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Natur

Im Berner Jura werden bald Wölfe leben

Der Wolf kehrt auf leisen Pfoten in die Schweiz zurück. Im Kanton Jura wurde er bereits gesichtet, vor den Grenzen des Berner Juras wird er kaum Halt machen.

Der Wolf erobert seinen Lebensraum zurück. Dabei sorgt der Heimkehrer für Freude und Ärger zugleich. Bild: WWF

Pierre-Alain Brenzikofer/pl

Wer hätte gedacht, dass das mythische Raubtier so rasch wieder in unseren Breiten heimisch wird? Heute zählen die Behörden rund 150 Wölfe auf Schweizer Boden. Die Reaktionen der Bevölkerung auf die neuen Bewohner sind gespalten. Vor Kurzem wurde ein Exemplar im Kanton Jura gesichtet und wissenschaftlich als Wolf identifiziert.

Zeit für eine Zwischenbilanz mit einem Experten. Anders als im Wallis, wo die Emotionen hochkochen, begegnet der Kanton Bern dem hundeartigen Einwanderer mit pragmatischer Gelassenheit. Klar gibt es auch bei uns entschiedene Gegner der nunmehr geschützten Gattung, wie etwa Grossrat Thomas Knutti mit seiner Vereinigung zum Schutz von Wild und Nutztieren vor Grossraubtieren.

Schadenersatz gefordert

Sébastien Balmer, der oberste Wildhüter für das Seeland und den Berner Jura, verteidigt die rechtlichen Bestimmungen mit Nachdruck und einer Prise Humor: «Wir halten uns strikt an das Konzept Wolf Schweiz. Und weil Bern der beste Kanton der Welt ist, richten wir uns nach der Strategie des Bundesamtes für Umwelt.» Das bedeutet, kurz zusammengefasst, ein Dreistufenmodell: «Wir schützen, wir schrecken ab – und wir schiessen, wenn es keine andere Lösung gibt.» Aufgrund dieser Eskalation mussten sogar die wohlgesinnten Berner Wildhüterinnen eine – milde gesagt – gar zutrauliche Wölfin abschiessen. «Wir stehen vor allem für Auskünfte und Erklärungen zur Verfügung», unterstreicht Balmer. Seine Truppe werte alle Hinweise aus der Bevölkerung aus, bevor sich Gerüchte über die angebliche Präsenz von Wölfen breitmachten. Schliesslich komme es immer wieder zu Verwechslungen mit Hunden wie Huskys oder dem anspruchsvollen Saarlooswolfhund, der seinem wild lebenden Verwandten täuschend ähnlich sieht.

«Bei uns gilt der Wolf als geschützte Tierart, Punkt», bekräftigt Sébastien Balmer. Wenn er Schaden verursacht, spricht die Wildhut mit den Beteiligten, und der Kanton vergütet die entstandenen Kosten. Ist aus ökologischer Sicht ein Abschuss angezeigt, «wird geschossen», so der Chef der Seeländer und bernjurassischen Wildhüter. Er hat vor allem Exemplare im Auge, die zu viele Nutztiere reissen oder sich zu nahe an menschlichen Siedlungen wagen.

Balmer ist nicht erstaunt, dass sich der vierbeinige Jäger in der Schweiz ausbreitet: «Wo der Hirsch einzieht, folgt der Wolf», weiss er. Gibt es denn genügend Hirsche in unseren Wäldern? «Vor 23 Jahren erlegten die Jägerinnen im Kanton Bern etwa 40 Stück, heute beträgt die sogenannte Jagdstrecke rund 780 Exemplare», bestätigt Balmer. Dieser Zuwachs zeigt sich auch im Berner Jura mit Schwerpunkt am Mont Raimeux.

Wie geht Landwirtschaft mit dem Aufkommen der Wölfe um? «Die Tierzucht ist weit verbreitet, und trotzdem verzichtet sie auf den Einsatz von Hirten», bedauert der Berner Wildschützer. Obwohl in der Schweiz viele Menschen von Sozialhilfe lebten, finde sich offenbar niemand, der solche Arbeiten übernehmen wolle. In Italien, wo Hirtinnen beschäftigt werden, sei die Situation umgekehrt: Der Berufsstolz verbiete den «Pastori», einen Wolfriss zu melden, weil sie um ihren Ruf als Profis fürchten. «Bei uns grenzt es an ein Wunder, wenn einzelne Eigentümer ihre Tiere ein Mal pro Woche zu Gesicht bekommen», so Balmer. Bei so wenig Achtsamkeit sei es nicht verwunderlich, dass Ende Sommer nur 800 von 1000 Tieren ins Tal zurückkehrten. Die Schuld am Verlust werde dem Blitzschlag, Krankheiten und «selbstverständlich dem Wolf» in die Schuhe geschoben, so der Berner Verantwortliche.

