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Portrait - Serie

«Es ist äusserst wahrscheinlich, dass ich Nick Hayek den Hintern versohlte»

Obwohl sie in der Primarschule Bestnoten schrieb, durfte Dora Krebs-Wälti in den 1940er-Jahren nicht in die Sekundarschule. Dennoch hielt sie an ihrem Traum fest und wurde Hebamme. Dass die jungen Männer bei ihr Schlange standen, hatte aber nur bedingt mit dem Beruf zu tun.

Die 93-jährige Dora Krebs-Wälti geniesst es, im Seelandheim auch einmal allein zu sein. Gerne würde sie wieder einmal in einem Chor singen. © Susanne Goldschmid / Bieler Tagblatt
  • Dossier

von Peter Staub

Dass sie selber ihrer Mutter eine schwere Geburt beschert hat, war der Grund dafür, dass Dora Krebs-Wälti schon als Kind wusste: «Ich will Hebamme werden.» Bis es soweit war, musste sie allerdings mehrere Hindernisse überwinden. Und zwar nicht nur ihre eigene, schwierige Geburt, die sie so schildert: «Sie mussten einen Arzt aus Biel holen, nachdem der Arzt aus Aarberg es vergeblich mit der Zange versucht und mich dabei am Auge verletzt hatte.»

Dieses Missgeschick führt dazu, dass sie ihr ganzes Leben lang mit dem linken Auge praktisch nichts sieht. Der Frauenarzt aus Biel brachte nicht nur mehr Erfahrung, sondern auch eine grössere Zange mit. «Er fischte mich raus», erzählt sie mit dem trockenen Humor, der das ganze Gespräch prägt. Fast sechs Kilogramm brachte Dora als Neugeborene auf die Waage. «Ich war ein ‹Riesenmocken›», sagt sie. Als Hebamme musste sie später nie ein so schweres Kind zur Welt zu bringen.
Als ihr Bruder sie zum ersten Mal sah, soll er enttäuscht gesagt haben: «Schon wieder ein Mädchen», denn er hatte bereits zwei Schwestern, «und dann noch so ein hässliches», erzählt Krebs-Wälti lachend. Sie war das Nesthäkchen mit sieben Jahren Abstand.

Ihr Vater war Bauer in Kappelen. Er sei ein kluger Mann gewesen, der bei vielen Behörden als Schreiber engagiert war und nebenbei die landwirtschaftliche Genossenschaft leitete, führt Dora Krebs-Wälti aus. Wie damals bei den Bauern üblich, musste auch sie bereits als kleines Kind aufs Feld. «Im Nachhinein denke ich, das war wahnsinnig, aber es war auch schön.»
Auf dem Hof gab es zahlreiche Tiere, ungefähr 15 Kühe, einen Stall voll «Gustis» und bis zu 100 Schweine. «Ich liebte vor allem die Hühner, von denen wir etwa 30 hielten. Schon als Kind war ich dafür verantwortlich. Das Schönste war, die Eier einzusammeln; das Misten hingegen gefiel mir weniger», erzählt sie schmunzelnd.

«Das macht mich heute noch wütend»

Die Primarschule besuchte Dora Krebs-Wälti in Kappelen. «In meinem Zeugnis hatte ich von A bis Z nur Einsen», erzählt sie stolz, denn die Eins war damals die beste Note. Doch das half ihr nicht, die Sekundarschule zu besuchen. «Das macht mich noch heute manchmal wütend», sagt sie. Und für einmal lächelt sie nicht. Dass das erste Kind, der Bruder, die Sekundarschule besuchen durfte und die älteste Schwester als zweites Kind ein Jahr später nicht auch noch gehen durfte, verstehe sie.
Denn die Familie musste für den Besuch der Sekundarschule in Aarberg bezahlen. Aber dass die zweite Schwester in die Sek durfte und sie ein paar Jahre später nicht, war zuviel für sie. Selbst der Lehrer und ihre Gotte, die nach Hause kamen, um ihre Mutter zu überzeugen, sie doch in die Sek zu schicken, blieben erfolglos. «Mutter blieb stur, sie wollte einfach nicht. Sie war eine Bäuerin, die zu Hause immer befahl», erzählt die 93-Jährige noch immer aufgebracht.

