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Nepal

«Ich fühle mich in Nepal fast mehr zuhause»

Die Seeländerin Lara Rosi Widmer ist seit Jahren eng mit Nepal verbunden. Mittlerweile engagiert sie sich mit Herzblut für die Menschen, die von den verheerenden Erdbeben des letzten Frühlings betroffen sind. Im Interview spricht sie von Karma und dem unerschöpflichen Lebenswillen der Nepalesen.

  • 1/5 Lara Rosi Widmer geht völlig auf in ihrem Engagement für die Menschen in Nepal. copyright: anita vozza/bieler tagblatt
  • 2/5 Lara Rosi Widmer unterstützt in Nepal verschiedene Projekte. Eines davon ist die «Shree Baluwa Secondary School» mit ihren rund 500 Schülerinnen und Schülern. Ebenfalls unterstützt durch Schweizer Spenden wird das Musikprojekt «Ghorkali Takma Band». Ehemalige Strassenkinder aus dem Kinderheim «Indreni Children» können dort Musik machen. Auf den letzten beiden Nepal-Reisen wurde die Seeländerin von ihrer Tochter Laura Alejandra (17) begleitet. Bilder: zvg
  • 3/5 Lara Rosi Widmer unterstützt in Nepal verschiedene Projekte. Eines davon ist die «Shree Baluwa Secondary School» mit ihren rund 500 Schülerinnen und Schülern. Ebenfalls unterstützt durch Schweizer Spenden wird das Musikprojekt «Ghorkali Takma Band». Ehemalige Strassenkinder aus dem Kinderheim «Indreni Children» können dort Musik machen. Auf den letzten beiden Nepal-Reisen wurde die Seeländerin von ihrer Tochter Laura Alejandra (17) begleitet. Bilder: zvg
  • 4/5 Lara Rosi Widmer unterstützt in Nepal verschiedene Projekte. Eines davon ist die «Shree Baluwa Secondary School» mit ihren rund 500 Schülerinnen und Schülern. Ebenfalls unterstützt durch Schweizer Spenden wird das Musikprojekt «Ghorkali Takma Band». Ehemalige Strassenkinder aus dem Kinderheim «Indreni Children» können dort Musik machen. Auf den letzten beiden Nepal-Reisen wurde die Seeländerin von ihrer Tochter Laura Alejandra (17) begleitet. Bilder: zvg
  • 5/5 Fast dreiviertel Jahre sind seit den Erdbeben in Nepal vergangen. Dennoch leben noch immer unzählige Menschen im Freien – wie hier in einer Zeltstadt in Kathmandu, der Hauptstadt des Landes. zvg
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Interview: Carmen Stalder

Lara Rosi Widmer aus Sutz ist im Jahr 2011 zum ersten Mal nach Nepal gereist. Seither hat sie das asiatische Bergland nicht mehr losgelassen. Auf vielen weiteren Reisen ist die 52-Jährige tief in die Kultur Nepals eingetaucht. Dabei hat sie viele tiefe Freundschaften geschlossen. Nach den verheerenden Erdbeben im Frühling des vergangenen Jahres hat sich Lara Rosi Widmer dazu entschlossen, in der Schweiz Geld zu sammeln und damit verschiedene Projekte in Nepal zu unterstützen. Dank ihres Spendenaufrufs können aktuell drei soziale Projekte in Nepal finanziell unterstützt werden. Begleitet wurde sie auf den letzten Reisen von ihrer 17-jährigen Tochter Laura Alejandra. Kurz vor Weihnachten sind die beiden aus Nepal zurückgekehrt.

Lara Rosi Widmer, Sie sind kürzlich aus Nepal zurückgekehrt. Wie sieht die Situation rund acht Monate nach den starken Beben in Nepal aus?

Lara Rosi Widmer: Die Lage ist derzeit katastrophal. Am 20. September hat Nepal eine neue Verfassung in Kraft gesetzt. Da Indien mit verschiedenen Punkten dieser Verfassung nicht einverstanden ist, hat das Land alle Grenzen zu Nepal geschlossen. Offiziell wird dies dementiert. Seit Ende September können jedoch keine Medikamente, kein Benzin und kein Baumaterial mehr ins Land eingeführt werden. Für ein Land, in dem nach dem Erdbeben der Wiederaufbau stattfinden sollte, ist dies verheerend.

Welches sind die sichtbaren Auswirkungen dieses Boykotts?

Es gibt kilometerlange Schlangen von Autos und Töffs, die tagelang für Benzin anstehen. Weil es auch kein Gas mehr gibt, kochen die Menschen auf Feuer. Das sieht zwar romantisch aus, ist es aber überhaupt nicht. Die Häuser der Nepalesen sind voller Rauch. Am schlimmsten ist die Lage in den abgelegenen Dörfern im Himalaya.

