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Aegerten

Er hat die Schweiz seit 20 Jahren nicht verlassen

Als Siebenjähriger ist Flurim Zogaj aus dem Kosovo in die Schweiz geflüchtet. Bis heute ist er nur vorläufig aufgenommen. Er darf nicht ausreisen, einen Handyvertrag abzuschliessen ist schwierig. Der 30-Jährige erzählt seine Geschichte.

Flurim Zogaj hat zwei Krebserkrankungen überstanden. Foto: Peter Samuel Jaggi
Sarah Grandjean
 
Flurim Zogaj steht vor der Nidauer «Lago Lodge», grüsst und redet unbeschwert drauf los. Er komme gerade von Bern, wo seine Freundin wohnt, sie sei krank, eine Erkältung. Er kümmere sich um sie, versuche zu helfen, und sei es nur, indem er Tee kocht. Denn was es heisst, krank zu sein, das weiss der 30-Jährige nur zu gut.
 
Drinnen bestellt Zogaj einen Kaffee, rührt Zucker und Rahm hinein und legt den Löffel auf dem Tassenrand ab, ohne einen Schluck getrunken zu haben. Er beginnt in einem albanisch gefärbten Schweizerdeutsch seine Geschichte zu erzählen.
 
Vater spurlos verschwunden
 
Aufgewachsen ist er in Peja, einer Stadt im Westen des Kosovo, der viertgrössten des Landes. Er hat fünf Geschwister, er ist der Jüngste. «Wir hatten ein schönes Leben dort», sagt Zogaj. Trotz des Krieges. Er erinnert sich, dass er mehrmals mit seiner Familie in den Bunker flüchtete.
 
Dann kam dieser warme, sonnige Tag, «Sommer, wenn ich mich nicht täusche». Harmlos begann er. Die Mutter hatte das Frühstück vorbereitet. Sie tranken Tee, die Mutter, der Vater, die sechs Kinder. Da kamen Kollegen des Vaters vorbei. Sie wollten mit ihm in die Stadt fahren, um sein kaputtes Fahrrad reparieren zu lassen. Die Mutter sagte, er solle da bleiben, in der Stadt sei es zu gefährlich. Das war kurz nach Ausbruch des Kosovo-Krieges. Er habe ja niemandem etwas zuleide getan, erwiderte der Vater, ging mit – und kehrte nicht wieder zurück. «Wir fragten seine Kollegen, wo er denn sei», sagt Zogaj, klingt dabei noch heute erstaunt. Die Kollegen des Vaters erzählten, sie seien beim Velomechaniker gewesen, dieser habe gesagt, es dauere noch eine Weile. Sie sollten doch in der Zwischenzeit einen Kaffee trinken gehen. Das hätten sie getan, und als sie zurückkehrten, sei der Vater nicht mehr dort gewesen.
 
Es war ein Schock. «Stellen Sie sich vor, meine Mutter allein mit sechs Kindern, alle noch relativ jung.» Die Mutter hätte schon früher nach Westeuropa flüchten wollen, sie hatte Geschwister in Deutschland und der Schweiz. Doch der Vater wollte bleiben. Er habe nichts zu befürchten, habe er immer gesagt. Doch nun gab es für die Mutter keinen Grund mehr zu bleiben. Zogaj war sieben Jahre alt, hätte in die erste Klasse gehen sollen, und musste stattdessen flüchten. Die Geschwister der Mutter kratzten Geld zusammen, dank dem die Familie mit Bus, Schiff und Zug nach Italien und in die Schweiz reisen konnte.
Einziger ohne Schweizer Pass
 
Hier angekommen, lebte sie in Asylzentren in Basel, Ostermundigen und Büren, besuchte Deutschkurse. In Büren wurde Zogaj mit seinen mittlerweile zehn Jahren in die vierte Klasse eingeteilt. Doch er war noch nie zur Schule gegangen und konnte gerade mal seinen Namen schreiben. Also wechselte er in die zweite Klasse. Ein Jahr später zog er mit seiner Familie in eine Wohnung in Aegerten, wo er noch heute wohnt, und besuchte die dortige Primarschule.
 
