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1. Mai

«Glaube in die Politik wird gestärkt»

Corrado Pardini glaubt, dass die Arbeiterbewegung gestärkt aus der Corona-Krise hervorgehen wird. Am heutigen Tag der Arbeit demonstriert der Präsident des Berner Gewerkschaftsbundes im Internet.

Der Lysser Corrado Pardini beim 1.-Mai-Umzug 2018 in Biel. Heute spaziert er über den leeren Bundesplatz und stellt sich vor, wie es wäre, zu demonstrieren. Bild: Peter Samuel Jaggi/a

Interview: Lino Schaeren

Corrado Pardini, die 1.-Mai-Umzüge fallen heute in der Schweiz aufgrund der Corona-Krise erstmals seit 130 Jahren aus. Haben Sie trotzdem eine Rede zum Tag der Arbeit geschrieben?

Corrado Pardini: Ich habe eine Rede auf Video aufgezeichnet, die jetzt halt über die sozialen Medien verbreitet wird.

Sie sind bekannt als begnadeter Rhetoriker, es ist wohl nicht dasselbe, zuhause eine Rede zu schwingen statt auf dem Rednerpult vor einer gleichgesinnten Menschenschar.

Ich habe das Video nicht zuhause aufgenommen, sondern vor einer Druckerei. Aber es ist für einen Gewerkschafter natürlich immer ein Highlight, am 1. Mai auf einem Platz vor Publikum eine Rede halten zu können. Die Kamera kann die Zuschauer nie ersetzen.

Was ist denn die Kernbotschaft ihrer Rede?

Es sind drei. Erstens: Wir müssen jetzt erst recht Solidarität zeigen. Solidarität mit jenen, die an der Front arbeiten, sei es im Verkauf, bei der Post oder im Gesundheitswesen. Solidarität mit jenen anderthalb Millionen Menschen in der Schweiz, die von Kurzarbeit betroffen sind. Solidarität mit jenen, die um ihre ökonomische Zukunft bangen müssen – und da mache ich keinen Unterschied zwischen Kleingewerbler, Unternehmer oder Angestellten. Solidarität aber auch mit den schwer Betroffenen, mit jenen, die einer Risikogruppe angehören, mit älteren Menschen, die isoliert leben müssen. Sie alle haben uneingeschränkt unsere Unterstützung. Zweitens: Jetzt zeigt sich wie nie zu vor, wie wichtig der öffentliche Dienst ist, für den die Gewerkschaften jahrzehntelang gekämpft haben. Wie wichtig ein starker Sozialstaat ist und wie unverzichtbar die öffentlichen Strukturen wie die Spitäler sind. All das, was uns jetzt durch diese Krise trägt, ist die Substanz einer erfolgreicher gewerkschaftlicher Politik. Die Bürgerlichen wollten den öffentlichen Dienst immer wieder kaputtsparen, ihn privatisieren. Jetzt getraut sich niemand mehr, ihn infrage zu stellen.

Und die dritte Botschaft?

Dass viele von jenen, die nun an der Front tätig sind, in sehr prekären Verhältnissen arbeiten müssen, sehr tiefe Löhne haben. Wie Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga richtig gesagt hat: Von Applaus alleine hat das Pflegepersonal oder die Verkäuferin noch nicht gegessen. Solidarität bedeutet auch, solche essenziellen Berufe mit Lohnerhöhungen aufzuwerten – und zwar weit über die Krise hinaus.

Was bedeutet die Corona-Krise für die Gewerkschaften?

Wir mussten den Betrieb komplett neu organisieren. Unsere Arbeitslosenversicherung wurde überrannt. Wir mussten in kürzester Zeit Infrastruktur aufbauen, um die Anfragen schnell abarbeiten und die Zahlungen organisieren zu können. Gleichzeitig mussten wir dafür sorgen, dass die Sicherheitsvorkehrungen für die, die weiterhin arbeiten, sichergestellt sind. Dass die vom Bundesamt für Gesundheit verfügten Sicherheitsvorschriften in den Betrieben eingehalten werden und da, wo das nicht möglich ist, die Arbeit eingestellt wird. Dass die Gewerkschaften hier massiv Druck aufgebaut haben, hatte nichts mit einer Machtdemonstration zu tun, auch wenn uns das immer wieder vorgeworfen wurde. Es galt schlicht dafür zu sorgen, dass sich möglichst wenig Menschen anstecken, damit die Intensivstationen in den Spitälern nicht überlastet werden und noch mehr Menschen sterben. Auch das hat mit Solidarität zu tun.

