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«Tinka on Tour»

In Kashgar fühlen wir uns wie auf Safari

Karin Bläuer und ihre Familie streifen durch Kashgar – ein trauriges Beispiel einer nicht erfolgreichen Integration einer kulturell-religiösen Minderheit in China. Der Besuch hinterlässt bei ihnen viele Fragen.

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Karin Bläuer

Punkt sechs Uhr morgens werden wir durch ein Lautsprecher-Plärren geweckt.  Es klingt wie eine angestrengt fröhliche Mischung aus bayrischer Volksmusik und amerikanischem Christmas Song, immer wieder unterbrochen von zackigen Durchsagen; wir verstehen nichts, es erinnert uns aber an den Film «Good morning Vietnam». Müde von den äusserst anstrengenden chinesischen Grenzformalitäten des Vortags drehen wir uns nochmals im Bett um und schlendern später gemütlich zum Frühstücksbuffet, das zu unserem Erstaunen um neun Uhr bereits abgetragen ist. Das Hotel richtet sich nicht nach der Lokalzeit, sondern nach der staatlich angeordneten Bejing-Zeit, die zwei Stunden weiter ist. Mit knurrenden Mägen ziehen wir von dannen und begeben uns – überwacht von unzähligen Kameras – zu einem Bummel durch Kashgar.

Wir sind mittendrin und doch draussen

Wir spazieren durch die makellos sauberen Gassen der pittoresken Altstadt Kashgars. Sich herbstlich verfärbendes Weinlaub rankt an den hübschen Häuserfassaden empor, vor den Eingängen alter Häuser stehen makellose Kübelpflanzen in Tontöpfen, es zwitschern Vögel in ihren Holzkäfigen zwischen den omnipräsenten grünen Mülleimern.

Während wir in den zentralasiatischen Städten oft verzweifelt eine Möglichkeit zur Müllentsorgung gesucht und unseren Abfall gelegentlich mehrere hundert Kilometer mit uns gefahren haben, um ihn dann trotz schlechten Gewissens in einem Hostelgarten verbrennen zu lassen, erscheint die Dichte der quietschgrünen Mülleimer hier fast lächerlich inflationär. Handwerker ziselieren auf dem Boden sitzend Kupferkessel, es wird für den allabendlichen Food-Market vorbereitet; Menschen mit Mundschutz hacken Fleisch, kneten Wurstmasse und formen endlos lange Nudeln.

Alles wirkt sauber und geordnet. Zu sauber. All die Ess-Buden sind normiert, aus demselben, auf alt getrimmtem Blech gearbeitet. Der durchnummerierte Feuerlöscher fehlt an keinem Stand. Der Spaziergang durch die Altstadt wirkt wie ein Besuch im Freilichtmuseum Ballenberg – nur tausende Kilometer weiter östlich.

Die uigurischen Bewohner der Altstadt gehen unter dem Foto-Blitzlicht der Touristenmassen von Han-Chinesen ihrem Tagwerk nach, leben ihr Leben. Kinder spielen auf der Strasse, streitende Buben werden von ihrer Lehrerin getrennt. Wir fühlen uns wie auf einer Art Safari – mittendrin und doch draussen. Der auf den ersten Blick reizenden Altstadt fehlt auf den zweiten der typische Charme stattfindenden Lebens bisher besuchter zentralasiatischer Städte mit streunenden Katzen, zwischen maroden Gebäuden spielender Kinder und mit um die Wette duftender Kebab-Grills und Abfallhaufen.

Kashgar, eine der wichtigsten jahrtausendalten Handelsstätten der Seidenstrasse. Einst eine der besterhaltenen, hauptsächlich aus Lehmhäusern bestehende, Altstadt in Zentralasien. Diese Bauten wurden zum grössten Teil durch die Regierung niedergerissen und stattdessen eine neue Kulisse aufgebaut. Ein Potemkinsches Dorf, sauber, kontrollierbar – und irgendwie charakterlos.

Falsche Bärte und Erziehungslager

Musik erklingt durch die Gassen, wir folgen den Klängen und treffen auf eine uigurische Tanz- und Musikgruppe, die auf einem zentralen Platz einen Volkstanz darbietet. Begeistert werden die Tänzer von den chinesischen Touristen mit all ihren grossen Kameras abgelichtet, einige Chinesinnen wagen sich unter die Tänzer und schwingen unter dem Gekicher ihrer Freundinnen ebenfalls das Tanzbein. Julian und Tabea beobachten das Szenario interessiert – und werden mal wieder ebenfalls zum begehrten Fotosujet. Zuerst von dieser vermeintlich lokaltypischen Darbietung fasziniert, jedoch von Beginn an durch etwas Nichtfassbares irritiert, bemerken wir, dass die typischen Bärte der uigurischen Tänzer lediglich angeklebt sind, Gummibänder ziehen hinter die Ohren. Sie sind zwar ein gutes Imitat, demonstrieren aber in vollem Ausmass das Groteske, das Traurige dieser Stadt.

