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«Man macht viel, aber ist nicht mehr»

Müslüm ist nicht immer nur lustig. Das will er auch nicht sein. Mit seinem aktuellen Musik-Kabarett kommt er morgen in die Lysser Kufa. Es geht ums Göttliche, aber nicht um Gott.

Im Kabarett könne er sein, was er ist, sagt Semih Yavsaner alias Müslüm. ZVG/Roger Reist
  • Dossier
Interview: Hannah Frei
 
Semih Yavsaner, wer hat Sie das letzte Mal so richtig zum Lachen gebracht?
Semih Yavsaner: Meine vierjährige Tochter. Sie ist ganz aus dem Moment heraus, teils skurril, immer absolut geistesgegenwärtig. Manchmal reagiert sie mit einer Grimasse auf etwas, auf Aussagen von mir. Und ich denke mir nur: Besser kann es ein Gesichtsausdruck nicht treffen. In dieser Mimik steckt eine Art Intelligenz, die wir Erwachsenen kaum mehr haben. Sie ist so organisch, so natürlich, so aus dem Sein heraus. Diese Tiefe bringt mich jedes Mal aufs Neue zum Lachen. Und natürlich gibt es auch auf der Bühne immer wieder Momente, in denen ich gemeinsam mit den Gitarristen Raphael Jakob herzhaft lachen kann. Am meisten über improvisatorische Elemente.
 
Wie viel wird bei Ihrem aktuellen Programm improvisiert?
Schon ziemlich viel, vielleicht 20 bis 25 Prozent.
 
Mit dem Programm «Müsteriüm – eine dramatürkische Odyssee» standen Sie seit Anfang 2020 schon zig Mal auf der Bühne. Improvisieren Sie auch, um sich selbst nicht zu langweilen?
Absolut. Das Repetitive ist überhaupt nicht meins. Wenn ich mich ständig Dinge wiederholen höre, sehe ich mich aus einer anderen Perspektive fast schon als Lügner. Als würde ich etwas sagen, nur um des Wortes Willen. Nicht echt genug. Das Programm erschafft sich über uns, über mich und den Gitarristen und über den Moment.
 
Das klingt tiefgründig, ist das Stück auch lustig?
Nicht zwingend. Es ist aber auch nicht sehr traurig. Eigentlich ist es egal, was es ist. Wichtig ist, dass es ist. Das feiere ich sehr, dieses Mysterium. Abgöttisch. Die sinnentleerte Sprache wird zelebriert. Im Zentrum stehen also nicht die Worte selbst, sondern das, was hinter ihnen steht. Die Absicht, die Essenz.
 
Wie meinen Sie das?
Es gibt Millionen von Arten, jemandem zu sagen, dass man ihn liebt. Aber es gibt nur eine, die aus der Liebe heraus entspringt. Heute sind wir häufig nicht mehr fähig, hinter diese Worte zu blicken. Man nimmt alles wortwörtlich statt göttlich. Müslüm hat ja über die Jahre eine eigene Sprache entwickelt, die zwar keinen Grammatikregeln folgt, aber trotzdem verstanden wird. Wir versuchen, das, was draussen verloren geht, dieses Göttliche, auf der Bühne zu zelebrieren.
 
Welche Beziehung haben Sie zu Gott?
Eine sehr beständige. Also nicht zum Wort an und für sich. Aber ich glaube stark an das, was uns alle verbindet, eine Kraft, die unterstützend ist, die uns trägt. Wir sind ja ein Zellenkollektiv. Und eine unsichtbare Kraft hält uns zusammen. Das ist auch im Stück Thema. Deshalb sprechen wir auf der Bühne nicht von einem Ich, sondern von einem Wir. So macht auch das Gesieze endlich Sinn: Wenn gefragt wird, wie es Ihnen geht, kann man antworten: Uns geht es gut. Wir sollten uns als das Göttliche wieder finden. Gott als Wort hingegen kann ganz schön gefährlich sein.
 
Weshalb?
Dieser Begriff verwehrt den Zugang zum eigentlich Göttlichen. Worte haben eine grosse Macht. Wir assoziieren sofort eine fixe Vorstellung, hier vom Typen in Weiss. Das ist für mich nicht das Göttliche.
 
Was bedeutet für Sie das Göttliche?
Göttlich verbinde ich eher mit etwas Mythologischem, manchmal auch Griechischem, mit mehreren Göttern. Letztlich existiert aber kein Wort, das dieses Göttliche auf den Punkt bringt. Dazu sind wir Menschen nicht fähig. Es erschafft sich über uns, in all seinen schönsten Formen, und wir sind ein Teil davon. Und das Mysterium ist das Ticket dorthin. Auch Müslüm ist ein Mysterium. In dieser Figur kann ich mich sehr gut bewegen.
 