Werden die Regeln des BAG in den Betrieben denn jetzt eingehalten?

Es gibt solche, die sich von Beginn weg vorbildlich um die Sicherheit der Mitarbeiter gekümmert, den Betrieb soweit als nötig runtergefahren und vor Ort mit der Unia zusammengearbeitet haben. Es gibt aber auch die, die sich verweigert, die die Lage unterschätzt und die Belegschaft unter Druck gesetzt haben. Im Baugewerbe waren die Arbeitgeber in der Westschweiz verantwortungsvoller als in der Deutschschweiz. Wir haben rund 4000 Meldungen erhalten, weil auf dem Bau die Hygienevorschriften des Bundes nicht eingehalten worden sind. Erst, als man die Dimension der Krise wirklich sah, wurde auch für die Letzten klar, dass höchste Vorsicht geboten ist.

In Genf, der Waadt und im Tessin hatten die Kantonsregierungen alle Baustellen geschlossen. Sie wollen also sagen, dass es vernünftig gewesen wäre, dies schweizweit zu tun?

Einen Baustopp über alles zu verhängen, war nie unsere Überlegung, weil es ja auch nicht nur die negativen Beispiele gab. Aber man hätte in einer ersten Phase etwa dort stärker runterfahren können, wo sanitäre Anlagen fehlten und zuerst noch beschafft werden mussten, damit die Hygienevorschriften eingehalten werden konnten. Eigentlich sollte es ja unabhängig von Corona selbstverständlich sein, dass man 2020 in der Schweiz minimale Hygienevorschriften auch auf der Baustelle befolgt. Aber noch einmal: Es gibt bei den Unternehmungen auch viele positive Erfahrungen, etwa mit Rolex und Swatch, die in Biel sehr vorbildlich gehandelt haben. Sie haben den Betrieb stark heruntergefahren, verzichten gleichzeitig auf Entlassungen und bezahlen den Angestellten trotz Kurzarbeit den vollen Lohn.

Der Bundesrat hat dem Druck von Branchen und Politik nachgegeben und die Lockerung des Lockdowns diese Woche massiv beschleunigt: am 11. Mai sollen nicht nur die restlichen Läden, sondern auch die Gastronomie wieder öffnen. Ein richtiger Entscheid?

Ein Pauschalurteil darüber möchte ich mir nicht erlauben. Bei der Eröffnung der Gastronomiebetriebe frage ich mich aber, ob die Bevölkerung schon bereit ist, einen gemütlichen Abend im Restaurant zu verbringen, wenn ich an all die Schutzvorkehrungen denke.

Werden Sie ab dem 11. Mai also nicht in Restaurants essen gehen?

Ich werde bei schönem Wetter in einer Gartenbeiz einen Kaffee trinken. In einem Restaurant essen werde ich am 11. Mai nicht, dafür ist mir die Unsicherheit zu gross. Ich stelle meine persönlichen Bedürfnisse noch etwas zurück zum Wohle der Gesundheit aller – und ich denke, da bin ich nicht allein. Es wird für die Betriebe deshalb eine Herausforderung, genügend Einnahmen zu generieren, um die Kosten und die Löhne bezahlen zu können. Ich befürchte, dass wir allenfalls Restaurants, die bereits Probleme haben, mit der Öffnung in noch grössere Schwierigkeiten treiben, wenn die Gaststuben dann leer bleiben. Kommt hinzu, dass es eben nicht immer einfach sein wird, die Hygiene- und Abstandsregeln in Gastrobetrieben einzuhalten. Den Öffnungsentscheid des Bundesrats finde ich in Bezug auf die Gastronomie deshalb mutig. Sollten die Ansteckungen wieder steigen, hoffe ich, dass die Politik auch den Mut haben wird, die Schraube wieder anzuziehen.

Glauben Sie, dass die Arbeiterbewegung gestärkt aus dieser Krise hervorgehen wird?

