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Mein Montag

«Ich begleite ihn bis ans Lebensende»

Seit vier Jahren arbeitet Christian Beyeler als Fachmann Gesundheit bei der Spitex Seeland in Täuffelen. Der 31-jährige Bieler hat darin seinen Traumberuf gefunden, obwohl er sich jeden Abend von den alten Menschen verabschiedet, als wäre es das letzte Mal.

Wenn Christian Beyeler in den Zimmerstunden nicht Sport macht, gönnt er sich einen Kaffee im Edus Coffee and Clothes. Bild: Raphael Schaefer / Bieler Tagblatt
  • Dossier

Aufgezeichnet: Hannah Frei

Mein Tag beginnt um 5 Uhr
Nun aber zu meinem Montag – ist es ein Montag? Ach, egal. Um 5 Uhr klingelt mein Wecker, um 6 Uhr fährt der Zug Richtung Täuffelen. Und um 6.45 Uhr ist Arbeitsbeginn. An der Rapportsitzung besprechen wir im Team, ob sich bei den Klienten etwas geändert hat. Dann werfe ich einen Blick in die Klientenmappe. Bei uns befindet sich diese in digitalisierter Form auf einem Tablet, das wir den ganzen Tag mit uns tragen. Dieser Schritt der Digitalisierung haben manche Klienten nicht mitverfolgt. Denn es kommt nicht selten vor, dass die Senioren fragen: «Soll ich das Licht für Sie anschalten, Herr Beyeler? Sonst können Sie doch die Dokumente nicht lesen.» Schon nur solche Aussagen sind mit ein Grund dafür, dass ich meine Arbeit gerne mache.

Um 7 Uhr startet meine Tour, von Klient zu Klientin. Die meisten sind schon wach, wenn ich komme. Aber bei manchen habe ich auch das Vergnügen, sie aufzuwecken. Nun, wie weckt man jemanden, der kaum mehr hört, aber sensibler fast nicht sein könnte?

Ich trete in das Zimmer ein: «Guten Morgen», sage ich mit ganz sanfter Stimme. Keine Regung. Noch einmal: «Guten Morgen, Spitex», sage ich ein wenig lauter. Immer noch zu leise. Ich gehe einen Schritt näher ans Bett. «Guten Morgen, Spitex», diesmal fast mit normaler Stimme. Und plötzlich: ein Lebenszeichen. «Guten Morgen Herr Beyeler». Gut, die Klientin ist wach. Wunderbar. Ich frage sie, wie ihre Nacht gewesen sei und ziehe ihr dann die Stützstrümpfe an. Und fünf Minuten später verabschiede ich mich bereits wieder von ihr. Ich steige ins Auto, drehe das Radio auf und geniesse den Sonnenaufgang über dem Grossen Moos – für eine Minute. Dann geht es weiter.

Der nächsten Klientin helfe ich bei der Körperpflege, ziehe ihr die Stützstrümpfe an und verabreiche die Medikamente. Ihr gefällt es besonders, wenn mir noch ein wenig Zeit bleibt, um zu plaudern. Sie erzählt mir, wie sie sich fühlt, was sie stört und was sie mag. Und natürlich: Was sie vom Wetter hält. Es klingt simpel, ist meist aber sehr wichtig. Denn erst so erfahre ich, wenn sich der Zustand eines Klienten verschlechtert. Und Menschlichkeit ist etwas, was bei meiner Arbeit nicht auf der Strecke bleiben darf. Schliesslich geht es nicht darum, die Leute zu bevormunden, sondern ihre eigenen Fähigkeiten zu erhalten und zu fördern.


Kein Mensch ist eine Last
Manche unserer Klienten haben fast keine Lebensfreude mehr. Sie können nicht mehr gut laufen, schlucken Unmengen Medikamente, haben nur selten Besuch aus der Familie und leben nur noch in den Tag hinein. Bei ihnen sehe ich es auch als meine Aufgabe, sie zu motivieren und ihnen zu zeigen, dass das Leben trotzdem noch lebenswert ist. Ich bespreche mit ihnen den Tagesablauf, höre ihnen zu, auch wenn sie immer dasselbe erzählen, und zeige ihnen, dass es noch Menschen gibt, die froh darüber sind, dass sie noch leben. Kein Mensch ist nur eine Last.

Ich würde sagen, die meisten freuen sich auf mich. Sicherlich gibt es immer noch Personen, für die es ungewohnt ist, dass die Spitex einen Mann schickt. Aber besonders die älteren Frauen sagen sogar, Männer seien einfühlsamer und würden sie beispielsweise sorgfältiger waschen und eincremen als die Frauen. Meine Erklärung dafür: Ich als Mann kann nicht sagen, wie sich die Berührungen für eine Frau anfühlen. Deshalb bin ich umso vorsichtiger.

Als ich das erste Mal die Körperpflege bei einer Frau gemacht habe, war es schon ungewohnt. Aber mittlerweile ist es schon fast zu einem Mechanismus geworden. Ich muss mich an den Pflegebericht halten und schauen, ob Entzündungen entstanden sind. Man könnte sagen: Ich beobachte die Menschen bei der Pflege, wie ein Automechaniker ein Auto beim Service kontrolliert. Im Vordergrund steht dabei immer der Mensch und sein Wohlbefinden. Und dafür mache ich auch gerne mal Überstunden. Denn auch ich möchte meinen Lebensabend viel lieber in meinem Zuhause verbringen als in einem Spital.


Von Klient zu Klientin
Ich gehe von Klient zu Klientin – heute sind es für mich am Morgen und am Abend dieselben. Am Morgen sechs, am Abend sechs. Zwischen 12 Uhr und 16 Uhr mache ich Pause, erledige Büroarbeiten, mache Sport oder nehme mir Zeit, um zu entspannen. Denn anstrengend ist mein Beruf allemal.

Mein Tag vergeht wie im Flug. Trotz der immer wiederkehrenden Arbeiten ist jeder Tag anders und abwechslungsreich. Es sind besonders die Begegnungen, die meinen Job zu einer unfassbar tollen Aufgabe machen. Lange habe ich nach einer passenden Arbeit für mich gesucht, machte eine Kochlehre, arbeitete in sozialen Einrichtungen und in der Industrie. Vor vier Jahren habe ich dann meine Ausbildung bei der Spitex begonnen. Und nun bin ich angekommen und denke, dass sich dies auch nicht so schnell ändern wird.

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