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Psychiatrie

«Humor isteine gute Art,die Leute zu erreichen»

Die Spitex betreut immer mehr psychisch kranke Menschen zu Hause. Sarah Steinwede und Maurizio Boeri vom Psychiatrie-Team der Spitex Aare Bielersee erzählen aus ihrem Alltag. Zentral bei ihrer Arbeit ist Vertrauen aufzubauen. Mitunter ist Lachen das beste Mittel dafür.

Maurizio Boeri und Sarah Steinwede: Psychisch kranke Menschen bei sich zuhause zu betreuen hat den Vorteil, dass sich die Fachleute ein Bild davon machen können, wie die Betroffenen mit ihrem Leben zurechtkommen. Matthias Käser

Interview:Brigitte Jeckelmann
Sarah Steinwede, Maurizio Boeri, die Spitex Aare Bielersee feiert dieses Jahr ihr zehnjähriges Jubiläum. Innerhalb kurzer Zeit hat sie ihr Psychiatrie-Team auf vier Fachpersonen ausgebaut – weshalb?
Sarah Steinwede: Seit ich vor einem Jahr meine Stelle bei der Spitex Aare Bielersee als Pflegefachfrau mit Spezialausbildung in Psychiatrie angetreten habe, hat der Bedarf stark zugenommen. Im Vergleich zum letzten Jahr verzeichneten wir in den ersten drei Monaten in diesem Jahr einen Zuwachs von etwa einem Drittel geleisteter Stunden. Heute betreuen wir rund 70 Klienten mit einer psychiatrischen Diagnose.

Wie erklären Sie sich diesen Zuwachs?
Maurizio Boeri: Das hat mehrere Gründe. Zum einen gilt für psychiatrische Kliniken dasselbe wie für Spitäler: Nach einem stationären Aufenthalt entlassen sie Patienten heute viel früher, um Kosten zu sparen, nach der Strategie ambulant vor stationär. Auch Eintritte will man vermeiden. Die Leute sollen länger zuhause bleiben können. Bei körperlichen Leiden sorgen die Pflegefachpersonen der Spitex für die Pflege in den eigenen vier Wänden, bei psychiatrischen Krankheiten kommen wir ins Spiel.
Steinwede: Auch die Sozialdienste unserer elf Anschlussgemeinden, Beistände, Hausärzte und Spitäler weisen uns immer mehr Klienten zu. Der Vorteil der psychiatrischen Spitex: Wir gehen zu den Menschen nach Hause, je nach Bedarf mehrmals täglich. So können wir uns ein Bild machen, wie die betroffenen Menschen ihr Leben bewältigen. Dies im Gegensatz zu den ambulanten Psychiatern, den Sozialdiensten oder auch Beiständen. Diese können ihre Patienten meist nur punktuell sehen.

Gibt es weitere Gründe für diese Zunahme?
Steinwede: Die Sensibilität für psychiatrische Krankheiten ist bei der Spitex generell gestiegen. Man ist hellhöriger geworden und denkt heute eher daran, dass jemand vielleicht nicht nur wegen Schmerzen nicht aufstehen will, sondern dass vielleicht auch eine Depression der Grund sein könnte. Wenn das den Pflegenden auffällt, ziehen sie uns bei und wir führen ein Erstgespräch bei diesem Klienten durch. Stellen wir fest, dass eine vertiefte Abklärung nötig ist, informieren wir weitere Stellen wie den Hausarzt und gegebenenfalls den Psychiater. Die Pflegenden der Spitex sind froh über den fachlichen Austausch. Denn psychische Auffälligkeiten erschweren manchmal die Arbeit der Pflegefachpersonen und der Mitarbeiterinnen in der Hauswirtschaft. Ein depressiver Klient ist zum Beispiel schwerer dazu zu motivieren, sich zu duschen, aus dem Haus zu gehen oder Hausarbeiten zu verrichten. An Teamsitzungen geben wir unsere Erkenntnisse weiter und besprechen die Fälle. Wir diskutieren über Therapiepläne, Tagesstrukturen, stellen Bewältigungsstrategien vor und coachen mögliche Krisensituationen.

