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Berner Jura

«Ein Geschenk für das ganze Leben»

Viele Bauern im Chasseral-Gebiet stammen von Deutschschweizern ab. Ein grosser Teil von ihnen ist heute bilingue, weil die Zweisprachigkeit über Generationen hinweg perfektioniert wurde.

Métairie Feuerstein, Familie Oppliger: Der Vater ist perfekter Bilingue, die Mutter mehrsprachig, der Älteste hat Deutsch gelernt, die Jüngeren sprechen Französisch. Bild:Beat App

Lotti Teuscher

21 Schülerinnen und Schüler, neun Altersstufen, zwei Sprachen. Vier Lehrer und Lehrerinnen, die sich 200 Stellenprozente teilen, Schüler, die auf dem Hin- und Rückweg bis zu 14 Kilometer zurücklegen. Ein Schulhaus, 1000 Meter über Meer, auf der Nordseite des Chasserals.

Funktioniert der Unterricht in einer solchen Schule?

Er funktioniert. Wenn Lehrer Angel Marcos von seinen Schülern und Schülerinnen spricht, schwingt eine Spur Stolz mit. Er erzählt, wie Eltern ihre kleineren Kinder im Winter mit dem Schneetöff zur Schule bringen und wie sich die Grösseren selber auf das Schneemobil schwingen. Besonders stolz aber ist Angel Marcos, wenn er davon spricht, wie aus kleinen Deutschschweizern perfekte Bilingues werden.

Festhalten an Muttersprache
Die Vorfahren der Kinder sind vor mehreren Generationen auf der Suche nach Höfen meist aus dem Emmental oder dem Berner Oberland eingewandert. Bis heute sind sie Bauern, und ihre Muttersprache haben sie über Generationen hinweg gepflegt, diese Deutschschweizer, die in den französischsprachigen Jura eingewandert sind.

So selbstverständlich wie es für sie ist, zu Hause Deutsch zu reden, so selbstverständlich sind sie andererseits bereit, Französisch zu lernen. Wenn die Kinder zum ersten Mal das Schulzimmer betreten, sprechen sie gebrochen Französisch. Lehrer Marcos kann zwar Hochdeutsch, und wenn es gar nicht anders geht, hilft er den Kinden mit zwei, drei Worten. Manchmal kommen auch Gebärden zum Einsatz.

«Wir konzentrieren uns auf diese Kinder, wir helfen ihnen», sagt Marcos. Zusätzlich erhalten sie eine oder zwei Stunden Französischunterricht pro Woche.

Im Schulhaus und auf dessen Areal gilt die Regel: Man spricht Französisch. Erst wenn die Deutschschweizer den Bovi-Stopp vor der Schule überquert haben, dürfen sie Deutsch reden. «Das tönt zwar streng, aber alle sind mit dieser Regel einverstanden», sagt Angel Marcos.

Eine Schule der Täufer
Die Kinder lernen leicht. Und zwar so gründlich, dass ihr Lehrer eine ganze Weile lang nachdenken muss, um die Frage zu beantworten, wie viele Deutschschweizer seine Klasse besuchen – nach ein paar Jahren Unterricht kann er Romands und Deutschsprachige kaum mehr auseinanderhalten. Angel Marcos kommt schliesslich auf sieben Kinder; die Romands bilden somit eine exakte Zweidrittelmehrheit.

Bis ins Jahr 1946 wurde in der Schule auf den Prés de Cortebert auf Deutsch unterrichtet; die Schule wurde von den Täufern geführt. Die Kinder der Bauern, die nur während der warmen Jahreszeit eine Métairie auf den Jurahöhen bewirtschafteten, besuchten im Sommer die Schule auf Deutsch, im Winter gingen sie im Tal in die französische Schule.

Ab 1946 übernahmen mehrere Gemeinden die Schule, fortan wurde Französisch gesprochen. Manch ein Kind, das während des ganzen Jahres auf Les Prés de Cortebert lebte, musste mitten in der Schulzeit die Sprache wechseln.

Damit starteten die Dörfer ein Experiment mit interessanten Folgen: Während die meisten Grosseltern Französisch mit Akzent reden, sind die Eltern perfekte Bilingues. In der dritten Generation entscheidet die Heirat, ob auch die Kinder Bilingues werden: Heiratet ein zweisprachiger Landwirt nämlich eine Romande, geht die Deutsche Sprache meist verloren.

Dass die ausgewanderten Oberländer und Emmentaler seit Generationen an ihrer Muttersprache festhalten, wundert Angel Marcos nicht. Denn jede Sprache ist an eine bestimmte Kultur gebunden; und die mögen die Landwirte auf ihren abgelegenen Berggütern nicht missen.
Dies bedeute allerdings nicht, dass die beiden Sprachgruppen am Chasseral ein Problem miteinander hätten, betont Marcos: «Sie spielen ihre Sprache nicht gegeneinander aus, sondern haben zwei Kulturen und betrachten dies als Reichtum.» Deutschsprachige Familien hingegen, die von den einsamen Höhen ins Tal gezogen waren, assimilierten sich rasch und wurden Romands.