Sébastien Balmer gerät fast in Rage, wenn er berichtet: «Wussten sie, dass ein sehr hoher Prozentanteil der Schafe im Bündnerland Zürcher Bankern gehören, die sich naturgemäss kaum um ihre Tiere kümmern?» Er missbilligt solche Geschäftsmodelle. Für ihn zählen nur die berufenen Züchterinnen, die bereit sind, in den Herdenschutz zu investieren. «Bei unseren Geländeverhältnissen reichen eine Umzäunung und ein elektrisch geladener Draht völlig aus. Im Tierpark von Vallorbe ist jedenfalls noch nie ein Wolf ausgebüxt», argumentiert Balmer. Zudem gewähre der Bund Beiträge und Unterstützung für die Haltung von Hirtenhunden.

Hauskatzen als Gefahr

Der kantonale Experte hegt trotz seiner Aufgaben im Wildschutz keinen Argwohn gegenüber den scheuen Raubtieren. Für den Aktivismus einiger «Wolfgegner» zeigt er wenig Verständnis: «Ich hasse es, wenn sich Politiker auf dem Rücken der Natur profilieren.» Balmer wirbt für eine sachliche Betrachtung des biologischen Gleichgewichts und erinnert an eine ganz andere, unterschätzte Gefahr für den Artenreichtum: In der Schweiz leben 1,3 Millionen Hauskatzen – erbarmungslose Jägerinnen, die dem Bestand an Schlangen, Amphibien, Vögeln und anderen Kleintieren erheblich schaden.

Ob wir es wollen oder nicht: Der Wolf wird auf leisen Pfoten in unserem Land heimisch. «Solange es Nahrung gibt, wird er bleiben», so der Fachmann. Und Nahrung gibt es für alle, denn die Berner Jägerinnen erlegen zur Regulierung des Bestandes jedes Jahr 7000 Rehe. 3500 weitere kommen bei Unfällen mit Verkehrsmitteln und Landmaschinen um. Und dann bleibt der Wolf: Wer will ihm in seinem ureigenen Lebensraum ein paar Rehe und Hirsche verwehren?

 

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Der Wolf findet im Jura ein Zuhause

Vor zwei Wochen wurde im Kanton Jura ein Wolf gesichtet. Amaury Boillat, der jurassische Inspektor für Wildtiere, hat alle Hände voll zu tun, um Fragen aus der Bevölkerung zu beantworten. «Landwirtschaftskreise sind vorwiegend besorgt, aber nicht alle Kommentare zeigen Ablehnung», stellt der Verantwortliche fest. Er schätzt, dass sich die Anwohnerinnen in zwei gleiche Hälften zwischen Akzeptanz und Skepsis aufteilen. Auch «Extremisten» gibt es in beiden Lagern: Jene, die ein Foto des Canis lupus schiessen wollen, und andere, die sich nicht mehr getrauen, im Wald Pilze zu suchen. Daneben stiften Internet-Aktivisten mit beängstigenden Videos über sibirische Wolfsrudel Unruhe in der Bevölkerung.

Jenseits dieser Reaktionen sind die staatlichen Stellen gefordert, die richtigen Massnahmen zu ergreifen. Amaudry Boillat greift auf Erfahrungswerte zurück, denn bei der Wiederansiedlung des Luchses konnten die Behörden wertvolle Erfahrungen sammeln. «Im Augenblick sprechen wir von einem Individuum. Falls sich ein Rudel bilden sollte, müssten wir Massnahmen treffen. Die Interjurassische Landwirtschaftsstiftung ist beauftragt, Tierhalter zu beraten», erklärt Boillat.

Die Herde gehört nachts in Sicherheit, die Umzäunungen sind zu kontrollieren, und die Eigentümerin begibt sich regelmässig vor Ort. Das gehöre quasi zur Erziehung des misstrauischen Wolfs, fordert der Verantwortliche. Im Kanton Jura gibt es ein paar grosse Schafzüchter, deren Betriebe in der Regel gut ausgerüstet sind. Auch Hunde stehen im Einsatz. Auch die Dienststelle für Landwirtschaft betreut, zur Förderung, drei Pyrenäenberghunde.

