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Lyss

«Im Herzen bin ich Bauer»

Jürgen Gerber von der EVP präsidiert in diesem Jahr das Lysser Parlament. Bevor er politisch aktiv wurde, war er Bauer 
im Jura, Lehrer in Kenia und Mitarbeiter in einem internationalen Missionswerk.

«Ich erlebe keine Partei als Feind, sondern sehe sie als Ergänzung»: Jürgen Gerber zuhause in Lyss. Bild: Yann Staffelbach
Sarah Grandjean
 
Jürgen Gerber sitzt auf einem Ledersofa in der Stube, die Beine übereinandergeschlagen. Der 59-Jährige wohnt seit zehn Jahren mit seiner Frau am Falkenweg in Lyss. In einem Regal über dem Sofa reihen sich mehrere ordentlich beschriftete Fotobücher aneinander. Dies sei seine Familienchronik, sagt Gerber, jedes Jahr mache er ein Buch. «Das Leben ist so intensiv und manchmal zerrinnt es einem zwischen den Fingern.» 
 
Gerber ist Mitglied der EVP Lyss-Busswil und seit Anfang dieses Jahres Präsident des Grossen Gemeinderats (GGR) Lyss. So richtig losgehen wird es für ihn erst an der Sitzung Anfang März. Trotzdem galt es für ihn als Präsidenten bereits einige Entscheide zu fällen. So kam es schon bei der ersten Sitzung des Leitenden Ausschusses zu einer Pattsituation. Die GLP und die BDP hatten mittels Postulat gefordert, dass GGR-Sitzungen künftig für die Öffentlichkeit live übertragen werden sollen. Gerber fiel es zu, den Stichentscheid zu fällen, er lehnte das Postulat ab. Das Thema wäre erst im Mai im GGR besprochen worden und bis zu dessen Einführung hätte es noch mehrere Monate gedauert. «Wir alle hoffen, dass die aktuellen Massnahmen bis dahin nicht mehr nötig sein werden», sagt er.
 
Kein klassischer EVPler
 
Gerber hat im Jahr 2009 zum ersten Mal für den GGR kandidiert. Er schaffte es nicht auf Anhieb ins Parlament, rutschte aber im November 2012 für Mirjam Erhardt nach. Ein Jahr darauf wurde er erstmals gewählt. Die letzten sechs Jahre war er Fraktionspräsident, dieses Amt hat er aber per Anfang Jahr an Adrian Ackermann abgegeben.
 
Gerber hatte sich vor seinem Mandat im GGR nie politisch engagiert, dafür aber sozial. Er war Mitglied in zahlreichen Vereinen und Stiftungen, zum Beispiel im Verein Bieler Jugendkulturtage X-Days oder im Verein Emmanuel Home, der ein Kinderheim in Äthiopien betreibt. Auf seinen Reisen in Afrika habe er viel mit Menschen am Rande der Gesellschaft gesprochen, etwa mit Prostituierten, Flüchtlingen, Bettlerinnen oder Drogenabhängigen. «Ich habe viel Not gesehen», so Gerber. Für ihn sei immer klar gewesen: Wer das Glück hat, dass es ihm gut geht, soll sich für das Wohl der Gesellschaft einsetzen.
 
Er bezeichnet sich selbst nicht als klassischen EVP-Politiker. Es sei zwar die Partei, deren Werte am meisten seinen eigenen Überzeugungen entsprechen. Aber während sich die EVP stark für Familien und soziale Anliegen einsetzt, sei ihm als Unternehmensberater die Wirtschaft mindestens genauso wichtig. Denn damit es uns sozial gut gehe, brauche es Arbeitsplätze. 
 
Ein offenes Ohr für andere
 
Gerber sagt von sich selbst, er habe keine grossen politischen Ziele. Als junger Idealist habe er die Vision vom Weltfrieden gehabt, heute glaube er nur noch an das Mögliche. Soll heissen, dass jeder Mensch verantwortungsbewusst handeln und sich im Rahmen seiner Möglichkeiten für andere einsetzen soll.
 
Im GGR ist es ihm wichtig, aufeinander zu hören, um gemeinsam die bestmögliche Entscheidung treffen. Er findet, in Lyss brauche es alle bestehenden Parteien. Denn wenn man Situationen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachte, ergebe sich ein einheitliches Bild und man treffe nachhaltigere Entscheidungen. «Ich bin dankbar für andere Sichtweisen», sagt er. «Ich erlebe keine Partei als Feind, sondern sehe sie als Ergänzung.»
 
