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Bus-Tour

Ein Tag voller Überraschungen

Spontane Abstecher können auf zwei Arten enden: Entweder man findet den schönsten Platz der Welt – oder man findet ihn nicht und kommt gar noch in Stress. Wie es ist, Ersteres zu erleben, hat Geraldine Maier auf ihrer Bus-Tour ins Tessin erfahren.

Der spontane Abstecher zum Lago del Narèt im Tessin hat sich für Geraldine Maier und ihren Freund mehr als 
gelohnt. Bild: Geraldine Maier
  • Dossier

Geraldine Maier

Dort angelangt, bestaunen wir mit grossen Augen die aussergewöhnliche Bergkirche. Wo früher eine Kirche aus dem 17. Jahrhundert stand, die allerdings 1986 von einer Lawine zerstört wurde, steht heute ein moderner und robuster Ersatz, der vom Tessiner Architekten konstruiert wurde. Durch das Glasdach als einzige Lichtquelle wird die Räumlichkeit in ein besonderes Licht getaucht und die massiven Mauern mit ihren schwarz-weiss kariertem Muster verleihen dem Bau einen einzigartigen 
Charakter.

Kaum haben wir ein Wort ausgesprochen, hallt es um uns herum. Der Klang, der entstand, führt uns in Versuchung, ein Lied anzustimmen. Es ist wunderschön, die Stimmen in diesem Raum aufgehen zu lassen. Ein Abstecher, der sich definitiv gelohnt hat.

Aufstieg mit Nervenkitzel

Nach dem Besuch der Kirche schlägt uns eine drückende Hitze entgegen. Eine Erfrischung wäre jetzt perfekt, denken wir. Diese sollte ganz in der Nähe möglich sein. Auf einer Ortstafel sehen wir, dass sich nur wenige Kilometer weiter ein See namens Lago del Sambuco befindet. Beim See angelangt wird unsere Vorfreude auf das kühle Nass allerdings durch Enttäuschung ersetzt. Denn beim vermeintlichen Bergsee handelt es sich um einen Stausee. Baden ist also untersagt.

Unsere Hoffnung auf eine Abkühlung 
geben wir aber nicht sofort auf. Ich bin mir sicher, dass auf der Karte noch weitere 
Seelein in diesem Tal eingezeichnet sind. «Doch darf man da wirklich weiterfahren?» Die offene Barriere bei der weiterführenden Strasse verunsichert uns zuerst. Erfolgslos suchen wir nach einer Hinweistafel. «Wenn nichts steht, können wir es wagen.» Wir setzen uns erneut in den blauen Bus und fahren dem See entlang weiter. Ganz einsam kommen wir uns vor, keine anderen Fahrzeuge sind zu sehen. Obwohl die Umgebung wunderschön ist, werden wir von einer gewissen Anspannung begleitet. «Wie weit geht es noch nach oben? Eine so extreme Bergfahrt ist doch nicht normal. Wird unser Gefährt einen solchen Anstieg schaffen?»

Immer, wenn wir denken, hinter der nächsten Kurve kommt das Ende, taucht noch eine weitere Kurve auf. «Was wäre, wenn uns jetzt ein Auto entgegenkäme?» Die Strasse wird schmaler und der Gedanke an ein Kreuzmanöver bereitet uns schon fast Bauchschmerzen. Dank den Ausweichstellen lösen sich unsere Befürchtungen aber bald in Luft auf. Die Handvoll Kreuzungen, die es auf dem «einsamen Aufstieg» doch noch gibt, stellen keine Schwierigkeiten dar. Als wir sogar einem Lieferwagen begegnen, staunen wir nicht schlecht. «Schon krass, was da alles hochfährt.»

Nach gut 14 Kilometern kurvenreicher Strasse haben wir es endlich geschafft. Der alte VW-Bus erreicht auf 2310 Meter über Meer einen persönlichen Rekord. Auf einer solchen Höhe stand er noch nie. Die Baumgrenze liegt ein gutes Stück unterhalb und anstelle von Bäumen sieht man viele bunte Blumen auf einer saftigen Wiese. Die Bergspitzen sind greifbar nah und der Stausee «Lago del Narèt» liegt ruhig in der Mitte von all dem.

Wir sind überwältigt von diesem Platz. So etwas haben wir nicht erwartet. Ahnungslos und voller Zweifel sind wir 
immer weitergefahren und werden nun mit diesem Ausblick belohnt. Schon fast etwas stolz, einen so wundervollen Ort zufällig entdeckt zu haben, geniessen wir den Moment. Doch wir sind nicht die Einzigen, die ihn entdeckt hatten. Um den See herum und auf dem Damm stehen bereits überall verteilt Camper, VW Busse und PW mit Dachzelten! Obwohl wir diesen «Spot» mit anderen teilen, steht für uns fest: «Das ist unser neuer Reisegeheimtipp.»

Unerwartete Einladung

Die Sonne ist gerade hinter dem Berg verschwunden, als mein Freund und ich, bepackt mit Gitarre und Ukulele, über den Naret-Staudamm laufen. Unser Ziel ist eine Steinbank auf der anderen Uferseite, wo wir mit selbst gespielter Musik den Abend ausklingen lassen wollen. Am Ende des Dammes, am Fusse einer Hügelerhebung, blicken wir zu einer munter feiernden Gesellschaft hoch. Grüne Partyzelte sind aufgestellt, der Duft von Grilliertem liegt in der Luft und laute Stimmen und Gelächter sind zu hören.

Als die Feiernden uns erblicken, rufen sie uns entgegen: «Ohhh! Chitarra! Chitarra! Venite qui. Fate musica» Auch wenn unsere Italienischkenntnisse praktisch gleich null sind, können wir aufgrund der Gesten und einigen Wörtern verstehen, dass uns die fremden Leute auffordern, bei ihnen zu spielen. Ohne viel zu überlegen, sitzen wir ein paar Minuten später auf einer Festbank und befinden uns mitten in einer Geburtstagsparty.

Diese Gruppe Tessinerinnen und Tessiner überrascht uns mit ihrer Offenheit. Mit einer natürlichen Neugier suchen sie den Dialog und kommen uns mit Englisch und sogar Dialekt sehr entgegen. Fürsorglich verwöhnen sie uns mit Speis und Trank. Mit dem Geburtstagslied als Auftakt beginnen wir unsere spontane musikalische Unterhaltung. Im Laufe des Abends lernen wir die Gastgeber immer besser kennen. Wir singen und lachen zusammen und als schliesslich noch ein Feuer entfacht wird, könnte der Abend nicht besser sein.

Zurück in unserem Nachtlager kuscheln wir uns zufrieden unter die Bettdecke. «Was für ein Tag!» Hätten wir uns neben der Kirche noch andere Sehenswürdigkeiten vorgenommen oder schon eine Übernachtungs gebucht, dann hätten wir die aufregende Fahrt in die Höhe, das spektakuläre Ambiente mit Bergen und Seen und die Party mit den Tessinerinnen und Tessinern verpasst.

Natürlich war eine grosse Portion Glück dabei. Es hätte auch ganz anders enden können. Möglicherweise wären wir einfach planlos umhergefahren und hätten am Abend noch unter Stress einen Nachtplatz suchen müssen. Spontaneität hat immer zwei Seiten.

Zu unserer Freude durften wir an diesem Tag, ganz dem Wetter entsprechend, die sonnige Seite erleben.

Info: Geraldine Maier, 21 Jahre alt, ist in 
Meinisberg aufgewachsen und war während 
19 Monaten alleine in Afrika unterwegs.

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