Dann ist aktuell die schlechte Versorgungslage die grösste Herausforderung für die Nepalesen?

Ja, das ist das grösste Problem, grösser noch als das Erdbeben selber. Es wird befürchtet, dass Nepal zum ärmsten Land in Südasien wird, noch vor Bangladesch und Indien. Ein Nepalese verdient pro Jahr durchschnittlich 700 Dollar. Das ist unvorstellbar wenig.

Wie sieht es denn vor Ort betreffend der Schäden durch die Erdbeben aus?

Im berühmten Shechen-Kloster in Kathmandu, zu dem ich enge Kontakte habe, sind die Menschen jetzt wirklich am Aufbauen – mithilfe von Sponsoren aus dem Westen. Auch in den Dörfern finden Hilfsaktionen statt. Es sind vor allem die Nepalesen selber, die sich um den Wiederaufbau kümmern. Viele meiner Freunde gehen in die Dörfer, um Wasser,Essen und Zeltblachen zu verteilen. Aber das ist alles privates Engagement.

Sind die internationalen Hilfsorganisationen noch vor Ort?

Hilfswerke wie die Glückskette oder Unicef machen nach wie vor sehr viel. Sie kennen die Situation vor Ort und wissen, dass man mit der korrupten Regierung aufpassen muss. Der Wiederaufbau wird jedoch Jahrzehnte dauern. Es ist erschütternd zu sehen, dass Menschen mitten in Kathmandu immer noch in Zelten leben.

In Nepal herrschen im Winter eisige Temperaturen. Was hat dies für Auswirkungen auf das Leben der Menschen?

Laut Unicef sind über drei Millionen nepalesische Kinder in grosser Gefahr, wegen fehlenden Medikamenten und der Kälte ernsthaft zu erkranken oder gar zu sterben.

Und was wird gegen diesen Zustand unternommen?

Die nepalesische Regierung ist zwar mit Indien am Verhandeln, aber derzeit bleibt es vor allem beim Reden.

Lässt Sie diese Untätigkeit nicht ohnmächtig zurück?

Die schlimme Lage hat mich sehr betroffen gemacht. Diese Leute sind so arm, sie haben einfach nichts. Ein riesiges Problem ist auch die Umweltverschmutzung. Alle sind am Husten, ich selbst komme nach jeder Reise mit einer leichten Bronchitis nach Hause. Immerhin überlege ich mir deswegen nicht ernsthaft, in Kathmandu zu leben. Ich würde krank werden.

Sie haben mit dem Gedanken gespielt, nach Nepal auszuwandern?

Ich habe mich des Öfteren gefragt, wieso ich eigentlich hier in der Schweiz lebe. Manchmal fühle ich mich in Nepal fast mehr zuhause. Von hier aus kann ich aber mit Sicherheit mehr bewirken.

Wie haben Sie geholfen, als Sie im Dezember vor Ort waren?

Mit meinen Freunden habe ich verschiedene Projekte besucht und das in der Schweiz gesammelte Geld abgeliefert. Ich habe extrem gute Kontakte zu Leuten, denen ich vertrauen kann. Die stecken sich das Geld nicht in den eigenen Sack, wie das die Regierung versucht.

Sie haben also vor allem eine Kontrollfunktion?

Für mich hat sich eine ganz spannende Funktion ergeben. Meine nepalesischen Bekannten finden, dass ich inspirierend auf sie wirke. Offensichtlich kann ich sie begeistern und ihnen Hoffnung geben. Und ich konnte dort Menschen zusammenbringen. Das ist ganz speziell: Eine Schweizerin, die in Kathmandu Kontakte unter den Nepalesen schafft.

Wie viel Geld konnten Sie bisher in Nepal investieren?

Rund 150'00 Franken. Geld, das ich von Leuten zusammenbekommen habe sowie meine private finanzielle Unterstützung. Das ist fast alles Ram Hari und seinem Kinderheim zugute gekommen, ein weiterer Teil ging an das Musikprojekt und an eine Schule (siehe Infobox «Die Projekte von Lara Rosi Widmer»).

Warum engagieren Sie sich ausgerechnet in Nepal? Oder anders gesagt, wie erklären Sie sich diese spezielle Verbindung zu den Menschen dort?

