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Leubringen

Er will die Scheinwerfer wieder auf die Staaten richten

Als UN-Sonderberichterstatter für Folter schaut Nils Melzer den Mächtigen auf die Finger. Für sein Engagement im Wikileaks-Fall Julian Assange geriet er unter Beschuss und wurde nun vom «Beobachter» für den «Prix Courage» nominiert.

Entdeckt er Unrecht, interveniert Nils Melzer, egal was es kostet. ZVG
Mengia Spahr
 
Man merkt, dass Nils Melzer nicht zum ersten Mal über sein Engagement für den Fall «Assange» (siehe Zweittext) spricht. Seit Anfang Jahr in der «Republik» ein Interview mit ihm erschienen ist, hat er seine Entdeckungen oft erzählt. 
Es ist die Geschichte eines UN-Sonderberichterstatters für Folter, der Ungeheures entdeckt. Das ist per se nicht erstaunlich – wer dieses Mandat innehat, soll Missstände aufdecken. Doch für einmal geschieht das Unrecht in Europa; involviert sind Schweden, Grossbritannien, Ecuador und die USA. Die Vorwürfe: fabrizierte Beweise, Kollusion und Folter.
In allen Interviews liest man, dass Melzer das Dossier «Assange» zu Beginn abwies. Das sagt er jetzt: «Ich wollte mich mit diesem Fall ja gar nicht befassen. Assanges Anwälte kontaktierten mich im Dezember 2018, aber ich habe das einfach ignoriert.» Zwar räumt Melzer sogleich ein, dass er als UN-Sonderberichterstatter täglich 10 bis 15 Anfragen erhalte, von denen er nur zwei überhaupt beantworten könne, doch er beteuert, Assange instinktiv zurückgewiesen zu haben, weil er ihn unsympathisch fand. Der Mann, der ihm aus den Medien als Narzisst, Vergewaltiger und Verräter bekannt war, wolle ihn sicher manipulieren, habe er gedacht. Erst nachdem die Anfrage ein zweites Mal auf seinem Tisch landete, nahm er sich ihrer an. «Doch merkte ich schnell, dass mit meinen Vorurteilen etwas nicht stimmt», sagt er. Während des Gesprächs drückt der Jurist immer wieder die Ungläubigkeit aus, die er empfunden habe, als er sich mit dem Fall zu befassen begann: «Das kann doch nicht wahr sein!»
Das Mandat als UN-Sonderberichterstatter habe ihn gelehrt, dass die Zusammenhänge oft komplex seien. Deshalb holt er aus, wenn er den Fall Assange aufrollt. Er beginnt mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Infolge dieser sei die Geheimhaltung auch in bisher transparenten Gesellschaften des Westens extrem ausgebaut worden – angeblich zum Schutz der nationalen Sicherheit. Früher habe die Mainstream-Presse noch als «Vierte Macht im Staat» funktioniert und Missstände aufgedeckt, doch in den letzten Jahrzehnten sei eine ungesunde Symbiose zwischen den Regierungen und den grossen Medienorganisationen entstanden. Deshalb werde viel mehr unter Verschluss gehalten, das die Öffentlichkeit eigentlich wissen sollte. «Und dann zeigt sich, dass die CIA jahrelang in Guantanamo foltern kann, ohne dass jemand deshalb verfolgt und bestraft wird.» Es sei kein Zufall, dass die Enthüllungsplattform Wikileaks aufkam. Für Melzer ist klar: «Wenn die Staaten ihre Kriegsverbrechen selber verfolgen würden, bräuchte es Wikileaks nicht.» 
Natürlich könne man darüber streiten, ob es eine gute Idee ist, geheime Diplomatenkorrespondenz ins Netz zu stellen. Aber wenn die Selbstkontrolle der Staaten nicht mehr funktioniere, sei es verwerflich, diejenigen, die Kriegsverbrechen aufdecken, zu bestrafen, während diejenigen, die sie begehen, ungestraft davon kommen. Wie andere, die sich für Assange einsetzen, wiederholt auch Melzer immer wieder, dass Assange als Person kein «Engel» zu sein brauche und vielleicht sogar strafbare Handlungen begangen haben mag, er aber einen fairen Prozess verdiene. Denn: «Was Staaten als gefährlich erachten, ist nicht per se illegal.»
Schweden, der Staat, dem Melzer vorwirft, Beweise fabriziert zu haben, ist sein Mutterland. «Als Doppelbürger habe ich eine gewisse Affinität zu diesem Land. Also dachte ich: Es kann doch nicht sein, dass die schwedische Polizei Beweise unterdrückt oder manipuliert!»
Anhand des Assange-Falls zeigt der Jurist auf, dass rechtsstaatliche Institutionen für politische Zwecke systematisch missbraucht werden und versucht abzuwenden, dass der Wikileaks-Gründer an die USA ausgeliefert wird, wo ihm 175 Jahre Haft drohen. Melzer sagt von sich, er sei keine Person, die das Rampenlicht suche. Doch nun erhebt er öffentlich schwere Anklagen. Melzer wird deswegen von der Strafrechtsprofessorin Tatjana Hörnle als Verschwörungstheoretiker bezeichnet. Sie findet, er gehe nicht sorgfältig mit den Beweisen um und wirft ihm unter anderem einen «lockeren Umgang mit dem Begriff ‹Folter›» vor.
Nun hat der «Beobachter» Melzer für den Prix Courage nominiert. Seit 1997 verleiht das Magazin diesen Preis für ausserordentliche, mutige Taten. Nebst Melzer wurden dieses Jahr sieben Personen nominiert. Der oder die Gewinnerin wird heute bekannt gegeben.
 