Stolze Bilingues
Heidi Bühler, die zusammen mit ihrem Mann und den Grosseltern die Métairie Kleiner Twannberg bewirtschaftet, fühlt sich als Deutschschweizerin, ist aber perfekt bilingue – nicht nur mündlich, sondern auch schriftlich. Schaut sie sich zum Beispiel eine DVD an, weiss sie am Tag danach nicht, ob die Sprache Deutsch oder Französisch war.

Den Kindergarten absolvierten Heidi Bühlers vier Kinder auf Französisch. Der älteste Sohn war so stolz, eine neue Sprache zu beherrschen, dass er diese auch seine kleine Schwester lehrte. Fortan wollten die beiden Französisch mit den Eltern sprechen, worauf diese jeweils sagten: «Wir verstehen euch nicht». Denn im Haus der Bühlers wird konsequent Deutsch geredet.

«Es ist wahnsinnig wichtig, zwei Sprachen zu beherrschen», sagt die Bäuerin. «Denn wir leben in einer Welt, in der viele Sprachen gesprochen werden.» Und nie sei es einfacher, eine zweite Sprache zu lernen, als wenn man Kind sei.

Die beiden ältesten Kinder von Heidi Bühler absolvierten ihre Lehre auf Deutsch, was sie dieser Sprache näher- brachte. Der Sohn, der als dritter geboren wurde, hat eine Freundin, die Romande ist, deshalb tendiert er heute mehr zum Französischen.

Deutsch geht verloren
Die Frage ist allerdings: Welche Sprache lernen die Kinder, wenn ein bilinguer Vater eine Romande heiratet? Alex Oppliger, der Bruder von Heidi Bühler, ist zweisprachig. Seine Frau Caroline Oppliger ist eine Romande und spricht zusätzlich Deutsch und Englisch, doch bilingue ist sie nicht aufgewachsen.

Dem ältesten Kind lehrten die Eltern Deutsch, «doch danach», scherzt Alex Oppliger, «haben wir versagt». Die beiden Jüngeren sprechen nur Französisch: Caroline Oppliger redet, wie alle Frauen, mit ihren Kindern in ihrer Muttersprache. Aus den beiden Kleineren werden kaum Bilingues.

Vater Alex Oppliger dagegen ist zweisprachig aufgewachsen. Seine Eltern haben im Alltag sowohl Französisch als auch Deutsch gesprochen. Und welche Sprache war wichtiger? Alex Oppliger zögert, denkt lange nach und sagt: «Das weiss ich nicht».
Der Bauer und Senn ist glücklich, bilingue zu sein, denn er braucht täglich beide Sprachen, wenn Gäste in der Métairie einkehren. Zweisprachig zu sein, sagt Alex Oppliger, «ist ein Geschenk für das ganze Leben». 

 

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98 Prozent sind bilingue

Die Frage, wie viele Deutschsprachige in der Gemeinde Courtelary leben, macht Gemeindeschreiber Raymond Favre ein wenig ratlos. Nicht, weil ihm dies egal ist, sondern weil die Deutschschweizer perfekt Französisch sprechen. «98 Prozent der Deutschschweizer sind bilingue», sagt Favre. Einzig ein älteres Ehepaar, das einen abgelegenen Hof in der Höhe bewirtschafte, spreche kein Französisch.
Auch an ihren Namen lassen sich Deutschschweizer und Romands nicht unterscheiden. Denn viele der Oppligers, Bühlers oder Lerchs sprechen heute ausschliesslich Französisch; nur noch ihr Name erinnert daran, dass ihre Vorfahren einst aus der Deutschschweiz in den Jura ausgewandert sind.
Alle Kinder in Courtelary und den umliegenden Gemeinden besuchen den französischen Kindergarten. Wer seine Kinder in eine deutsche Schule schicken will, wählt in der Regel die Rudolf-Steiner-Schule in Biel und bezahlt das Schulgeld selber. Doch das komme nur selten vor, sagt Favre. Die Kinder würden poblemlos Französisch lernen. Auch Favre betont die Vorteile der Zweisprachigkeit: «Unsere Bilingues können in der ganzen Schweiz leben und arbeiten.»    LT

Kommentare

EDSCHNETZER

Diesen Bericht muesste an die welschen Einwohner in der Gemeinde Nidau verteilt werden, dann werden sich einige auch bewusst werden wie wichtig Bilingue ist. Wenn dann diese Kinder einmal erwachsen sind, werden sie's ihren Eltern ewig danken


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