Ich glaube, dass es in dieser Krise vor allem lauter Verlierer geben wird. Wir haben einen Konjunktureinbruch, die Prognosen des Staatssekretariats für Wirtschaft lassen nichts Gutes erahnen. Es kommen wirtschaftlich schwierige Zeiten auf uns zu. Für die Gewerkschaftsbewegung wird es wichtig sein, sich gut zu organisieren, denn mit grossen Konflikten müssen wir rechnen. Am meisten betrübt hat mich aber, dass die Börse in diesen Tagen boomt. Es ist abstrus, dass es in einer weltweiten Krise Leute gibt, die ihr Vermögen noch einmal vermehren. Das ist doch für niemanden nachvollziehbar! Es wird einen Punkt geben, an dem wir realisieren, dass wir einige Dinge neu organisieren müssen. Deshalb: Ja, ich denke, dass die Arbeiterbewegung gestärkt wird, indem wir in den nächsten Jahren beim Sozialstaat und beim Service public an einen Ausbau statt an einen Abbau denken müssen.

Der Bundesrat hat die Kassen schnell geöffnet, bürgt mit Milliarden für die Kredite, hat rasch und unbürokratisch Kurzarbeit ermöglicht. Wenn der Staat nun also gestärkt aus dieser Krise hervorgeht, könnten Arbeiter doch nun auch zum Schluss kommen: Die Gewerkschaften braucht es gar nicht, der Staat schaut ja zu uns.

(Lacht) Man müsste sich die Frage stellen, wer diesen Sozialstaat entwickelt und ihn in den letzten 20 Jahren verteidigt hat: Das waren die Gewerkschaften. Es waren auch wir, die um das Instrument der Kurzarbeit gekämpft haben oder dafür, dass die Arbeitslosenversicherung gestärkt wird, die den Gesundheitsschutz für Arbeitsplätze entwickelt haben. Die Schweizerinnen und Schweizer sehen sehr wohl, wer jenen Sozialstaat und jenen Service public aufgebaut hat, der jetzt in der Krise für sie da ist und auch die Wirtschaft unterstützt.

Die Bundesmilliarden fliessen aber nicht endlos. Rechnen Sie damit, dass der Druck auf die Arbeitnehmenden aufgrund der Nachwehen der Krise zunehmen wird?

Davon bin ich überzeugt. Es gibt ja bereits Versuche, die Arbeitszeiten zu lockern. Ich finde es unverschämt, inmitten der Krise Forderungen nach Sonntagsarbeit zu stellen. Angriffe aufs Arbeitsgesetz wird es geben, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Ich bin aber zuversichtlich, dass uns die Bevölkerung, wenn es sein muss, an der Urne den Rücken stärken würde.

Sehen Sie auch Positives in der Krise?

Die Worthülse «Solidarität» wurde mit Inhalt gefüllt. Ich habe wahnsinnig viele schöne Bürgerinitiativen gesehen, Menschen, die sich ohne jegliche Gegenforderungen unterstützen. Zudem wurde der Glaube der Leute in den Staat, in die Politik gestärkt. Viele sehen jetzt, dass ein Service public, der in guten Zeiten gestärkt wurde, in der Krise das Rückgrat der Gesellschaft ist. Vielleicht wird künftig am Stammtisch in der Beiz nun etwas weniger über die in Bern geschimpft. Die Krise könnte zudem dazu führen, dass ganze Wertschöpfungsketten wieder bei uns angesiedelt werden, dass es zu einer Reindustrialisierung kommt; etwa, was Schutzmaterial, Impfstoffproduktion und vieles mehr betrifft.

Sie haben immer gesagt: Gewerkschaft und Politik gehören zusammen. Ist Ihre Arbeit als Gewerkschafter schwieriger geworden seit Sie vergangenen Herbst als Nationalrat nicht wiedergewählt wurden?

Ich denke, dass man Politik nicht auf einen Parlamentssitz reduzieren kann, sie ist vielfältiger. Ich habe in den letzten Wochen einiges beitragen können, habe alle Hände voll zu tun. Mein Job ist derzeit mehr als ausgefüllt.

Und wie verbringen Sie nun den heutigen Mai? Die Rede ist ja bereits vorgängig im Kasten.

Wir beantworten Fragen in den sozialen Medien; die 1.-Mai-Debatte findet nun erstmals auf dieser Ebene statt. Ich werde also grundsätzlich im Büro sein. Einen kleinen Spaziergang über den leeren Bundesplatz werde ich aber trotzdem machen und mir dabei vorstellen, wie es wäre, wenn hier jetzt hunderte Leute für mehr Solidarität demonstrieren würden.

Stichwörter: 1. Mai, Tag der Arbeit, Unia

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