Nils Melzer, erfordert Ihr Beruf Mut? 
Nils Melzer: Ganz ohne geht es jedenfalls nicht. Es gibt zum einen Sicherheitsrisiken, zum Beispiel in Kampfgebieten. So war ich etwa in der Ostukraine und musste in Rebellengebieten den Zugang zu Gefängnissen verhandeln. Das braucht schon etwas Mut, denn man weiss nicht, wie die Leute reagieren. Bei dieser Nominierung geht es aber um etwas anderes: Als UN-Sonderberichterstatter ist es meine Aufgabe, auch sehr mächtige Staaten mit ihren Verletzungen des Folterverbots zu konfrontieren. Selbst wenn das für mich nicht angenehm ist.
 
Im Assange-Fall prangern sie Verstösse gegen die Rechtsstaatlichkeit in Schweden und Grossbritannien an.
Das hätte ich selber nicht erwartet! Bei politisch wichtigen Fällen kommt man wirklich in unangenehme Situationen. Wer sich für Assange engagiert, kommt gewöhnlich nicht ohne Schaden davon. Gegen diesen Mann konsolidieren sich sehr mächtige realpolitische Interessen, weil er als Gefahr für die nationale Sicherheit wahrgenommen wird. Ich habe sehr schnell gemerkt, dass meine Kritik nicht willkommen ist. Seit 20Jahren habe ich ein Netzwerk in Diplomaten- und Regierungskreisen – dort schätzt man meinen Einsatz für Assange mehrheitlich nicht.
 
Ist es besonders schwierig, die «Guten» zu kritisieren?
Moderne Demokratien sehen sich gerne als Vorbilder, setzen aber insbesondere  psychische Formen der Folter ein. In der Schweiz zum Beispiel wird oft Untersuchungshaft ausgesprochen, um eine Person unter Geständnisdruck zu setzen – nicht, weil sie flüchten würde oder eine Gefahr darstellt. Das nennt sich Beugehaft. Hierzulande hätte man es aber lieber, ich würde mich auf Körperstrafen in Afghanistan konzentrieren.
 
Weshalb wollten Sie sich mit dem Fall befassen?
Ich merkte bald, dass an der von den Staaten verbreiteten Assange-Story etwas nicht stimmt. Die Unregelmässigkeiten sind zu systematisch. Gerade was in den ersten zwei Stunden, nachdem die beiden schwedischen Frauen zur Polizei gingen, geschah, ist sehr seltsam. Die Frauen erkundigten sich, ob sie Assange für einen HIV-Test verpflichten könnten und innert einer halben Stunde erliess die Polizei gegen den erklärten Willen der Frauen zwei Strafanzeigen gegen Assange – eine wegen Vergewaltigung und eine wegen sexueller Belästigung. Keine der beiden Frauen war zu diesem Zeitpunkt bereits vernommen worden. Entgegen der Geheimhaltungspflicht der Behörden war bereits am nächsten Tag in der Regenbogenpresse zu lesen, dass Assange ein Vergewaltiger sei. Das sind die ersten paar Dinge, die stutzig machen, aber in den folgenden zehn Jahren geht es so weiter.
 