Dass psychische Krankheiten bei Spitex-Klienten oft unerkannt blieben, haben die Universitären Psychiatrischen Dienste Basel in einer grossen Studie festgestellt: Über ein Drittel von mehr als 600 Betroffenen hatten eine bislang nicht bekannte psychiatrische Diagnose. Zudem kam das Bundesamt für Gesundheit in einer umfassenden Analyse zum Schluss, dass Versorgungslücken zwischen stationären und ambulanten Angeboten bestehen. Mobile und aufsuchende Dienste wie die psychiatrische Spitex können laut dem Bundesamt helfen, diese zu schliessen und die Behandlungsqualität zu verbessern. An welchen psychiatrischen Krankheiten leiden Ihre Klienten und wie sieht Ihr Berufsalltag aus?
Steinwede: Das Spektrum ist sehr breit: Wir betreuen Menschen in akuten Krisen wie auch in chronifizierten, also lang andauernden Verläufen. Es handelt sich um Diagnosen wie Burnout, Depressionen, Angst- und Zwangserkrankungen, Anpassungsstörungen, Schizophrenien, Psychosen, Persönlichkeitsstörungen, Sucht, Suizidalität und Demenz.

Können Sie das an einem konkreten Fall erklären?
Steinwede: Aus Gründen des Datenschutzes dürfen wir nicht ins Detail gehen. Da war ein Klient, den man wegen eines psychischen Zusammenbruchs in eine psychiatrische Klinik eingewiesen hatte. Er sah und hörte Dinge, die andere Menschen nicht wahrnehmen konnten. Er lebte dadurch in ständiger Unruhe und Angst. Er war Migrant, trotz vielen Jahren in der Schweiz schlecht integriert und er sprach kaum Deutsch.

Wie ging es weiter?
Steinwede: Die Klinik hat den Klienten bei uns angemeldet mit dem Auftrag die Medikamente dreimal täglich kontrolliert abzugeben. Er war von Anfang an dankbar für unsere Hilfe. Er klagte über starke Müdigkeit und Schlafstörungen trotz vieler Medikamente. Wahnvorstellungen konnten wir dagegen keine mehr beobachten. Ich begleitete den Klienten zu seinem Psychiater. Die Medikamente konnte er nach und nach abbauen und wir von der Spitex konnten unsere Einsätze auf einmal wöchentlich reduzieren. Heute stellt der Klient seine Wochendosen an Medikamenten von mir angeleitet selbstständig bereit. Zusätzlich führe ich mit ihm weiterhin Gespräche darüber, wie er mit seinen Krankheitssymptomen umgehen kann und über bestimmte Situationen im Alltag wie zum Beispiel amtliche Briefe, die Steuererklärung, ein IV-Entscheid oder ein Streit mit den Nachbarn. Solche Dinge können manche Menschen aus dem Gleichgewicht bringen. Aber oft sind neben der Psychiatrie auch die anderen Teams der Spitex daran beteiligt, einen Patienten zu versorgen. Dazu gehören die Fachleute aus der somatischen Pflege, also für körperliche Leiden. Es gibt speziell ausgebildete Pflegefachleute für Wundpflege, und Palliative Care sowie die Mitarbeitenden in der Hauswirtschaft.

Können Sie ein Fallbeispiel nennen, bei dem mehrere Teams involviert waren?
Boeri: Wir begleiteten einen Klienten zuhause mit dem Auftrag, ihm das Methadon abzugeben. Im Pflegeverlauf waren dann letztlich alle Teams involviert.

Worum ging es genau?
Boeri: Es handelte sich um einen jüngeren drogensüchtigen Klienten mit mehreren ansteckenden chronischen Krankheiten.
Steinwede: Zuerst ging es nur darum, dass er sein Methadon bekam. Gut ein Jahr lang ging ich dafür zweimal wöchentlich zu ihm. Ich bin jeweils noch einige Zeit bei ihm geblieben, um mit ihm darüber zu sprechen, wie er mit bestimmten Situationen umgehen kann. Mit der Zeit wurde er schwächer und benötigte Hilfe im Haushalt. Hinzu kamen starke Schmerzen und er konnte das Bett nur noch mit unserer Hilfe verlassen.
Boeri: Als es ihm zunehmend schlechter ging, hat er sich intensiv mit dem Sterben auseinandergesetzt. In dieser Zeit habe ich wahrgenommen, dass er mehr reden wollte. Er hat begonnen, vermehrt aus seinem Leben zu erzählen. Mir kam es vor, als ob er abschliessen wollte, indem er seine Geschichte bei jemandem deponierte. In der letzten Phase involvierten wir auch noch unser Palliative Team und begleiteten ihn bis zu seinem Tod.