Er fühlte sich willkommen. Auch wenn er in der Klasse der einzige Ausländer war. Zwar gab es auch andere Kinder mit Migrationshintergrund, aber diese hatten den Schweizer Pass, «die waren für mich nicht Ausländer». Doch Schweizer oder nicht, das habe für ihn ohnehin nie einen Unterschied gemacht. Hin und wieder gab es Streit mit den anderen Jungs, weil er sich gut mit den Mädchen verstand und er einer der besten im Sport war. «Kinder halt», sagt Zogaj, und wenn er lacht, blitzt eine Zahnspange auf.
 
In Studen besuchte er die Oberstufe, dann das zehnte Schuljahr, brach ab, machte eine Vorlehre als Velomechaniker, ein Motivationssemester. 2012 begann er in Brügg eine Lehre als Anlagen- und Apparatebauer, das gefiel ihm. Ein stressiger, aber abwechslungsreicher Job. Zogaj trinkt einen ersten Schluck Kaffee.
 
Diagnose Krebs
 
Aber dann, er war inzwischen im vierten Lehrjahr und 24 Jahre alt, wurde er ständig krank. Er hatte die Grippe, immer wieder, Fieber, Kopfschmerzen, starker Husten. Fühlte sich schwach. «Ich war im Fussballtraining, und nach einer halben Stunde waren meine Beine so schwer, dass ich aufhören musste.» Sein Chef riet ihm, sich untersuchen zu lassen. Er ging zum Hausarzt, der ihn in die Klinik Linde schickte. Dort machte man ein MRI, stellte fest, dass etwas nicht stimmte, und verwies ihn ans Berner Inselspital. Am Tag der Untersuchung ging es ihm gut. Er fuhr danach zu einer Kollegin, um mit ihr einen Fussballmatch zu schauen. Am nächsten Tag das genaue Gegenteil: Er hatte Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen, konnte sich kaum bewegen. Als die Resultate der Untersuchung vorlagen, fuhr er ins Spital, allein. Er habe Krebs, sagte man ihm. Ein bösartiger Hirntumor. Zu 99 Prozent heilbar. «Ich habe es nicht realisiert», sagt Zogaj. Er war am Ende seiner Lehre, hatte bereits seine Vertiefungsarbeit zum Thema Fitness und Ernährung abgeschlossen, nun stand nur noch die Abschlussprüfung an. Doch er musste abbrechen.
 
Im Spital wurde er mehrere Wochen untersucht, bis man herausgefunden hatte, was für einen Tumor er genau hatte und wie man diesen behandeln sollte. Dann begann die Chemotherapie. Und eines morgens fand Zogaj seine eigenen Haare auf dem Kopfkissen. Wie ein Schlag ins Gesicht sei das gewesen. «Erst da habe ich realisiert, dass ich am Arsch bin.» Er liess drei Monate Chemotherapie über sich ergehen, es gab Komplikationen, Herpes im Hals, eine Thrombose, er nahm Cortison, das seinen Körper aufblähte, «ich bin aufgegangen wie ein Weggli». Seine Familie war für ihn da, der Mann seiner Schwester sass fast immer neben seinem Bett. Abends nach der Arbeit kamen Freunde vorbei und setzten sich mit ihm auf die Krankenhaus-Terrasse. 
 
Als Zogaj den Krebs ein erstes Mal besiegt hatte, wollte er den Lehrabschluss nachholen. Der Lehrmeister habe ihm jedoch gesagt, die vierjährige Lehre innerhalb eines Jahres nachzuholen, werde er wohl nicht schaffen. Also begann er die zweijährige Lehre. Und dann, kurz vor Lehrabschluss, kehrte der Krebs zurück. Wieder Chemotherapie, dazu Radiobestrahlung. Wieder Komplikationen: ein erhöhter Hirndruck, was im schlimmsten Fall tödlich enden kann.
 
