Zivilverfahrens, das Kessler parallel zum Strafprozess gegen Abgottspon anstrengte. Auch hier verlor der Oberstufenlehrer. Er musste die Prozesskosten übernehmen und eine Entschädigung bezahlen, insgesamt über 15000 Franken. «Ich hatte einen Punkt erreicht, an dem ich einen Weiterzug finanziell nicht mehr verantworten konnte», sagt Abgottspon.

Bis zum Bundesgericht
Umstimmen liess sich Valentin Abgottspon von Regula Sterchi. Die Baslerin steckt in einer ähnlichen Situation, auch sie wehrt sich vor Gericht gegen Erwin Kessler, auch sie will vors Bundesgericht. Abgottspon nennt sie «the last woman standing».
Sterchi appellierte an Abgottspon, er dürfe jetzt nicht aufgeben. Sie sicherte ihm zu: Wenn du tatsächlich vor Bundesgericht verlierst, dann übernehme ich die Hälfte der Kosten.
Zudem wechselte Abgottspon den Anwalt. Neu liess er sich von jenem vertreten, der auch Regula Sterchi betreute. Dieser kam ihm entgegen, reichte etwa die Beschwerde beim Bundesgericht ein, ohne dafür ein Honorar zu verlangen.

Heute ist Valentin Abgottspon froh, dass er nicht aufgegeben hat. Ende November 2020 beschäftigte sich das Bundesgericht mit seinem Fall, hiess die Beschwerde teilweise gut und sprach Abgottspon in zwei von drei Punkten frei. Der dritte Punkt wurde zur Neubeurteilung ans Obergericht zurücküberwiesen. «Als ich die gute Nachricht vom Anwalt bekam, war die Freude riesig.»
Das Bundesgericht hat Abgottspon eine Entschädigung zugesprochen – diese beträgt aber lediglich 1200 Franken. «Ein Tropfen auf den heissen Stein», so Abgottspon: Der Betrag reiche niemals aus, um die bisher entstandenen Kosten zu decken.

Hoffnung setzt Abgottspon deshalb ins Berner Obergericht: Je nachdem, wie dessen Urteil zum dritten Punkt ausfällt, kann er nochmals mit einem mehr oder weniger grossen Betrag rechnen. «Wenn ich Glück habe, sind das vielleicht 15000 Franken.»

Auf der Suche nach Spenden
Unter dem Strich betragen Abgottspons Kosten für Anwalt, Prozesse und Zivilverfahren über 100 000 Franken. Gut die Hälfte davon ist bereits bezahlt. Unter anderem bezog er dafür auch das Erbe seiner Eltern vor. «Aber das finanzielle Loch bleibt.»

Um es zumindest teilweise zu stopfen, lancierte Valentin Abgottspon mit Regula Sterchi letzten Monat ein Crowdfunding im Internet. 10000 Franken hoffen sie auf diesem Weg zu sammeln. Noch drei Tage läuft die Sammelaktion – 5700 Franken konnten bisher gesammelt werden.
Wird das Ziel nicht erreicht, erhalten die beiden kein Geld. «Wir bleiben aber zuversichtlich», so Abgottspon. Zudem bedeute der Betrag viel, auch wenn er nicht gross sei: «Durch das Sammeln spüren wir, wie gross die Solidarität ist.»

Was dich nicht umbringt, macht dich stärker. Valentin Abgottspon zitiert die Redewendung und seufzt. «Für mich gilt das sicher nicht. Ich fühle mich nicht stärker, sondern zermürbt.» Könnte er die Zeit zurückdrehen, würde er den Artikel nicht mehr teilen.

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