Seit sie ungefähr sieben Jahre alt war, trug Dora eine Brille, was in den 1930er-Jahren eher ungewöhnlich war. Ihre Eltern kamen darauf, dass mit ihrem Auge etwas nicht stimmte, weil sie manchmal nach der Arbeit auf dem Feld beim Heimfahren sagte: «Schau dort, die zwei Monde.» Die Knaben in der Schule machten Sprüche: «Dore More», nannten sie sie. Aber das berührte sie nicht. «Ich hatte ein gutes Mundwerk und konnte mich wehren.» Wenn Schnee lag, sei es vorgekommen, dass sich ihre sonst so vorlauten Schulkollegen beim Lehrer beklagten, weil «s’Dori» sie «gewaschen» habe. Sie legte die Jungs auf den Rücken, stemmte ihnen das Knie ins Kreuz und rieb sie mit Schnee ein. «Ich konnte mich durchsetzen, kam aber natürlich auch an die Reihe.»

«Manch ein Jüngling ist auf mich geflogen»

Nach der obligatorischen Schulzeit ging die junge Frau «ins Welsche». Zuerst nach Lausanne und dann nach Reconvilier, wo sie in der Bäckerei Doriot arbeitete. Dort lernte ‹la Dorli›, wie sie genannt wurde, schnell Französisch. Die Bäckermeisterin schickte sie von Anfang an gleich in den Laden, damit sie Französisch sprechen musste. «Das war das Beste», erinnert sich Dora Krebs-Wälti. Über der Bäckerei lebte sie mit einem grösseren Mädchen und den zwei kleinen Kindern der Bäckerfamilie in einem Zimmer. In Reconvilier blieb sie ein Jahr.
Zurück in Kappelen hätte sie gerne eine Lehre gemacht. «Aber meine Mutter wollte das nicht. In dieser Beziehung war sie komisch.» Das sei «dummes Zeug». Die junge Frau sollte arbeiten und Geld verdienen, ohne eine Lehre zu machen. Immerhin konnte sie ein halbes Jahr lang die Handelsschule Rüedi in Bern besuchen, wo sie Stenografieren und Maschinenschreiben lernte. Dafür fuhr sie mit dem Velo von Kappelen nach Lyss und von da mit dem Zug nach Bern. «Mit dem Velo fuhr ich bei jedem ‹Pflotsch›. Manchmal war ich bis zu den Knien nass», erinnert sie sich.  

In der Stadt gefiel es ihr: «Ich war ziemlich hübsch und manch ein Jüngling ist auf mich geflogen». In Bern sie allerdings nie in den Ausgang gegangen. «Da war ich stur.» Nach Abschluss der Handelsschule fand sie in der Gerber AG in Lyss eine Stelle, wo sie im Büro ihre neuen Kenntnisse anwenden konnte. «Ich verdiente rund 200 Franken im Monat» erinnert sie sich. Zu Hause musste sie nichts abgeben: «Ich putzte jeweils am Samstag das Haus und die Schuhe. Denn am Samstagnachmittag und am Sonntag hatte ich bei Gerber frei.» Oft arbeitete die 18-Jährige bis in die Nacht hinein. Wenn sie dann nicht mit dem Bruder, der bei Gerber als Prokurist tätig war, nach Hause fahren konnte, sondern in der Nacht allein mit dem Velo durch den Wald zwischen Lyss und Kappelen fahren musste, habe sie «gruusig» Angst gehabt. Damals gab es dort weder die Kartbahn noch die Autobahn; da war viel mehr Wald als heute. Zum Glück sei nie etwas passiert.

Es dauerte nicht allzu lange, da sagte die junge Frau eines Abends zu Hause, dass sie Hebamme lernen wollte. Ihre Eltern antworteten: «Du weisst doch, dass wir kein Geld haben, um ‹solches Zeugs› zu bezahlen.» Da habe sie gesagt, das bräuchten sie nicht, denn sie habe sich die dafür notwendigen 700 Franken hart erspart: «Ich hatte nicht mehr als ein Velo und gab sonst fast nichts von meinem Lohn aus.»