Im GGR nimmt er die verschiedenen Parteien als «sehr kooperativ» wahr, auch wenn es vorkomme, dass man aneinandergerate. So gab es zum Beispiel vor vier Jahren im Zusammenhang mit dem Bau der neuen Nespoly-Halle eine Auseinandersetzung zwischen der EVP und der FDP. Die EVP war der Ansicht, in den anderen Lysser Hallen werde nicht so viel Hallenzeit frei wie versprochen. Gerber hat daraus gelernt: «Im Nachhinein würde ich schon früher das Gespräch suchen.»
 
Der grösste Erfolg im GGR in den letzten Jahren ist für ihn die gute Finanzplanung. «Ich fände es schlimm, wenn es jedes Jahr Negativabschlüsse gäbe», sagt er. Und wo besteht in der Gemeinde Handlungsbedarf? Gerber lacht: «Ich bin der Falsche, diese Frage zu beantworten. Ich bin wahrscheinlich eines der zufriedensten GGR-Mitglieder.» Auf so hohem Niveau wolle er nicht jammern. «Es geht uns wirklich gut hier, dafür bin ich dankbar.»
 
Vom Seeland nach Afrika
 
Aufgewachsen ist Gerber in Mont-Tramelan im bernischen Jura. Er stammt aus einer deutschsprachigen Täuferfamilie. Von Beginn der Reformation an waren die Täufer verfolgt, deportiert und umgebracht worden. Während manche ins Ausland flüchteten, siedelten sich andere im damaligen Fürstbistum Basel, dem heutigen Kanton Jura, an.
 
In seiner Jugend hat Gerber seinem Vater und seinem Grossvater bei der Arbeit auf dem Hof geholfen. «Im Herzen bin ich Bauer», sagt er. Später hat er das Lehrerseminar in Biel gemacht, wo er seine Frau kennengelernt hat, die die Parallelklasse besuchte und heute Lehrerin an der Primarschule Aarberg ist. Gerber hat eine Zeit lang in Schüpfen unterrichtet. Dann war er für ein Jahr Lehrer in Kenia an einer Schule für Kinder von Missionaren. «Mit zwei Freunden haben wir sogar das Schulhaus selbst gebaut, mit einem Dach aus Palmblättern», erzählt er. Diese Schule gehörte zu einem internationalen Missionswerk, für das er über 20 Jahre lang gearbeitet hat. In dieser Zeit ist er oft nach Afrika gereist, um Mitarbeitende jener Organisation zu schulen. Heute ist er Unternehmensberater bei der Firma Vitaperspektiv in Heimberg.
 
Über die Pyrenäen nach Spanien
 
Die beruflichen Reisen fehlen ihm, aber privat reist er nach wie vor so viel wie möglich. Er hat eine Schwester in England, einen Bruder in Australien, seine Mutter stammt aus Deutschland und seine Schwiegermutter aus Österreich. «Durch unsere jahrelange Missionstätigkeit haben wir zudem Freunde auf der ganzen Welt», so Gerber. Er schätzt Begegnungen mit Menschen, und es ist ihm wichtig, die Beziehung zu Freunden und Verwandten zu pflegen.
 
Sein liebstes Hobby ist das Wandern. Zusammen mit seiner Frau hat er einen Teil des Jakobswegs gemacht, von den Pyrenäen bis in die spanische Stadt Burgos. Letzten Herbst hätten die beiden von Portugal nach Santiago de Compostela wandern wollen, was Corona jedoch verunmöglichte. Dafür waren sie dann in der Bretagne und sind am Meer entlang gelaufen. Gerber mag ausserdem Musik und engagiert sich in der Kirche.
 
Will nicht in den Gemeinderat
 
Dieses Jahr stehen in Lyss wieder Wahlen an. Vor vier Jahren hat Gerber für den Gemeinderat kandidiert – ob er dies auch heuer wieder tun wird, weiss er noch nicht. Damals war er angetreten, um Grossrätin Christine Schnegg zu unterstützen, er selbst hatte kaum Chancen. Sollte sich auch heuer eine Spitzenkandidatin finden, würde er noch einmal kandidieren. «Aber ich habe keine politischen Ambitionen», so Gerber. Er sei zufrieden mit dem, was er jetzt mache – daran soll sich so schnell nichts ändern.

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