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Historische Serie

Eine Klasse streckt den Arm zum Hitlergruss

Vor 25 Jahren kam das untere Bürenamt in die Schlagzeilen. Hakenkreuze, Beschimpfungen und Gewalttaten trafen auf passive Behörden, fehlende Courage und eine unfähige Schulkommission. Eine Chronologie.

Symbolbild: Keystone
  • Dossier

Sarah Zurbuchen

«Die Zürcher Pfadfinder müssen Schauerliches erlebt haben», steht am 2. August 1994 im «Bieler Tagblatt». Gegen 3.30 Uhr überfallen sechs 14- bis 20-jährige Leuziger in Arch ein Lager von Zürcher Pfadfindern. Die Jugendlichen schlagen die Pfadileiter, beschimpfen und demütigen sie. Sie müssen sich bis auf die Unterhosen ausziehen, auf einem Bein hüpfen, die Hand zum Hitlergruss erheben und rechtsradikale Parolen schreien. Ausserdem werden die Pfadis zu ihrem Abstimmungsverhalten bei der damaligen EWR-Abstimmung befragt. Bei Antworten, die den Tätern nicht passen, bestrafen die Jugendlichen ihre Opfer im Alter zwischen 14 und 21 Jahren, indem sie ihnen ins Gesicht spucken. Dieser Vorfall ist nur die Spitze eines hässlichen Eisbergs.

 

«Jugendlicher Blödsinn»

Alles beginnt in der Nacht vom 3. auf den 4. August 1993. Unbekannte besprayen die Wände des Asylbewerberheims Rüti und einer Archer Unterführung mit Parolen wie «Ausländer raus!» mitsamt Hakenkreuz. Einige Tage später werden die Scheiben des Archer Asylbewerberheims eingeschlagen. Die Polizei findet daraufhin bei Jugendlichen Flugblätter mit der Überschrift «Die Schweiz den Schweizern».

Die Polizei nimmt die Vorfälle nicht ernst. Das sei «jugendlicher Blödsinn», so der Bezirkschef der Bürener Kantonspolizei. Und auch die Präsidentin der Archer Primarschulkommission findet, es seien «dumme Kinderstreiche» und die Jugendlichen hätten «aus Langeweile» die Scheiben des Asylbewerberheims eingeschlagen.

Am 5. Januar 1994 kommt es zu einer ersten Gewalttat gegenüber einer Person: Ein 19-jähriger Leuziger schlägt einen tamilischen Küchenangestellten nieder. Sein gleichaltriger Kollege aus Rüti schaut laut BT aus nächster Distanz zu.

Der Täter muss sich zusammen mit seinem Kollegen vor Gericht verantworten. Der damalige SVP-Gerichtspräsident zeigt sich aber nachsichtig und drängt die beiden Leuziger, sich beim Tamilen zu entschuldigen. «Nur mit sichtlichem Widerwillen kamen die beiden Jugendlichen der Aufforderung des Richters nach. Der Tamile entschloss sich daraufhin, die Klage fallen zu lassen», schreibt das BT am 12. August 1994.

 

Kritik an Justiz

Dieses Rückzugsmanöver des Amtsgerichts Büren wird vom Buchautor und Rassismusexperten Jürg Frischknecht (u.a. «Die unheimlichen Patrioten» und «Rechte Seilschaften») im BT vom 20. August 1994 kritisiert. Nach seiner Erfahrung sei bei vielen rechtsextremen Aktivisten ein Strafverfahren der Anlass, mit der Szene zu brechen. «Die Aussicht auf eine Knaststrafe bringt Betroffene zur Besinnung», sagt er.

Frischknecht beobachtet Mitte der 90er-Jahre auch eine neue Generation der Neonazi-Szene. Die Gruppen würden sich hauptsächlich in ländlichem Gebiet formieren, seien «schlecht organisiert, aber sehr gewaltbereit».

In der Nacht vom 27. auf den 28. Juli geschieht dann der am Anfang erwähnte Pfadfinderüberfall. Einer der Täter ist derselbe, der den Tamilen niedergeschlagen hat und dafür vor Gericht mit einer Entschuldigung schlüpfte. Diesmal sollte er nicht ungeschoren davon kommen. Er wird später zu acht Wochen Gefängnis bedingt verurteilt.

 

«Spiel der Angst»

Erst jetzt, ein Jahr nach dem ersten Vorfall, beginnt sich in der Bevölkerung Widerstand zu regen. Vor allem in Leuzigen sind kritische Stimmen zu hören. Das «Aktionskomitee gegen Gewalt» tritt per Inserat im Bürener Anzeiger an die Öffentlichkeit: «Hinschauen statt Wegsehen. Jugendliche Neonazis und Mitläufer formieren sich zu gewalttätigen Horden. Sie leben vom Schweigen der Eltern, Nachbarn, LehrerInnen, Kollegen.» Aus Angst tritt das Komitee nur anonym auf. Ein Fehler, findet wiederum Neonazi-Kenner Frischknecht. Entschiedenes Auftreten könne gegenüber Gruppen, die selbst stark autoritär geprägt seien, Wunder wirken. «Das Spiel der Angst darf nicht mitgespielt werden.»