Ein Mofa mit einem schwarzen Kistchen

Ihre eigene Geburt war immer wieder ein Thema, wenn sie als Kind irgendwo auftauchte: «Ah, das ist jetzt also dieses Dorli, das so schwer war und so weiter. Geht es ihm jetzt gut?» So hätten die Frauen jeweils über sie gesprochen. Das habe bei ihr das Interesse an der Geburt geweckt. Und da gab es noch eine andere Geschichte, die passierte, bevor dir zur Schule ging: «Als einmal eine Hebamme aus Aarberg ins Dorf kam, hatte diese hinten auf ihrem Mofa ein schwarzes Kistchen. Danach hiess es, auf dem Hof, wo sie gewesen war, habe es Zwillinge gegeben. Da dachte ich: ‹Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Kistchen.› Dass darin ein Bébé Platz hatte, konnte ja noch sein, aber gleich zwei, das glaubte ich nicht mehr. Man hatte mir gesagt, dass die Hebamme in ihrem Kistchen die Kinder brächten.»

Die Hebammenschule besuchte sie im Berner Frauenspital. Dafür mussten die angehenden Hebammen den «Schanzenstutz» überwinden. An ihrem ersten Schultag nahm die damals 21-Jährige am Bahnhof ein Taxi. «Schliesslich hatte ich einen Koffer und einen Schirm bei mir.» Beim Vorbeifahren sah sie andere junge Frauen, wie sie mühsam die Koffer den «Stutz» hoch schleppten. «Später rieben mir meine Kolleginnen diese Taxifahrt an jeder Zusammenkunft unter die Nase: ‹Du ‹Toggu› bist damals nicht nur mit dem Taxi vorgefahren, du hast dir sogar die Koffer reintragen lassen›.»

Nachtwache, spänen und blochen

Elf Schülerinnen absolvierten die zweijährige Ausbildung. Sie hatten Unterricht bei Assistenzärzten. «Einer davon hat mir gut gefallen, dieser ‹Schnuderi›, benahm sich entsprechend; ich habe ihm wohl auch gefallen», erzählt Dora Krebs-Wälti, während ihr Blick leicht verträumt durchs Fenster auf die Wiese abschweift, wo zwei Pferde in der Frühlingssonne grasen. Es sei eine schöne Zeit gewesen. Wenn die Auszubildenden nicht in der Schule waren, halfen sie im Gebärsaal, bei Geburten aber auch als Nachtwache. Einmal habe sich eine Frau so toll gebärdet und  verrenkt, dass sie ihren Kopf zwischen die Metallstäbe des Bettes zwängte und dort einklemmte. Dazu habe sie immer wieder gerufen: «Der ‹Sauhund› hat mir gesagt, dass er sich nur die Beine wärmen wollte.» Krebs-Wälti lacht herzhaft. Der Hausdienst habe die Frau aus ihrer Zwangslage befreit.   

Die Zwischenprüfungen in der Schule stressten sie nicht, da sie immer die besten Noten gehabt habe. Das habe sie zwar gefreut, doch sei es bei der Ausbildung um etwas ganz anderes gegangen: «Wir mussten arbeiten.» Die Schicht begann normalerweise um 6 Uhr auf der Abteilung: «geputzt und gekämmt in der Uniform». Dann mussten die jungen Frauen den Parkettboden in der Wöchnerinnenabteilung spänen und blochen. Spänen, das hiess, den Boden mit feinen Metallspänen abreiben, um das Holz zu reinigen. Vor allem am Montag, wenn sonntags schlechtes Wetter war und die Männer und Kinder mit dreckigen Schuhen zu Besuch waren, sei das hart gewesen. Die Abteilung war ein grosser Saal mit sieben Betten. Die Mütter blieben zehn Tage im Spital, so lange wurde ihr Aufenthalt bezahlt. «Für viele Frauen war das ja eine Art Urlaub. Ich war oft froh, dass sie nicht nach vier Tagen das Spital verlassen mussten. Denn zu Hause mussten sie gleich wieder arbeiten», erinnert sich Dora Krebs-Wälti.