Weshalb liegt es an Ihnen, sich damit zu befassen?
Fürs Einschreiten entschied ich mich, als ich Assange im Mai 2019 im Gefängnis besuchte und er ärztlich untersucht wurde. Da musste ich feststellen, dass wir uns wirklich im Bereich der psychischen Folter und der Misshandlung bewegten, die Angelegenheit also in meine Zuständigkeit fällt. Die Foltersymptome konnten wir kausal mit den Handlungen der Staaten verbinden: die systematische Isolation, die Schmierkampagnen, die Drohungen und schwersten Verfahrensverletzungen. Was ich behaupte, ist ja eigentlich ungeheuerlich, doch ich warte noch darauf, dass mir wenigstens jemand widerspricht. Die ehrwürdige BBC vermeidet zu diesem Thema jedes Interview mit mir und das Gericht lädt mich weder als Zeuge noch als Experte vor.
 
Weshalb ist Ihnen der Fall so wichtig?
Assange und seine Organisation haben auf Missstände hingewiesen und Kriegsverbrechen aufgedeckt. Nun haben die Staaten den Scheinwerfer sehr elegant geschwenkt. Alle Blicke sind auf Assange gerichtet. Mit dem Vorwurf von Sexualdelikten hat man ihn sämtlicher Sympathie der Öffentlichkeit beraubt. Ganz unabhängig davon, ob sich Assange gegenüber diesen Frauen strafbargemacht hatte, sollte uns aber vielmehr interessieren, was die Staaten verbrochen haben. Assange ist seit zehn Jahren auf der Flucht und zeigt Symptome psychischer Folter. So zeigen die Mächtigen der ganzen Welt: Wer sich mit uns anlegt und unsere Geheimnisse verrät, dem ergeht es so. Meine Aufgabe ist nicht, Assanges Unschuld zu beweisen, sondern die Scheinwerfer wieder auf die Staaten zu richten und zu fragen: Wie gehen sie mit Menschen, die Geheimnisse aufdecken, um? Da kann ein Präzedenzfall entstehen, den man nicht mehr rückgängig machen kann.
 
Sie sagen, es geht um den Fall. Aber es gibt einen Personenkult um Assange und auch Sie stehen als Person in der Öffentlichkeit. In diesem Interview geht es um Sie. Befürchten Sie manchmal, es gehe mehr um die Person als um die Sache?
Es geht weder um mich noch um Assange. Ich mache diesen Schritt, weil ich ihn gehen muss. Weil es zu meinem Job gehört, denn ich will die öffentliche Meinung beeinflussen.
 
Gab es einen Punkt, an dem Sie für Ihr Engagement über den eigenen Schatten springen mussten?
Es wäre sehr bequem gewesen, zu sagen: Ja, ich habe Herrn Assange besucht und ihm geht es nicht gut, aber ich vertraue der britischen Justiz und ermutige sie, ihm die bestmöglich medizinische Versorgung zukommen zu lassen. Das wäre die Standardstellungnahme und alle hätten gedacht: Hat er gut gemacht. Aber das wäre nicht ehrlich gewesen. Mir war klar, dass es mich etwas kosten könnte, wenn ich mich exponiere – ich habe keine Organisation im Rücken. Als ich mein Pressecommuniqué veröffentlichte, wusste ich: Viele werden das für eine Verschwörungstheorie halten. Das hat die «Neue Zürcher Zeitung» dann auch geschrieben. Wer sich exponiert, wird angefeindet, allerdings nicht immer auf solider Grundlage (die NZZ schrieb im Februar 2020, Assange sei «ein wenig glaubwürdiges Opfer einer grossen Verschwörung» und bezeichnete Melzers Vorwürfe als «fragwürdig», Anmerkung der Redaktion). 
 
Von wem werden Sie angefeindet?
Als ich damit herauskam, dass die Vergewaltigungsvorwürfe fabriziert sind, sah ich mich mit einem riesigen Angriff aus feministischen Kreisen konfrontiert. Ich wurde als sexistischer 50-jähriger weisser Mann beschimpft. Zeitgleich schrieb ich aber an einem Bericht für die UNO Generalversammlung, in dem ich auf das Problem der weltweiten häuslichen Gewalt hinwies; die Opfer sind vor allem Frauen und Kinder. Deshalb traf es mich, dass ich als Frauenhasser angeprangert wurde. Die beiden Frauen, die Assange für einen HIV-Test verpflichten wollten, sind in Wahrheit genauso unter die Räder gekommen wie er. Sie wollten nachweislich keine Strafanzeige einreichen und wurden vom Staat instrumentalisiert.
 