In einem weiteren Interview zum Thema betont Hans-Dieter Schneider, Professor am psychologischen Institut der Uni Fribourg, in Elternhaus und Schule müsse bewusst zur Gewaltlosigkeit erzogen werden.

 

«Dreckjude»

Im September 1994 lehnen Arch und die umliegenden Gemeinden das Antirassismus-Gesetz ab. Die fremdenfeindliche Stimmung schlägt sich auch in der Archer Schule nieder. Ein Jahr später werden laut dem Magazin «Facts» vom 2. November 1995 vor dieser Schule Lehrer von zwei Jugendlichen als «Dreckjude» beschimpft, sie skandieren «Türken raus» und stimmen ein Nazilied an. In derselben Nacht erhält ein anderer Archer Lehrer anonyme Anrufe im selben Tonfall. Erstere verklagen die jungen Männer, letzterer erstattet Anzeige gegen Unbekannt. Wieder gibt es Hakenkreuz-Schmierereien und «Schweiz erwache»-Slogans, diesmal beim Zivilschutzraum der Sekundarschule, die keinen einzigen ausländischen Schüler zählt.

Als ein Archer Lehrer von einer Schülerin als «Thaificker» betitelt wird, meldet er dies der Sekundarschulkommission. Die Reaktion: Zum «in den Augen Etters rassistischen Vorfall» sei es nur wegen der Sturheit der Schülerin und des Lehrers gekommen, so die Kommission. Ein engagierter Lehrer nimmt sich die Vorfälle zu Herzen und behandelt das Thema «Fremdenfeindlichkeit» im Unterricht. Er besucht mit der Klasse Holocaust-Überlebende, eine Synagoge und organisiert ein Podiumsgespräch zum Thema «Gewalt und Rassismus.» Er stellt ein Treffen mit einer Bieler Schulklasse auf die Beine, in der einige Schüler ausländischer Herkunft sind.

Dann passiert Folgendes: Als die Bieler Schulklasse an der Turnhalle der Primarschule vorbeigeht, rennen die Schülerinnen und Schüler der Turnstunde ans Fenster, strecken den Arm zum Hitlergruss und rufen dem Vernehmen nach «Raus aus Arch, Ausländerpack».

Der Präsident der Sekundarschulkommission schiebt den Lehrern in einem Interview im «Bieler Tagblatt» eine Mitverantwortung zu: Diese seien zu 50 Prozent selbst Schuld an ihrer Situation, denn sie wollten den Kindern «Lebenseinstellungen aufoktroyieren». Und: «Das Passierte hat nichts mit Rassismus zu tun.»

1996 werden zwei Schüler verurteilt, der eine wegen Rassendiskriminierung und Beschimpfung, der andere wegen Verleumdung und Beschimpfung mehrerer Lehrer, darunter auch der vorhin erwähnte engagierte Lehrer in Arch.

 

Zerstörte Laufbahn

Genau diesem Lehrer wird schliesslich 1996 von der Schulkommission gekündigt. Grund: unter anderem «Unterstellung von Rassismus gegenüber den Sekundarschülern von Arch.» Es folgt ein juristisches Hickhack. Nach einer Beurlaubung sieht sich der Lehrer laut einem Bericht der «Berner Zeitung» vom 7. Dezember 1999 nicht mehr in der Lage, wieder in Arch zu unterrichten. Er wird arbeitsunfähig geschrieben, worauf ihm die Schulkommission erneut kündigt. Grund dieses Mal: Arbeitsverweigerung.

Der Fall kommt vor das Verwaltungsgericht. «Es ist erschütternd, wie unfähig sich die Schulkommission verhalten hat», befindet dieses. Sein Engagement gegen Rassismus sei dem Lehrer zum Verhängnis geworden. Die Vorwürfe der Schulkommission hätten die Laufbahn und den Ruf des Lehrers zerstört. Die Kommission hatte sich geweigert, die nicht erhärteten und teils wiederlegten Vorhaltungen zurückzunehmen. Im Gegenteil: Sie hatte die rassistischen Vorfälle hartnäckig verharmlost. Das sei eine unzumutbare psychische Dauerbelastung für den Lehrer gewesen.

Das Verwaltungsgericht beurteilt die Kündigung als rechtswidrig, der Gemeindeverband Oberstufenzentrum Arch muss ihm für das Verfahren 20 000 Franken Parteikosten ersetzen. Der Lehrer kehrt nicht nach Arch zurück, ihm wird Berufsunfähigkeit attestiert. Er wird frühzeitig pensioniert.

Stichwörter: Bürenamt, Hitlergruss

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