Nach buddhistischer Auffassung ist dies ganz klar Karma. Ich glaube an frühere Leben und habe die starke Überzeugung, früher in Nepal gelebt zu haben. Ich habe dort so viele spezielle Sachen erlebt. Eine hinduistische Familie hat mich in einem herzergreifenden Ritual als ihre Tochter aufgenommen. Bei ihr hatte ich das Gefühl, zuhause zu sein. Eine wichtige Rolle spielt auch meine Verbindung zum Buddhismus.

Sind Sie Buddhistin?

Ich würde mich als Buddhistin bezeichnen, obwohl ich mittlerweile Mühe habe mit jeglicher Etikette. Ich habe ganz klar einen buddhistischen Hintergrund, aber bei mir geht das über die Religion hinaus. Mir spielt es keine Rolle, ob jemand Hindu oder Buddhist oder gar nichts ist. Entscheidend ist, wie jemand lebt.

Wie zeigt sich der Buddhismus in Ihrem Alltag?

Mein Leben hat sich mit dem Buddhismus extrem verändert. Ich meditiere jeden Tag. Ich habe einen persönlichen Lama in Kathmandu, den ich auf jeder Reise besuche. Und ich versuche für mich, die Lehren des Buddhismus umzusetzen. Das Wichtigste ist für mich, dass man bei sich hinschaut statt immer bei den anderen. Die Welt ist unser Spiegel: Was wir hinausschicken, kommt zurück.

Was gibt Ihnen denn Ihr Engagement in Nepal persönlich zurück?

Wenn ich zwei Wochen in Nepal bin, dann bin ich zwei Wochen lang echt glücklich. Wie die Nepalesen trotz allem diese grosse Lebensfreude ausstrahlen, finde ich beeindruckend. Sie leben aus vollem Herzen. Wenn ich jeweils am Flughafen in Kathmandu ankomme, laufen mir die Tränen hinunter. Es ist für mich meine Herzensheimat.

Herrscht nach den Erdbeben nicht auch Resignation in der Bevölkerung?

Das kommt auf die Leute und die persönlichen Umstände an. Die Nepalesen sagen, dass es für sie schon immer schwierig war und sie es deshalb auch dieses Mal schaffen. Sie stehen wieder auf und kämpfen weiter.

Können Sie diese positive Einstellung auch für sich persönlich mitnehmen?

Am gleichen Tag, als das zweite grosse Erdbeben stattfand, ist auch mein Ex-Mann und der Vater meiner Tochter Laura an Krebs gestorben. Das war für uns eine ganz schlimme Zeit, in der mir die Lebenseinstellung der Nepalesen geholfen hat. Unser Engagement in Nepal machen wir jetzt auch in seinem Namen weiter. Er hat es bewundert und toll gefunden, dass unsere Tochter mich unterstützt.

Was muss sich verändern, damit Nepal eine bessere Zukunft hat?

Das Wichtigste ist, dass die Situation in Nepal weiterhin thematisiert wird, aktuell besonders dieser Boykott durch Indien. Viele haben das Gefühl, dass durch die Spenden alles wieder gut und aufgebaut ist. Doch dem ist nicht so. Mein persönlicher Beitrag besteht darin, dass Nepal nicht vergessen geht.

Wie schaffen Sie es, die Leute von der Wichtigkeit Ihrer Unterstützung in Nepal zu überzeugen?

Ich möchte niemanden überzeugen – das widerspricht meiner buddhistischen Lebensauffassung. Ich erzähle von Nepal und zeige mit Fotos, was überhaupt los ist. Viele meiner Bekannten verbinden Nepal unterdessen mit meinem Namen. Ich glaube, das genügt.

An Ostern reisen Sie erneut nach Nepal. Ihr Leben ist stark auf Ihr dortiges Engagement fokussiert. Leiden darunter andere Aspekte in Ihrem Alltag?

Das ist eine sehr zentrale Frage, ich muss wirklich auf meine Energie schauen. Die letzte Reise ist gesundheitlich extrem ans Limit gegangen. Ich muss mir bewusst machen, dass ich hier und nicht in Nepal lebe.

Fällt es Ihnen schwer, Distanz zu wahren?

Ja, weil ich wirklich eine ganz enge Verbindung zu Nepal habe. Es ist schwierig, mich da nicht hereinziehen zu lassen. Ich muss mich inzwischen abgrenzen, ich kann nicht auch noch das und das finanzieren. Ich kann nicht ganz Nepal retten.

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Aktuelle Lage in Nepal

Fast dreiviertel Jahre nach den Erdbeben in Nepal sind die Folgen immer noch spür- und sichtbar. Eine Handelsblockade an den indischen Grenzübergängen verschärft die Lage zusätzlich.