Wie hat Ihr Umfeld reagiert?
Mir wurde aus Diplomatenkreisen mitgeteilt, mein Engagement sei ein Fehler gewesen und werde einen politischen Preis haben – namentlich in Zusammenhang mit Bewerbungen auf höhere Positionen. Im Assange-Fall musste ich mich entscheiden, ob ich an meiner Karriere oder an meiner Integrität hänge. Ich habe mein Leben lang keine Kompromisse mit meiner Integrität gemacht, und wenn dies seinen Preis hatte, habe ich das nie bereut. Mein Mandat als Sonderberichterstatter für Folter läuft in zwei Jahren aus und ich habe keine Planungssicherheit. Ich werde jetzt – gerade in den westlichen Staaten – als sehr kontroverse Person wahrgenommen.
 
Gibt es für Sie einen Punkt, an dem Sie sagen: Da ziehe ich eine Grenze, damit gehe ich nicht an die Öffentlichkeit?
Eigentlich nicht. Es ist meine Aufgabe, über die weltweite Einhaltung des Folter- und Misshandlungsverbots zu berichten und wenn nötig auch die Öffentlichkeit zu informieren. Das braucht zunächst einmal viel Diplomatie und Fingerspitzengefühl. Aber wenn die Staaten sich taub stellen, muss man durchaus auch einmal den Mut haben, Klartext zu sprechen, denn Folter ist und bleibt eines der schlimmsten Verbrechen und verursacht unermessliches Leid. Wenn ich den Eindruck hätte, dass meine persönliche Sicherheit ernsthaft gefährdet ist, würde ich sicher eine Grenze ziehen. Aber ich würde auch dann nicht dem Frieden zuliebe Wahrheiten verschweigen oder Unwahrheiten erzählen, sondern lieber mein Mandat abgeben und die Gründe dafür offenlegen.
 
Was bedeutet Ihnen die Nominierung für den «Prix Courage»?
Ich finde es toll, denn dadurch bekommen meine Arbeit und auch der Assange-Fall eine Sichtbarkeit aus einem ganz anderen Blickwinkel, aber ehrlich gesagt wäre es mir fast ein bisschen unangenehm, wenn ich den Preis gewinnen würde.
 
Weshalb?
(Melzer ringt um Worte) Ich habe die Geschichten der anderen Kandidierenden auch gelesen und hätte wirklich Mühe, jemanden auszuwählen. Denn ich denke, dass wir eigentlich alle für dasselbe stehen: In einer Situation das Richtige zu tun, auch wenn einen dies etwas kosten könnte. Ich will diese Nominierung nicht als einen Wettkampf zwischen Kandidierenden sehen, sondern als Sichtbarmachen verschiedener Beispiele von Zivilcourage, sozusagen als gemeinsamer Kampf gegen die Gleichgültigkeit. Meine Funktion als UN-Sonderberichterstatter ist sehr hoch angesehen. Ich will mein Kapital einsetzen und auf blinde Flecken hinweisen. Meine Ressourcen sind sehr bescheiden, und so habe ich mich von Anfang an dafür entschieden, mich bei den Interventionen auf Dinge zu konzentrieren, denen sich andere Organisationen aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen nicht annehmen können. Man muss die menschliche Natur nicht verbessern wollen, sondern den Systemen auf die Finger schauen.
 
Wie beurteilen Sie den laufenden Prozess von Julian Assange?
Mit einem fairen Prozess hat das nichts zu tun. Seit seiner Verhaftung durch die Briten hat Assange noch nie mit seinen amerikanischen Anwälten sprechen können. Er war monatelang in Isolationshaft, konnte nur selten Besuch empfangen und keine Dokumente entgegennehmen. Als Assange nach einem Computer verlangte, damit er Dinge notieren kann, wurde ihm nach einem halben Jahr ein Laptop ausgehändigt, bei dem die Tastatur mit Leim blockiert ist. Haftregimes müssen notwendig und verhältnismässig sein. Assange sitzt ja keine Strafe ab, sondern ist in reiner Präventivhaft zur Fluchtverhinderung während des Auslieferungsverfahrens. Dafür braucht es kein Hochsicherheitsgefängnis. Dem früheren Diktator Augusto Pinochet wurde es in der gleichen Situation erlaubt, sein Auslieferungsverfahren in luxuriösem Hausarrest zu verbringen.
 
Hat der Fall Ihr Vertrauen in die westlichen Staaten erschüttert? Sie müssen sich doch einiges gewohnt sein.
Durchaus. Ich dachte immer: Alle machen Fehler, aber wenn man die westlichen Staaten auf Missstände aufmerksam macht, wird die Angelegenheit untersucht, denn das sind Rechtsstaaten. Ich musste feststellen, dass dies nicht stimmt. Sobald wirtschaftliche und politische Interessen involviert sind, werden auch bei uns schwerste Delikte unter den Teppich gekehrt. Das ist eine schmerzliche Erfahrung.
 