Das erste Auto hatte seine Macken

Nach Abschluss der Ausbildung arbeitete Krebs-Wälti zuerst noch im Büro ihres Bruders, der unterdessen eine eigene Engroshandelsfirma führte. «Als frischgebackene, selbstständige Hebamme musste ich auf Aufträge warten.» Im Anzeiger von Aarberg hatte sie ein Inserat geschaltet. Und sie besass bereits ein Auto. Das hatte ihr der Vater zur Abschlussprüfung im Oktober 1950 geschenkt. Ein Ford Taunus. «Aber das war ein völliger Fehlgriff.» Denn der Taunus hatte seine Macken. Als sie einmal ihren Vater nach Lyss führen sollte, blieb das Auto wieder  stehen. Da sei ihr Vater ausgestiegen und habe mit den Füssen an die Pneus getreten: «Du Sauesel», habe er gerufen, «jetzt schau, dass du fährst. Fürs Stehen haben wir dich nicht gekauft.» Sie lacht herzhaft. Das nächste Auto war dann ein Opel Rekord, der sei immer gelaufen.

In Kappelen gab es damals nicht viele Autos, die junge Hebamme war jedenfalls die einzige ledige Frau, die einen Wagen besass. «Die jungen Männer standen bei mir Schlange. Nicht nur weil ich hübsch war, sondern vor allem, weil ich ein Auto hatte», erzählt sie. Gemeinsam fuhren sie an den Hagneckkanal, weil es da keinen Autoverkehr gab. Dort durften dann die Jungs mit ihrem Auto dem Kanal entlang fahren. «Sie hatten die Wonne und ich hatte den Hintern voller Angst, dass einer in den Kanal hinunterfahren würde.» Aber es passierte nie etwas.

Ihren ersten Auftrag als Hebamme erhielt sie von einer Frau aus Bühl. Als sie die Frau untersuchte, realisierte sie, dass das Kind nicht in Kopflage war. «Ich war verdutzt und dachte: ‹Heimatland, beim ersten Mal kann das doch nicht etwas Abnormales sein›.» Weil es tatsächlich eine Steisslage war, liess sie den Arzt kommen. Dieser habe mit den Augen gerollt, weil sie alles so schön parat gelegt hatte. «Aber er liess mich meine Arbeit machen und alles ging gut.» Dora Krebs-Wälti wurde daraufhin Gotte «ihres» ersten Kindes.

Das war die erste von rund 2000 Geburten, die sie als Hebamme betreute. In Bargen betreute sie einmal eine Frau, die sehr mager und zierlich gewesen sei: «Alles war dreckig und sie hatte keine Windeln. Sie sagte zu mir, ich solle mich von ihren Lumpen bedienen.» Diese Lumpen zerriss die frisch gebackene Hebamme in Stücke, damit sie diese als Windeln brauchen konnte. Damals sei es Mode gewesen, dass die Wöchnerinnen nicht aufstehen und herumlaufen durften. Deshalb hob sie die zierliche Frau aus dem Bett und trug sie zum Ofen, damit sie das Bett machen konnte. «Viel später erfuhr ich dann, dass diese Wöchnerin mir dafür noch lange dankbar war. Aber jedes Mal, wenn ich wieder fort war, musste die Frau aufstehen, um im Stall die Schweine zu füttern.»

Der «Brätsch» als Hebammenbrauch

Die prominenteste Geburt sei jene von Nick Hayek gewesen, dem heutigen Konzernchef der Swatch Group. Dessen Vater Nicolas G. Hayek habe damals als Ingenieur in der Maschinenbaufirma seines Schwiegervaters Eduard Mezgers in Kallnach gearbeitet. Hayeks hätten sie wie alle anderen angerufen. «Zuerst dachte ich, das sei ein einfacher Arbeiter», erzählt sie. Da es Hebammenbrauch gewesen sei, das Neugeborene an den Füssen hochzuhalten und ihm einen «Brätsch» auf den Hintern zu verpassen, sei es «äusserst wahrscheinlich, dass ich auch Nick Hayek den Hintern versohlte». Ob es aber tatsächlich so war, kann sie nicht mehr sicher sagen.