Ob die Jurassier dem Wolf einen freundlicheren Empfang bescheren als die Walliser, wird sich zeigen, sagt Amaury Boillat: «Solange nur ein einzelnes Exemplar durch die Gegend streift, wird es kaum Aufstand geben. Aber stellen sie sich vor, eine Meute von Wölfen würde Fohlen unserer symbolträchtigen Feibergerpferde angreifen.» Trotzdem will der Inspektor den Teufel nicht an die Wand malen. Er geht davon aus, dass sich Hobbyzüchter in Gebieten, wo der Wolf umgeht, von ihren Schafen trennen werden. «Die anderen werden den Herdenschutz ausbauen und womöglich Hirtinnen anstellen.»

Im Kanton Jura werden pro Jahr etwa 15 Schadensfälle durch Luchse gemeldet. Als Beutetiere wurden Schafe, Ziegen und ein Zuchthirsch gezählt. «Trotz Wilderei und Verlusten im Strassenverkehr gedeiht die Population der scheuen Raubkatzen», sagt Amaury Boillat. Der Luchs habe es im Gegensatz zum Wolf vorwiegend auf Rehe und Schafe abgesehen, ergänzt der Fachmann. Dennoch bereitet ihm die Besiedlung durch den Wolf, der seit Urzeiten bei uns heimisch war, kein Kopfzerbrechen. «Wir dürfen uns freuen – und ich bin kein romantischer Träumer», ergänzt Boillat. Er rät dem Zuwanderer: «Bewahre deinen Instinkt und lebe glücklich im Verborgenen». pabr/pl

 

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Wie reagiert die Bevölkerung?

Claude Etienne ist als Wildhüter im Berner Jura tätig. Er ist überzeugt, dass der Wolf demnächst in sein Revier einwandern wird, denn der graue Jäger folgt den Hirschpopulationen, die sich bereits am Mont Raimeux und am Mont-Soleil angesiedelt haben.

Weil der Wolf bis zu 100 Kilometer am Tag zurücklegen kann, ist es für Etienne keine Frage, dass der eine oder andere Vierbeiner unsere Region bereits erkundet hat. Zur Gefährdung von Menschen sagt der Fachmann: «Wer im Wald spazieren geht, wird viel eher von einem Elektrovelo angefahren als von einem Wolf gebissen.»

Birgt der Berner Jura genügend Rehe als Nahrung für den Wolf? «Die Jäger sagen nein», meint der Wildhüter mit einem ungläubigen Lächeln. Tatsächlich seien sie nicht imstande, die vorgegebene Anzahl von Rehen zur Regulierung des Bestandes abzuschiessen. Mehr Sorgen bereiten Etienne die Gämsen in der freien Natur. Bei den Schafen seien nur wenige Bestände gefährdet: «Es gibt in Le Fuet einen grossen Zuchtbetrieb, der jedoch gut geschützt ist.»

Im Augenblick sieht es gar nicht nach einem Volksaufstand aus. Claude Etienne ist seit der Sichtung des Wolfs im Jura keine Feindseligkeit gegenüber dem Wolf zu Ohren gekommen. «Klar werden sich nach einer bestätigten Beobachtung alle möglichen Bürger melden und behaupten, das Wildtier mit eigenen Augen erkannt zu haben», witzelt der Wildhüter.

Wildtierexperte Claude Etienne erklärt, dass der Luchs in freier Natur gefährlicher sei als der Wolf. Schliesslich jage der katzenartige Räuber aus dem Hinterhalt. Aber: «Im Volksmund gilt der Wolf seit der Rotkäppchen-Erzählung als blutrünstige Bestie, und den Bären lieben wir als harmloses Kuscheltier», bedauert der Wildhüter.

Bis heute wurden Etienne keine besonderen Aufgaben im Zusammenhang mit dem grauen Einwanderer aufgetragen. «Das Schweizer Raubtiermanagement Kora agiert auf nationaler Ebene. Alle Meldungen und Fotos werden dieser Organisation gemeldet. Wir beobachten die Entwicklung genau und achten auf die Stimmung in der Bevölkerung», so der Experte des Kantons Jura.

Persönlich freut sich Claude Etienne auf die Rückkehr des Wolfs im Berner Jura: «Das wäre ein grosser Sieg für die Lebenskraft der Natur. Aber ich habe dennoch Zweifel an den Reaktionen der Anwohnerinnen.» Der Verantwortliche befürchtet nach angeblichen Sichtungen von Wölfen Publikumsaufläufe und den Einsatz von Drohnen vor Ort. Etienne unterstreicht, dass Wildtiere definitiv Ruhe brauchen. Er ist überzeugt, dass der Bär, der im Bündnerland abgeschossen wurde, Opfer einer Horde von Schaulustigen war, die ihn so lange gejagt hatten, bis er sein Jagdrevier verliess und menschliche Behausungen aufsuchte. pabr/pl

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