Ist Müslüm auch für Sie ein Mysterium?
Nur, ja. Ich habe über diese Figur sehr viele Erkenntnisse gewonnen. All die Augenblicke, in denen ich mich als Müslüm dem hingebe, was gerade entsteht, hat mich als Semih weitergebracht. Ich lernte beispielsweise, wie sehr ich mich aus dem Fenster lehnen muss, um etwas Neues zu schaffen. Als Müslüm kann ich das wagen. Als Semih ist das schwieriger. Da müsste ich mich ständig rechtfertigen. Je nachdem, was ich bin, je nach akademischem Grad, nach Stellung in der Gesellschaft, hätte mein Wort ein anderes Gewicht. Bei Müslüm spielt das keine Rolle. Er kann sich alles erlauben. Da liegt der Hokuspokus im Fokus. Würde ich das als Semih sagen, hätte das weniger Kraft. Müslüm ist hingegen universell verständlich. Kinder verstehen ihn, Herzchirurgen verstehen ihn. Es gibt sogar Menschen, die sich mit «La Bambele» in den Tod begleiten liessen. Und solche, die zu «La Bambele» ihr Kind geboren haben. Ich hätte nie gedacht, dass diese Figur es soweit bringen würde. Müslüm greift.
 
Sie sprechen vom akademischen Grad, von der Stellung in der Gesellschaft. Wird dies Ihrer Meinung nach zu wichtig genommen?
Absolut. Was bringt einem das Haben, wenn man nicht mehr sein kann? Die Menschen müssen sich zunehmend überlegen, was sie noch machen können, um zu sein. Man macht viel, aber ist nicht mehr. Das zeigen beispielsweise auch die Selbstmordraten, die zahlreichen Depressionen. Für mich als Künstler ist das Sein das Wichtigste. Kunst kann sein.
 
Was muss Kunst denn können?
Dafür gibt es keine Kriterien. Die innerste Absicht und die Worte, oder eben die Kunstwerke, müssen eins werden. Dann berühren sie.
 
Muss Kunst berühren?
Sie muss bewegen, ja. Und sie bewegt sich auch ständig, entwickelt sich, genauso wie wir selbst es tun, ob wir wollen oder nicht.
 
Müslüm gibt es bereits seit 2008. Inwiefern hat er sich in den letzten Jahren entwickelt?
Begonnen hat es mit den Telefonscherzen. Da hatte Müslüm noch kein Gesicht. Mit der Zeit kam dann die Gestalt dazu, das Kostüm. Das bereue ich manchmal ein wenig.
 
Weshalb?
Meine Haut leidet schon extrem unter der Verkleidung. Schon nur wegen des Leims für den Bart und die Monobraue. Aber das Kostüm hat natürlich auch Wiedererkennungswert.
 
Machte Müslüm auch einen innerlichen Wandel durch?
Ja, er hat begonnen, ein Eigenleben zu führen, das sich abseits der Klischees abspielt. Er macht, worauf er Lust hat. Anfangs waren es Telefonscherze, später kleinere Theaterauftritte, dann ein paar Hauptrollen, dann Musikvideos, dann Fernsehen, und nun machen wir Kabarett.
 
Weshalb Kabarett?
Kabarett initiiert im Idealfall das in uns schlummernde subversive Gedankengut. Und bei Kabarett kommen all die Disziplinen zusammen: Gesellschaftskritik, Körperlichkeit, Musik, Tanz, Witz, das Improvisatorische, der Austausch mit dem Publikum. Kabarett macht so vieles möglich. Da können ich und Raphael Jakob sein, was wir sind.
 
Ist Kabarett demnach tiefgründiger als Stand-up Comedy?
Massiv. Es ist viel intimer. Stand-up ist eine riesen Kunst, aber nicht meine. Ich möchte nicht tagein tagaus genau dasselbe Programm spielen. Da hätte ich eine schwere Depression. Ich will die Leute verwirren, philosophisch sein. Ich will nicht einfach Witze über Erdogan, Dürüm und meine Frau am Herd machen. Kabarett muss nicht schubladisierbar sein. Stand-up hingegen schon. Kabarett kann etwas initiieren, dass aus dem Austausch zwischen uns auf der Bühne und dem Publikum entsteht. Die Leute vergessen ihre Alltagssorgen. Sie sind. Das ist das Momentum, das Müsteriüm.
 
Info: Müslüm mit «Müsteriüm – eine dramatürkische Odyssee», morgen, 20 Uhr, Kufa Lyss, Werdtstrasse 17, Lyss; Tickets und Infos unter www.kufa.ch

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