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Spardebatte

«Ist da der Aufschrei legitim?»

Andrea Zryd ärgert sich, dass der Kanton Bern Firmen steuerlich entlastet, während er bei Senioren und behinderten Menschen spart. Schlup findet es hingegen richtig, dass «gewisse Korrekturen» gemacht werden.

Andrea Zryd lebt in Magglingen. Die 42-Jährige ist SP-Grossrätin. Sie arbeitet als Sportlehrerin, DIplomtrainerin Swiss Olympic und ist Mutter von zwei Kindern. Bild: zvg
  • Dossier

Andrea Zryd, vorletzte Woche
An: Martin Schlup
Lieber Martin
In den Heimen, bei der Spitex und in den Schulen kürzen und dafür ein paar wenigen Unternehmen mit Millionengewinn die Steuern senken? Das will unsere Stimmbevölkerung nicht, das Nein zur Unternehmensteuer-Senkung war im Kanton Bern eindeutig. Bestimmt akzeptierst du Volksentscheide, nicht wahr? Und wie erklärst du Menschen mit einer Behinderung oder Pensionierten mit einer kleinen AHV-Rente die Kürzungen bei den Ergänzungsleistungen? Wie hältst du es mit den vielen älteren Menschen, die gerne zu Hause bleiben möchten und nun für die Spitex mehr bezahlen sollen? Möchtest du lieber, dass ihnen ein teures Heim bezahlt wird? Stört es dich nicht, dass Berufsschulen auf dem Land wie in Hünibach und auf dem Oeschberg geschlossen werden sollen wegen dem Abbau- oder in Biel die höhere Fachschule Holz empfindlich geschwächt wird? Ich bin gespannt auf deine Antworten.
Lieber Gruss, Andrea


Martin Schlup, vorletzte Woche
An: Andrea Zryd
Liebe Andrea
Merci für deine Gedanken zum Entlastungspaket. So oberflächlich gesehen, könnte ich auch fast deiner Meinung sein. Fakt ist jedoch, dass der Kanton Bern über seinen Verhältnissen lebt. Wir erhalten jedes Jahr über 1,3 Milliarden Franken von anderen Kantonen und leisten uns Institutionen, die sich die Geberkantone selber nicht leisten. Zudem ist der Kanton Bern auf Platz 23 von 26 in der Steuerattraktivität. In einigen Gemeinden zahlen über 25 Prozent der Einwohner nur sehr wenig oder keine Steuern. Wenn wir da nicht in eine totale Negativspirale kommen wollen, müssen wir leider auch auf die Kosten achten und das trifft halt immer jemanden. Bei den Ergänzungsleistungen wird meines Wissens nicht gespart. Zu Hause bleiben ist sicher besser und günstiger als im Heim. Aber im Heim muss ich für meine Leistungsbezüge auch zahlen, da finde ich es zumutbar, wenn ich für Dienstleistungen zu Hause höchstens 15,9 Franken pro Tag selber bezahlen muss, wie dies andere Kantone bereits eingeführt haben. Bei der Bildung wird übrigens unterdurchschnittlich gespart. Die Schliessung von Hünibach und Oeschberg würden sicher schmerzen, fakt ist jedoch, dass es heute anders als bei der Lehrstellenkrise, genügend Lehrstellenplätze für den betreffenden Beruf gibt. Warum also doppelt fahren? Die höhere Fachschule Holz in Biel ist über die Landesgrenzen hinaus bekannt und einzigartig, da will ich selber auch nicht sparen.
Arbeit muss sich lohnen. Ein Sozialhilfebezüger hat bei uns mit allen Integrations- und situationsbedingten Zulagen pro Monat mehr Geld zur Verfügung als eine Person im tiefen Lohnsegment, die täglich zur Arbeit geht. Hier wollen wir 98 Franken pro Monat sparen. Meine Frage an Dich: Ist da der Aufschrei legitim?
Liebe Gruess, Martin


Andrea Zryd, letzte Woche
An: Martin Schlup
Lieber Martin
Genau, Arbeit muss sich lohnen. Darum plädiere ich für Minimallöhne. Es darf nicht sein, dass jemand 100 Prozent arbeitet und die Familie nicht ernähren kann. Ich toleriere weder Sozialhilfebetrug noch Steuerbetrug und helfe diesen zu bekämpfen. Mit der Einwilligung des Einsatzes von Inspektoren habe ich ein Zeichen gesetzt. Aber hilfst du, auch gegen den massiven Steuerbetrug und die Offshore-Steuerflucht zu kämpfen? Wir alle würden wesentlich weniger Steuern bezahlen, ohne in diesen Wochen bei den Ärmsten zu sparen. Ja, bei diesem Sachverhalt schreie ich lauthals auf. Ein nettes Sümmchen von über eine Milliarde Franken würde jährlich unseren Staat stärken. Ehrliche Unternehmungen und auch KMU-Betriebe könnten ernsthaft von Steuersenkungen profitieren.
Heute starten wir mit «sozialem Kahlschlag» in die Sessionswoche, ganz nach dem Motto: weniger Staat für mehr Gewinne von grossen Unternehmungen. Ich helfe konsequent nicht mit.
Lieber Gruss, Andrea