Konnten Sie durch Ihr Engagement im Fall Assange etwas bewirken?
Die Glaubwürdigkeit meines Mandats hat bestimmt dazu beigetragen, dass sich der Kreis von Personen, die sich mit Assange befassen, ausweitete.
 
Sie befassen sich intensiv mit schlimmen Dingen. Können Sie gut abschalten?
Für mich sind Folter und Kriegsverbrechen so etwas wie eine Krankheit. So gesehen befasse ich mich seit gut 20 Jahren mit den kranken Seiten der Menschheit. Ärzte müssen sich daran gewöhnen, dass sie den ganzen Tag nur kranke Personen sehen, die an Problemen leiden und vielleicht sogar sterben. Ich setze mich ein, versuche, in Einzelfällen zu intervenieren, aber wie ein Arzt, kann ich nicht erwarten, dass es die Krankheiten einfach plötzlich nicht mehr gibt. In vielen Fällen bleibe ich erfolglos. In Leubringen, wo ich lebe, bin ich aber fernab des ganzen Rummels. Anders als in Genf, wo man, sobald man das Haus verlässt, mit der Internationalität konfrontiert ist, habe ich hier Distanz zum globalen Geschehen und sehe, dass die Welt nicht nur aus Gefängnissen, Folter, Diplomaten und Völkerrechtsvertretern besteht, sondern dass es auch ganz normale Menschen gibt. Es ist eine gesunde Umgebung.
 
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Nils Melzer und der Fall Assange

Julian Assange ist der Gründer von Wikileaks. Seit ihren Anfängen 2006 veröffentlicht die Enthüllungsplattform geheime Informationen, die ihr zugespielt werden in grossem Umfang, die Anonymität der Quellen ist gewährt. Spätestens mit der Veröffentlichung von Beweisen für US-Kriegsverbrechen in Afghanistan und im Irak erlangte Wikileaks 2010 weltweite Berühmtheit. Im selben Jahr wurde Julian Assange in Schweden der Vergewaltigung und des sexuellen Missbrauchs zweier Frauen angeklagt. Er reiste nach London, wurde auf Kaution auf freien Fuss gesetzt und flüchtete 2012 in die ecuadorianische Botschaft, wo er politisches Asyl und später die Staatsbürgerschaft erhielt. Während sieben Jahren lebte Assange dort.

Im Dezember 2018 kontaktierten Assanges Anwälte erstmals Nils Melzer. Drei Monate später schrieben sie ihm noch einmal. Darauf begann Melzer, den Fall zu untersuchen, und wurde auf Unregelmässigkeiten aufmerksam. 
Im April 2019 entzog der neugewählte ecuadorianische Präsident Lenín Moreno Assange Asylrecht und Staatsbürgerschaft. Darauf wurde er von der britischen Polizei festgenommen und verurteilt, weil er mit der Flucht in die Botschaft gegen Kautionsauflagen verstossen hatte. Im November 2019 liess die schwedische Staatsanwaltschaft die Anklage wegen Vergewaltigung fallen. Die USA haben bei Grossbritannien die Auslieferung beantragt. Der Wikileaks-Gründer sitzt deshalb seit anderthalb Jahren in einem Londoner Hochsicherheitsgefängnis in Isolationshaft. Im Mai 2019 besuchte ihn Melzer in Begleitung zweier spezialisierter Ärzte. Laut ihrer Einschätzung zeigt Assange typische Symptome eines Opfers psychischer Folter. 
Im April begann in London der Auslieferungsprozess gegen Assange. Nach einem coronabedingten Unterbruch wurde er anfangs September wieder aufgenommen. Die US-Justiz wirft dem 49-Jährigen vor, der Whistleblowerin Chelsea Manning geholfen zu haben, geheimes Material von US-Militäreinsätzen im Irak und in Afghanistan zu veröffentlichen. Sollte Assange an die USA ausgeliefert werden, drohen ihm dort 175 Jahre Haft. mrs
 
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Zur Person

Jahrgang 1970
Studium der Rechtswissenschaften in Zürich und Doktorat
Zwölf Jahre beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), drei Jahre in Krisengebieten (Kosovokrieg und Naher Osten), neun Jahre Rechtsberater in Genf
Von 2015 bis 2016 Sicherheitspolitischer Berater des Schweizer Aussendepartements (EDA)
Seit November 2016 UN-Sonderberichtserstatter für Folter
Professor für Völkerrecht an der Universität Glasgow und an der Genfer Akademie für humaniätres Völkerrecht der Menschenrechte
Wohnt seit 2013 mit seiner Frau und den beiden Töchtern in Leubringen mrs

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