Im April und Mai 2015 erschütterten mehrere Erdbeben bis zur Stärke 7,8 das Land Nepal. Die Beben gelten als die tödlichste Katastrophe in der Geschichte des Landes: Insgesamt kamen mehr als 9000 Menschen ums Leben. Über 600 000 Häuser wurden vollständig zerstört, Millionen Menschen wurden obdachlos.

Heute kämpft die Himalaya-Nation nicht nur mit den Folgen des schlimmsten Erdbebens seit acht Jahrzehnten. Das Land leidet zudem unter einer inoffiziellen Handelsblockade: Seit vier Monaten kommen kaum noch Güter über die indische Grenze nach Nepal. Hilfsflüge für die Erdbebenopfer mussten mangels Treibstoff bereits gestoppt werden. Hilfsorganisationen können wegen des fehlenden Benzins für ihre Fahrzeuge kaum Nahrungsmittel und Decken in die vom Erdbeben betroffenen Gebiete ausliefern. Dabei hausen laut den Vereinten Nationen noch immer etwa 200 000 Familien in Notzelten in Höhen von über 1500 Metern, wo der Winter besonders hart ist.

Als Ursache für die geschlossenen indischen Grenzen gilt die neue Verfassung Nepals, die im September in Kraft getreten ist. Die Madhesi, eine nepalesische Volksgruppe mit engen Banden zu Indien, fühlen sich durch die Verfassung politisch geschwächt. Aus Protest blockieren sie nun die Grenzübergänge – teils auch mit Gewalt. cst

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Die Projekte von Lara Rosi Widmer

Die von Lara Rosi Widmer eingenommenen Spendengelder fliessen aktuell in drei verschiedene Projekte in Nepal.

Kinderheim «Indreni Children»

Der 35-jährige Nepalese Ram Hari ist ein enger Freund der Seeländerin. Er leitet zwei Kinderheime mit rund 50 Kindern. Sie stammen aus schwierigen familiären Verhältnissen oder lebten früher auf der Strasse und waren drogenabhängig. Bei den Erdbeben wurde glücklicherweise niemand verletzt. Jedoch musste Ram Hari eines der Kinderhäuser räumen, weil der Besitzer einziehen wollte – dessen Haus war durch das Beben zerstört worden. «Ich habe Ram Hari bei einem früheren Besuch versprochen, sein Projekt zu unterstützen. Zwei Wochen später hat die Erde gebebt – und es war an der Zeit, mein Versprechen einzulösen», sagt Widmer. Nun wird mithilfe der Spendengelder ein neues Kinderhaus gebaut.

Musikprojekt «Ghorkali Takma Band»

Aazeet Dextor und sein Bruder Safic leiten zusammen die «Ghorkali Takma Band». Lara Rosi Widmer hat die beiden über Facebook kennengelernt und anschliessend mit Ram Hari bekannt gemacht. Daraus ist nun ein langfristiges Musikprojekt entstanden: Mit finanzieller Unterstützung aus der Schweiz konnten viele neue Musikinstrumente angeschaffen werden. Einmal wöchentlich geben nun die Musiker der Band den «Indreni Children» Unterricht. «Dieses Projekt liegt mir sehr am Herzen. Die Musik tut den Kindern extrem gut», sagt Widmer.

«Shree Baluwa Secondary School»

Die Schule befindet sich im Bezirk Kavre, einer Region, die besonders stark von den Erdbeben heimgesucht wurde. Ein Schulgebäude wurde beschädigt und muss nun neu aufgebaut werden. Nebst einem Zaun, der die Schule vor wilden Tieren und Dieben schützt, ist auch der Bau von Toiletten dringend notwendig. Aktuell stehen den 500 Kindern dafür nur Löcher im Boden zur Verfügung. Die Schülerinnen und Schüler stammen aus den umliegenden Dörfern der Region und sind 5 bis 18 Jahre alt. «Die Schule möchte ich künftig gerne finanziell unterstützen», sagt Widmer. cst

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Zur Person

Geboren am 11. Oktober 1963.

Ausgebildete Gymnasial- und Sekundarschullehrerin. Seit 2002 vollumfänglich als Übersetzerin (Französisch und Italienisch) in eigenem Büro tätig.

Wohnt zusammen mit Tochter Laura Alejandra (17) und Kater Aladin in Sutz. cst

Info: Wer Lara Rosi Widmer gerne unterstützen möchte, kann ihr mit einer Geldspende, die vollumfänglich den Projekten in Nepal zugute kommt, helfen: Postkonto Rosmarie Widmer, Nr. 31-690881-0, Vermerk «Nepal» und allfällige Angabe, für welches der drei Projekte das Geld eingesetzt werden soll. Weitere Informationen auf Nachfrage: rosi.widmer@bluewin.ch


 

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