Andrea Zryd, letzte Woche
An: Martin Schlup
Lieber Martin
Hast du keine Antworten auf meinen aufgezeigten Sachverhalt? Nach gestern ist nun klar, dass wir die reichsten Firmen in unserem Kanton steuerlich entlasten, und den daraus resultierenden Ausfall von über 100 Millionen Einnahmen können nur mit massiven Sparmassnahmen gegenfinanziert werden. So hat die bürgerliche Mehrheit gestern mit dem Kahlschlag begonnen: Das bei Alten, Behinderten und Kindern.
Liebe Grüsse, Andrea


Martin Schlup, letzte Woche
An: Andrea Zryd
Salü Andrea
Doch, doch, da hat sich unser Mailverkehr wohl gerade im Universum gekreuzt. Weniger Staat für mehr Gewinne von grossen Unternehmungen tönt wirklich nicht gut und ist so gesehen kein Ziel. Ich selber sehe das etwas differenzierter. 19 Prozent der Firmen zahlen 98 Prozent der Steuern, also kommt da viel Geld für Staatsaufgaben herein, was schlussendlich allen zu gute kommt. Wenn wir diese Unternehmen vergraulen und sie wegziehen, verlieren wir viel mehr. Wir müssen einen schlanken, effizienten Staat mit klaren Aufgaben haben. Zudem müssen sich Steuerbelastung und Kosten die Waage halten, damit wir nicht in eine Negativspirale kommen und zu einem unattraktiven Kanton werden, der grosse Schulden für unsere Kinder anhäuft. Leider haben wir noch viele Doppelspurigkeiten zu beseitigen und sicher schmerzen Kürzungen immer dort, wo es eintrifft. Aber einen sozialen Kahlschlag sehe ich hier nicht. Wir sparen im Durchschnitt 1,7 Prozent und das ist zu verkraften. Sozialhilfe und Steuerbetrug helfe ich natürlich auch zu bekämpfen, das darf nicht sein. Auch einen Mindestlohn für Arbeit braucht es, damit sich eine Familie ernähren kann. Das ist nichts als fair und da sind wir gleicher Meinung. Einige Institutionen wurden spät über Massnahmen orientiert, das mag sein. Es handelt sich da aber meistens um Leistungsverträge, die noch gar nicht definitiv waren. Bei einer dieser Institutionen kommt man sogar auf Beratungskosten von 900 Franken pro Stunde, wenn man die Kosten durch Anzahl Beratungsstunden dividiert. Da ist es höchste Zeit, Korrekturen zu machen. Was meinst du dazu?
Liebe Wintergruess, Martin


Andrea Zryd, letzte Woche
An: Martin Schlup
Lieber Martin
Ich bin erstaunt, dass du Steuerbetrug bekämpfen möchtest und dass du für Mindestlöhne einstehst. Ich habe etwas recherchiert: Sowohl meinen Vorstoss «Regierung soll Steuerhinterziehung reduzieren» als auch eine Motion betreffend Einsatz von Mindestlöhnen hast du im Rat abgelehnt. 1.7 Prozent Sparmasse tönt im ersten Moment nach geringen Einsparungen. Für einige kleine Institutionen bedeutet das einen Drittel oder mehr vom Gesamtbudget. Du hast recht, Beratungskosten von 900 Franken in der Stunde sind nicht erklärbar. Ein Einzelbeispiel! Ihr habt heute gezeigt, dass es euch egal ist, bei Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu sparen und die Debatte boykottiert und dann per Knopfdruck Spitex, ältere Menschen und behinderte Menschen demontiert. Monsieur Schnegg wird sich freuen. Solidarität kümmert ihn trotz seinen christlichen Werten wenig. Für mich gilt der Verfassungstext: Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.
Lieber Gruss, Andrea


Martin Schlup, letzte Woche
An: Andrea Zryd
Ja, liebe Andrea
Doch auch für mich ist Steuerbetrug inakzeptabel und ein Mindestlohn sinnvoll. Gehen aber die Forderungen Richtung bedingungsloses Grundeinkommen bin ich nicht mehr dabei. Der Arbeiter erhält seinen gerechten Lohn, der Arbeitgeber den motivierten Einsatz des Arbeiters, so soll es sein. Dein Vorstoss «Volkssport Steuerhinterziehung» suggeriert, dass jeder Berner ein Steuerhinterzieher ist. Das ging mir, wie dem Regierungsrat selber auch, zu weit. Gestern bei der Debatte war ich immer dabei, es ist aber auch verständlich, dass wenn ein richtiger Antragsmarathon der Gegenseite stattfindet, einige etwas anderes tun. Niemand hat die Debatte boykottiert. Zu den Abstimmungen waren alle da. Regierungsrat Schnegg machen solche Sparübungen auch keinen Spass. In seinem Bereich werden pro Jahr über 2,5 Milliarden Franken eingesetzt, da muss kritisch hingeschaut werden. Nur ein Volk mit genügend Ressourcen kann zu seinen Schwächsten schauen. Heute habt ihr meinen Antrag, im Strafvollzug zu sparen, abgelehnt. Durchschnittlich 10 000, für einzelne gar 60 000 Franken, pro Straftäter und Monat, Wahnsinnszahlen. Für mich schwer verständlich, wenn wir jetzt quer durch die Direktionen gespart haben und dort, ausser der SVP, niemand korrigieren will.
 

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