Woran ist er gestorben?
Steinwede: Es war sein Wille zu sterben. In den letzten paar Tagen nahm er kaum noch Flüssigkeit und Nahrung zu sich. Wir arbeiteten zu diesem Zeitpunkt eng mit dem ambulanten interdisziplinären Netzwerk bestehend aus Hausarzt, Psychiater und Beistand zusammen. Wir mussten die Schmerzmittel anpassen um einem Entzug vorzubeugen, da er das Methadon nicht mehr einnehmen konnte. Er hatte sich auch sozial sehr isoliert, konnte aber seinem Wunsch entsprechend zuhause sterben.

Das klingt tragisch. Wie gehen Sie mit solchen Schicksalen um?
Steinwede: Mir hilft der Austausch im Team. Mit den Jahren lernt man, wie man mit belastenden Situationen umgehen kann, damit es einem nicht mehr zu nahe geht. Ich persönlich treibe zum Ausgleich viel Sport in der Natur. Wenn ich abends heimkomme, gehe ich als Erstes duschen. Das hilft mir, mich von meiner Arbeit abzugrenzen und nicht mehr allzu stark an die verschiedenen Schicksale zu denken. Wobei mir dieses schon sehr unter die Haut ging. Es war aber auch nicht alltägliches Brot.
Boeri: Das war schon heftig. Wir waren dreimal täglich bei ihm, manchmal viermal. Psychohygiene ist zentral. Man soll mitfühlend und echt sein. Zugleich muss man sich aber auch sagen: Es ist ein Auftrag. Und doch soll das Herz mit dabei sein. Dennoch muss man sich schützen. Auch ich treibe Sport, beschäftige mich mit meinen Kindern und führe ein ausgewogenes Leben. Ich kann Menschen nur etwas geben, wenn ich mit mir selber klarkomme. Für unsere Arbeit sind Beziehungen wichtig. Manchmal können wir rasch Vertrauen aufbauen, manchmal dauert das Jahre.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Steinwede: Ich erinnere mich an einen Klienten mit einer Psychose. Die Symptome sind bei jedem Patienten anders. Betroffene können Halluzinationen haben, Stimmen hören oder sich verfolgt fühlen. Es bestand die Gefahr einer akuten Selbstgefährdung bis hin zu einem Suizid. Deshalb wies man ihn in eine psychiatrische Klinik ein. Im Anschluss meldete man ihn für die ambulante psychiatrische Betreuung an. Zu Beginn war er sehr skeptisch und sah nicht ein, dass er eine Therapie benötigte. Wir hatten lange vergeblich versucht, mit ihm in Kontakt zu treten, aber er war so misstrauisch, dass er die Termine immer wieder absagte, ein typisches Symptom einer Psychose. Inzwischen haben wir eine vertrauensvolle Basis aufgebaut.

War jener Klient auch sozial isoliert wie der Drogensüchtige?
Steinwede: Nein, er hatte Familie. Es gibt aber schon viele Menschen, die sehr einsam sind. Für diese sind wir manchmal die einzigen bestehenden Kontakte.
Boeri: Oft sind Menschen isoliert, weil sie seit Jahren chronisch krank sind und kaum mehr aus dem Haus gehen. Das betrifft viele Ältere. Es gibt aber auch zahlreiche Jüngere mit einer Persönlichkeitsstörung, die in einem Arbeitsintegrationsversuch sind oder in einer geschützten Werkstatt. Dort kommt es wegen ihres Verhaltens immer wieder zu Konflikten. Mit solchen Betroffenen reflektieren wir in Gesprächen, was ihr Verhalten beim Gegenüber auslöst, dass es unter Umständen Angst machen kann. Bei einer Klientin mit einer Borderline-Störung kann ich die Situation mittlerweile humorvoll angehen, indem ich etwa sage: ‹Wenn ich Sie jetzt nicht gut kennen würde, dann würde ich mich vor Ihnen fürchten.› Dann können wir gemeinsam darüber lachen. Humor ist eine gute Art, die Leute zu erreichen. So kann man positive Erfolge bestärken.

Wenn ich Ihnen zuhöre, habe ich den Eindruck, dass Sie sich vor allem um jüngere Klienten kümmern?
Boeri: Die Unter-65-Jährigen machen etwa zwei Drittel unserer Klienten aus. Davon sind die meisten zwischen 35 und 65, oft mit einer Invalidenrente, betroffen sind wesentlich mehr Frauen.
Steinwede: Alle Altersgruppen können von den genannten Krankheitsbildern betroffen sein. Bei älteren Menschen kommt noch hinzu, dass wir zum Teil zusätzlich mit einer Demenz konfrontiert sind. Sie haben beispielsweise wahnhafte Symptome und das Gefühl, man komme, um ihnen ihr Geld zu stehlen.