Zogaj erinnert sich nur lückenhaft an diese Zeit. Er habe mit seinem Schwager gestritten, mit seiner Mutter, das habe ihm seine Familie später erzählt. Er wurde in den Notfall eingeliefert. Die Ärzte hätten die Hoffnung schon aufgegeben, rechneten damit, dass er eine Behinderung davon tragen würde. Sie wollten ihn operieren, doch sein Bruder liess das nicht zu. Dann, wie durch ein Wunder, liess der Hirndruck nach. Zogaj erwachte auf der Intensivstation und hatte das Gefühl, im falschen Film zu sein. «Plötzlich schauten mich alle an, jeder kannte meinen Namen und lachte mit mir.» Eine Krankenschwester, eine Albanerin, kannte er bereits von einem früheren Spitalaufenthalt. Sie erzählte ihm, er habe behauptet, Türke zu sein und kein Albanisch zu sprechen. Zogaj lacht, trinkt einen zweiten Schluck Kaffee. «Und jetzt bin ich hier.»
 
Reisen nur im Ausnahmefall
 
Hier, in der Schweiz, seit 20 Jahren mit dem Status «vorläufig aufgenommener Ausländer». Mit dem F-Ausweis kann er je nach Anbieter keinen Handyvertrag auf seinen Namen abschliessen, das macht seit Jahren ein Kollege für ihn. Und er darf das Land nicht verlassen, ausser in Ausnahmefällen, etwa, wenn ein Familienmitglied schwer krank oder gestorben ist. Als Kind, erinnert er sich, fuhren im Sommer alle weg. «Keiner war da ausser mir, am schönsten Sommertag war ich allein.» Er würde gern in den Kosovo fliegen, seinen Geburtsort sehen, die Gräber seines Vaters und seiner Grosseltern besuchen.
 
Zogaj hat mehrere Gesuche gestellt, um den F- in einen B-Ausweis umzuwandeln. Die Ausländerbehörde prüft dabei Kriterien wie Integration, Sprachkenntnisse, Erwerbstätigkeit und soziale Unabhängigkeit. Als Zogaj in der Lehre war, habe er den B-Ausweis nicht erhalten, weil er zu wenig Geld verdiente, um als selbstständig zu gelten. Nach seiner ersten Krebserkrankung habe er ihn nicht erhalten, weil er von der Invalidenversicherung (IV) lebte und entsprechend keinen Arbeitsvertrag vorweisen konnte. Gemäss seiner IV-Rentenverfügung dürfe er Vollzeit arbeiten, jedoch mit 30 Prozent Einschränkungen. Er dürfe nichts Schweres heben, keine Überzeit oder Nachtschichten leisten, und müsse Pausen machen können, wann immer er wolle. «Welcher Chef stellt jemanden zu diesen Bedingungen ein?», sagt Zogaj. Seine sonst gutmütige Stimme wird lauter. Er habe sich wieder bei der IV angemeldet, warte auf Bescheid, und lebe in der Zwischenzeit von Sozialgeld. «Ich will nicht mehr zuhause sitzen und auf das Geld vom Sozialdienst oder von der IV warten», sagt er. Er will arbeiten. Ein weiterer Schluck. «Der Kaffee ist schon kalt geworden.» Er lacht.
 
Bis er Bescheid von der IV erhält, experimentiert er beim Vater seiner Freundin mit Kunstharz. «Epoxidharz, sagt Ihnen das etwas?» Er nimmt sein Handy hervor und zeigt stolz, wie die Ausbuchtungen in einer Holzplatte mit flüssigem Harz gefüllt werden. Die Nachfrage nach solchen Möbeln sei gross. Vielleicht könne er sich damit etwas aufbauen. Oder irgendwann eine Autogarage eröffnen. Hauptsache, er verdient sein eigenes Geld und kann den B-Ausweis beantragen. Damit er endlich ans Meer fliegen kann.

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