Sie kam nie zu spät zu einer Geburt, obwohl sie manchmal sieben Frauen gleichzeitig betreute, manche zu Hause, manche im Spital. «Das war streng.» Zum Glück sei ihr nie ein Unglück passiert, resümiert sie. Zumindest nicht bei ihren Patientinnen. Denn sie selbst erlitt später eine Totgeburt. «Da fragte ich mich, ob ich das erlebte, um zu sehen, wie sich andere Frauen fühlten, wenn sie ein totes Kind zur Welt bringen mussten.» Als freischaffende Hebamme hatte Dora Krebs-Wälti keinen Chef. Aber sie musste genau Buch führen und dieses regelmässig an die Santitätsdirektion nach Bern schicken. Rechnungen stellte sie selbst. Die erste belief sich auf 68 Franken für die Geburt und Wochenpflege. Ob die Geburt einen Tag und eine Nacht ging oder kürzer war, spielte keine Rolle. Als sie nach elf Jahren als Selbstständige aufhörte, stellte sie rund 400 Franken in Rechnung.

Obwohl sie als Hebamme selbstständig arbeitete und eine der ersten Frauen im Seeland war, die ein Auto besass, hatte sie wie alle Frauen lange Zeit kein Stimmrecht. Obwohl sie politisch nicht aktiv war, schaute sie bereits als 20-Jährige in Kappelen dafür, dass auch die jungen Frauen den Bürgerbrief erhielten. «Wir waren die Ersten. Wir zogen die Tracht an und holten den Brief ab, das gab schon ein wenig ein Gerede», erzählt sie stolz. Für das Frauenstimmrecht habe sie sich aber nicht öffentlich eingesetzt. «Ich half im Hintergrund.»

Bereits als Jugendliche ging sie im Dorf gerne tanzen, das änderte sich auch nicht, als sie Hebamme war. Einmal pro Monat war Tanzsonntag in der «Linde» in Kappelen. Dort lernte sie schliesslich ihren künftigen Ehemann kennen. «Ich habe darauf geachtet, dass es ein guter Tänzer ist.» Dieser sagte ihr später, dass er acht Jahre lang bei ihr «gescharrt» habe. Solange habe er gewusst, dass er keine andere wollte. «Ich liess ihn ‹scharren›, weil ich keinen Bauern wollte,» erzählt Krebs-Wälti und lacht schallend. «Am Schluss war nicht der Beruf entscheidend, dass ich ihn nahm. Es war einfach Liebe.» Dass ihr Mann jünger war als sie, realisierte sie erst, als sie die Heiratsformulare ausfüllten. Er war Bauer in Bühl, wo das Paar dann gemeinsam lebte. Später übernahmen sie auch den Betrieb in Kappelen, wo ihre Eltern noch bis zu ihrem Tod lebten.

Solide Ausbildung der Kinder war ihr wichtig

1959 heirateten Ueli und Dora Krebs-Wälti. Im gleichen Jahr kam ihr Sohn zur Welt. Von diesem Zeitpunkt an nahm sie keine neuen Aufträge mehr an. Sie begleitete aber die Frauen, die sie bereits vorher betreut hatte, noch bis zur Geburt. 1964 kam die Tochter zur Welt. In dieser Zeit erlebt sie nach der Fehlgeburt einen zweiten Schicksalschlag. Sie musste zusehen, wie ihr Vater im Alter von 80 Jahren auf seinem Mofa von einem Auto angefahren und dabei tödlich verletzt wurde. Sie rannte auf die Strasse, konnte ihm aber nicht mehr helfen.

Da sie selbst nicht die Sekundarschule besuchen durfte, war es für Krebs-Wälti wichtig, dass ihre Kinder solide Ausbildungen machen konnten. Der Älteste lernte zuerst Mechaniker, bevor er die Bauerschule absolvierte. Die Tochter wurde Krankenschwester.Das Glück der Familie dauerte allerdings nicht sehr lange. Vater Ueli starb bereits 53-jährig an Kehlkopfkrebs. «Zuerst wurde er so operiert, dass er danach nicht mehr sprechen konnte. Das war schrecklich.» Die Tochter war noch in der Ausbildung. Der Sohn übernahm den Betrieb.