Beziehen Sie Angehörige Ihrer Klienten bei den Hausbesuchen mit ein?
Steinwede: Ja. Das ist ein weiterer Vorteil, wenn wir zu den Klienten nach Hause gehen. Es ist unumgänglich, dass wir die Angehörigen involvieren. Oftmals ist eine psychische Krankheit das zentrale Thema in der Familie und beeinflusst auch das gesamte Umfeld. Sowohl mit den betroffenen Klienten als auch mit den näheren Angehörigen besprechen wir Erlebtes und Zukünftiges und unterstützen sie im Umgang mit Angst, Aggressionen oder Wahnvorstellungen. Dies ist meist ein sehr langer Prozess, der bis zu mehreren Jahren dauern kann. Manchmal leiden Angehörige selber an einer psychischen Krankheit, aber sie können auch eine grosse Hilfe in der Therapie sein.

Sie sagen, in Ihrer Arbeit geht es vor allem darum, mit Gesprächen Vertrauen zu schaffen und Beziehungen aufzubauen. Wie machen Sie das?
Steinwede: Wir haben nicht das Gefühl, gleich alles verändern zu müssen oder den Klienten unsere Vorstellungen davon, wie es in einem Haushalt aussehen muss, aufzuzwingen. Wir gehen zu den Klienten, respektieren, was wir vorfinden und versuchen, zu verstehen, weshalb die Dinge so sind, wie sie sind. Um eine Vertrauensbasis zu schaffen ist es wichtig, dass eine feste Bezugsperson die Betroffenen begleitet und betreut. Beziehungen gestalten stellt die Basis unserer Arbeit dar. Grundlegende Arbeitstechniken, die regelmässig zum Tragen kommen, sind aktives Zuhören und Einfühlsamkeit.

Können Sie das erklären?
Steinwede: Wir treffen die verschiedensten häuslichen Situationen an, vom Messiehaushalt bis hin zu einem ausgeprägten Putzzwang. Auf jede Situation müssen wir uns entsprechend einlassen und versuchen zu verstehen, warum sich jemand von Dingen nicht trennen kann oder das Bedürfnis hat, alles keimfrei zu machen. In Gesprächen stellt sich nicht selten heraus, dass die Gründe in der Vergangenheit liegen. Wir versuchen mit den Klienten zusammen erreichbare Ziele festzulegen und entsprechende Massnahmen durchzuführen; zum Beispiel den Abfall gemeinsam zu entsorgen. Oder wir erstellen einen Wochenplan mit Haushaltämtli.

Wie geht es weiter mit der Psychiatrie bei der Spitex Aare Bielersee?
Boeri: Wir wollen das bestehende Angebot weiterentwickeln, um dem steigenden Bedarf gerecht zu werden. Wichtig dabei ist, dass wir uns mit den Zuweisern vernetzen. Das sind ambulant tätige Psychiater, psychiatrische Kliniken, Hausärzte und Sozialdienste.

Maurizio Boeri
Leiter Psychiatrie-Team
Diplomierter Pflegefachmann     Psychiatrie
50 Jahre alt
In Partnerschaft lebend, vier     Kinder
Hobbies: Tauchen, Radfahren,     Skifahren, Wandern, Klettern bjg

Sarah Steinwede
Diplomierte Pflegefachfrau     Psychiatrie
42 Jahre alt
verheiratet, zwei Kinder
Hobbies: Joggen, Velofahren,     Schwimmen, Natur bjg

30 Jahre Spitex Aare Bielersee
Im Jubiläumsjahr führt die Spitex Aare Bielersee drei Publikumsvorträge durch.
Am 12. Juni spricht um 18 Uhr im RuferheimNidau Jürgen Holm von der Berner Fachhochschule über die digitale Transformation im Gesundheitswesen.
Am 10. September erzählt um 18 Uhr im Altersheim Vivale in Orpund die Gerontologin Anna Schindler über die wichtigsten Aspekte für ein gelungenes Wohnen im Alter.
Am 7. November berichtet um 17 Uhr im Kreuzsaal in Nidau Steffen Eychmüller, Leitender Arzt am Palliativzentrum des Berner Inselspitals, darüber, was man tun kann, damit das Lebensende seinen Schrecken verliert.
Die Vorträge sind öffentlich und kostenlos. bjg
Link: www.spitexaarebielersee.ch

Stichwörter: Psychiatrie, Spitex, Krankheit

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