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Tschugg

Ist Alain Berset ein Tschugger?

Zum 800-Jahr-Jubiläum des Dorfes kann man diese überraschende Frage ernsthaft stellen. Eine nicht ganz ernstgemeinte Spurensuche als Beitrag zur Geschichte der Seeländer Gemeinde.

Nach seiner Wahl in den Bundesrat wird Alain Berset am 22. Dezember 2011 in seinem Wohnort Belfaux im Kanton Freiburg empfangen – nicht in Tschugg. Keystone

Beat Kuhn

Die SVP hat unsere Staatsform wegen des Corona-Managements des Bundesrates als Diktatur bezeichnet. Und meinte vor allem Alain Berset, der als Innenminister auch das Bundesamt für Gesundheit unter sich hat. SVP-Parteipräsident Marco Chiesa hat Bersets Borsalino gar als «Gessler-Hut» tituliert. Seinen eleganten Hut hatte sich Berset ursprünglich als Tarnkappe zugelegt, doch mittlerweile ist dieser sein Erkennungsmerkmal.

Besser als die Frage, ob der kahlköpfige Politik- und Wirtschaftswissenschaftler mit Doktorhut ein Diktator mit Gessler-Hut sei, ist aber eigentlich, ob er ein Tschugger ist – und zwar nicht im Sinne von «Polizist», sondern im Sinne von «aus Tschugg stammend». Wobei es auch die Theorie gibt, dass die beiden Bedeutungen miteinander zusammenhängen. Nicht allerdings bei den Sprachwissenschaftlern: Sie vermuten vielmehr, dass das umgangssprachliche Polizisten-Synonym von hebräisch «chockar» («er hat gespäht») über das Jiddische in die Gaunersprache Rotwelsch und dann ins Schweizerdeutsche gelangt sei. Ganz ähnlich komme das andere Polizisten-Synonym «Schmier» vom hebräischen Wort «Schmiro», das «Wächter» bedeute. Wie sehr sich Wörter mit der Zeit verändern, zeigt sich nicht zuletzt auch bei den 800 Jahren seit der ältesten bekannten Erwähnung von Tschugg, die dieses Jahr gefeiert wird: Während der Ort in der Urkunde von 1221 als Shuc bezeichnet wird, heisst er 1420 Shugg und 1578 Dschuck.

Tschugger machen in Bern Karriere
Gemäss der Theorie, wonach zwischen dem Ortsnamen und dem Slangwort «Tschugger» für einen Polizisten sehr wohl ein sprachlicher Zusammenhang besteht, nahmen Berner Patrizier mit Sommerresidenz im Ort einst kräftige Tschugger als Wächter und Leibgarde mit nach Bern. Und daraus soll dann schliesslich die Bezeichnung für die Ordnungshüter geworden sein. Eines der Berner Patriziergeschlechter stammte gemäss Website der Gemeinde ursprünglich aus Tschugg, nämlich die Familie Berseth, welcher der meiste Grundbesitz im Dorf und um das Dorf herum gehörte. Und wer würde bei diesem Namen heutzutage nicht an Alain Berset denken, der wegen Corona in den Medien fast omnipräsent ist? Im wahrsten Sinn «naheliegend» ist das auch, weil die Grenze zum Kanton Freiburg nur wenige Kilometer von Tschugg entfernt ist. Besteht zwischen den freiburgischen Bersets und den bernischen Berseths allenfalls eine Verbindung?

Laut Pierre-André Waeber von der Kommunikationsabteilung der Freiburger Staatskanzlei gibt es «verschiedene Familien mit dem Namen Berset im Kanton». Jene, zu welcher der Bundesrat gehört, stammt aus dem Ort mit dem schönen Namen Misery, was auf Englisch «Elend» heisst. Allerdings ist das nur sein Heimatort. Denn den Wohnsitz hat der 49-jährige Magistrat mit seiner Frau Muriel und den drei Kindern Antoine, Achille und Apolline in seinem Elternhaus in der Gemeinde Belfaux unweit der Kantonshauptstadt – wenn er denn überhaupt zuhause ist: Letztes Jahr war er wegen Corona einmal anderthalb Monate nie bei seiner Familie.

Das einzige Familienwappen Berset, von dem man Kenntnis habe, zeige vermutlich die Füsse einer Holzkrippe, meint der Vertreter der Staatskanzlei. Neben Berset gebe es im Freiburgischen auch die ähnlich klingenden Namen Berchier und Bersier, die ebenfalls manchmal mit dem «Berger» («Hirte») in einen Zusammenhang gebracht würden. Waren die Bersets einst Hirten mit Futterkrippen? Der Berner Familienname Berseth gehe dagegen möglicherweise auf den germanischen Namen Bero zurück, der von «Bär» abgeleitet sei, so Waeber. «Darum haben die Berseths wohl auch den Bären in ihrem Familienwappen.» Fazit: Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass Alain Berset Tschugger Ahnen hat.

Berseths im Waadtland geortet
Waeber zerstört aber nicht bloss diese schöne Illusion, sondern er macht auch noch geltend, dass das Familiennamenbuch der Schweiz als Ursprung der Berseths nicht Tschugg, sondern die waadtländische Gemeinde Saint-George angebe. Muss Tschugg also sogar noch die Berseths hergeben? Nein, beruhigt Stephanie Summermatter vom Historischen Lexikon der Schweiz (HLS), dem dieses Werk administrativ angegliedert ist: Im Familiennamenbuch würden einfach alle Familien aufgeführt, die 1962 in einer Schweizer Gemeinde das Bürgerrecht besessen hätten. «Der Eintrag der Familie Berseth bedeutet also lediglich, dass in Saint-George 1962 noch Angehörige der Familie heimatberechtigt waren und dass dieser Zweig das Bürgerrecht bereits vor 1800 erhalten hat.»

Damit ist allerdings nicht geklärt, warum der Name Berseth im Familiennamenbuch keinen Eintrag zu Tschugg oder Bern hat. Doch da hilft das HLS. Diesem zufolge hatte die aus Tschugg stammende Berner Patrizierfamilie eine durchgehende militärische Tradition von Offizieren und stellte auch viele Landvögte, gelangte aber nie in die obersten Ämter der «Stadt und Republik Bern». 1712 gingen die Familiengüter in Tschugg durch Heirat an die Patrizierfamilie von Steiger – und 1797 auf die gleiche Weise wieder zurück, als ein Imbert Berseth eine Marianne von Steiger ehelichte. Nach dem Sturz des Ancien Régime durch die Franzosen wurde dieser Imbert von rachsüchtigen Bauern überfallen und misshandelt – weil offenbar keine kräftigen Tschugger mehr da waren. Und mit Imberts Tod 1821 starb die Berner Familie aus.

Für den Sommer oder Herbst dieses Jahres plant der Gemeinderat Tschugg eine kleine Feier, eventuell in Verbindung mit der Einweihung des neuen Dorfplatzes beim Schulhaus oder mit der 1.-August-Feier. Für die Detailplanung will der Gemeinderat aber die nächsten Corona-Entscheide des Bundesrates abwarten. Und immer wenn Alain Berset diese verkünden wird, wird man sich in Tschugg wieder an die ausgestorbenen Berseths erinnern.

Stichwörter: Tschugg, Alain Berset

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