Nachdem ihr Mann gestorben war, wurde Dora Krebs-Wälti vom Spital Aarberg angefragt, ob sie dort als Hebamme wieder einsteigen wollte. «Ich stellte fest, dass unterdessen alles einfacher geworden war. Denn Ultraschall kannte ich vorher nicht», erzählt sie. Sie wurde für drei Tage pro Woche angestellt und hatte sofort viel Arbeit. Der Lohn war allerdings nicht berauschend: «Wegen all der Abzüge für Versicherungen erhielt ich vielleicht 560 Franken pro Monat. Aber weil mir die Arbeit gefiel, akzeptierte ich das», sagt sie.  

Auch nach der Pensionierung legte sie ihre Hände nicht in denSchoss. Sie half ihrem Sohn auf dem Hof, betreute ihre Grosskinder oder strickte: «Obwohl niemand mehr solche Socken tragen will.» Als sie mit dem Haushalt nicht mehr fertig wurde, suchte sie nach einer Alterswohnung und wurde im in Worben fündig: «Hier war es heimelig.» In dem Zimmer, wo sie nun lebt, machte sie zuerst Ferien, um herauszufinden, ob es ihr dort gefiel. Seit zwei Jahren ist sie nun im Seelandheim. Hier kann sie mit anderen Bewohnern Kontakt haben. Aber das mag sie nicht immer. Es gefällt ihr auch, allein zu sein. «Wir haben eine Gesangsgruppe, aber deren Termine verschlafe in der Regel», sagt sie. Zu sehr mag sie es, auszuschlafen. Dabei würde sie gerne wieder einmal singen, wie früher im Frauenchor Kappelen: «Wir sangen schöne Lieder von Franz Schubert und Robert Schumann.»  

Mit dem Rollator geht sie gerne nach draussen. Bei schönem Wetter fährt sie mit dem Elektromobil über Land. «Diese Ausflüge geniesse ich sehr.» Mit dem Autofahren ist es allerdings vorbei. 60 Jahre lang ist sie gefahren, dann hatte sie genug. Als ihr jüngerer Grosssohn die Autoprüfung bestand, entschied sie sich spontan, ihm die Autopapiere und den Schlüssel ihres Autos zu geben. «Unter der Bedingung, dass er meine tiefe Autonummer behält.»   

Dora Krebs-Wälti freut sich nicht nur, wenn ihre eigenen Kinder und Grosskinder Gesellschaft leisten. Das erste Kind, dessen Geburt sie als Hebamme betreute, sei heute als Präsident eines Schwingklubs ein richtiger «Fätze». Zu ihrer Freude umarmt er sie immer, wenn er seine Gotte besucht.


Zur Person

Dora Elisabeth Krebs-Wälti wurde am 13. April 1926 als viertes Kind in eine Bauernfamilie in Kappelen geboren. Sie ist also seit letztem Samstag 93 Jahre alt.
Als Hebamme half sie ab den 1950er-Jahren zahlreichen Müttern im Seeland, ihre Kinder zur Welt zu bringen. Anschliessend betreute sie die Mütter in der Regel noch mindestens eine Woche.
Rund 2000 Geburten betreute sie zuerst als selbstständige Hebamme oder später als Angestellte im Spital Aarberg. Schon als Kind hatte sie auf dem elterlichen Hof mitgearbeitet. Und obwohl sie nie einen Bauern heiraten wollte, führte sie nach ihrer Heirat mit ihrem Ehemann Ueli die ehemals elterlichen Bauernbetriebe in Bühl und Kappelen.
Die zweifache Mutter und vierfache Grossmutter lebt seit zwei Jahren im Seelandheim in Worben, wo es ihr sehr gut gefällt.

Zur Serie «Die Geschichte lebt»

Das «Bieler Tagblatt» porträtiert ältere Männer und Frauen aus dem Seeland, die als Zeitzeugen die Geschichte des letzten Jahrhunderts erlebt haben.

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