Ein Bart länger als handbreit bei einem Mann unter 55 Jahren – ein Grund, im besten Fall festgenommen zu werden, im schlechteren ganz von der Bildfläche zu verschwinden und/oder in einem der von der chinesischen Regierung euphemistisch als «Berufsbildungslager» genannten Umerziehungscamps, zu landen.

Ein beispielloser Überwachungsstaat

Als Xinjiang 1949 der Volksrepublik China zugeschlagen wird, stellen die turkstämmigen, muslimischen Uiguren über 80 Prozent der regionalen Bevölkerung. Durch die kontrollierte Ansiedelung von Han-Chinesen ist ihr Anteil auf aktuell unter 45 Prozent gesunken. Seit alters her bestehen zwischen der muslimischen Region Xinjiang mehr Gemeinsamkeiten zu Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan denn zu seinem Nachbarn China. Während diese kulturellen Differenzen seit jeher bestehen, erreichen die Konflikte um 2009 mit zirka 200 Toten ihren Höhepunkt. 2014 sterben weitere Menschen bei radikal-islamisch orientierten Attentaten.

So nachvollziehbar die Anti-Terror-Massnahmen sind, so wenig verständlich ist die «Chinaisierungs-Politik», welche mit nicht minder harter Hand durchgesetzt wird: einerseits durch die Ansiedlung Abertausender von Han Chinesen in den entsprechenden Gebieten, andererseits durch die Implementierung der «modernen Chinesischen Kultur». Diese verbietet den Uiguren die Ausübung ihrer Religion, dutzende Moscheen wurden geschlossen, das Tragen des Hijab untersagt und die Namensgebung der uigurischen Kinder vorgegeben, indem typisch muslimische Namen wie Ali oder Fatima nicht erlaubt sind. Überschreitungen dieser Regeln werden hart bestraft; gemäss chinesischer Daten entfallen auf die Provinz Xinjiang 21 Prozent aller Festnahmen, während deren Bevölkerungsanteil gerade mal 1,5 Prozent aller Chinesen ausmacht.

Bejiing hat in Xinjiang einen beispiellosen Überwachungsstaat etabliert, es ist jederzeit nachvollziehbar, wo, wie lange und mit wem man sich aufhält. Jede noch so kleine Tankstelle lässt Fort Knox lachhaft ungesichert aussehen, kein Schritt in der Stadt ohne in diverse Überwachungskameras zu blicken. Polizeiwachen an jeder Strassenkreuzung, Stacheldraht überall, unzählige Polizisten mit Ausrüstung wie für einen unmittelbar bevorstehenden Strassenkampf, dazwischen immer wieder Quartiersperren mit zu passierenden Kontrollposten.
Bei Eintritt der Dämmerung beginnt der Nachtmarkt zu erwachen. Die erleuchteten Essensstände laden zum Probieren ein, überall dampft und brutzelt es. Interessante Gerichte gehen über den Ladentisch; nach dem inzwischen recht langweilig gewordenen zentralasiatischen Essen ist es ein Fest der Sinne. Selbst die Kinder probieren sich durch all die verschiedenen Spiesschen, die entweder in Öl oder in einer Art Brühe gekocht werden. Das kalte und schwache Reisbier mildert die Schärfe angenehm. Durch das Eintreten der Nacht wird auch die Künstlichkeit der Altstadt Kashgars in das sanfte Licht der Dunkelheit getaucht, die Kameras sind nicht mehr ganz so augenscheinlich, auch wenn die stets patrouillierenden Polizeistreifen präsenter denn je sind. Wüssten wir es nicht besser, könnten wir uns richtig wohl fühlen.

Info: Karin Bläuer, Toralf Nicht und die Zwillinge Tabea und Julian reisen mit ihrem Mercedes Kurzhauber «Tinka» während mindestens neun Monaten in Richtung Südosten. China bereisten sie vor dem Ausbruch des Coronavirus. www.tinkaontour.de

Info: Alle Fernweh-Beiträge sowie weitere Bilder finden Sie unter www.bielertagblatt.ch/fernweh

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