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Mein Montag

Manchmal zeigt sie ihren Schülern ihr Zeugnis von früher – das ist nicht rosig

Als Jugendliche wusste Verena Rätz nicht recht, was aus ihr werden soll. Für den Semer entschied sie sich nur, weil es dort viele musische Fächer gab. Inzwischen unterrichtet Rätz seit fast 40 Jahren in Lyss. Doch ohne Pausen hätte das nicht funktioniert.

Die 58-Jährige unterrichtet zurzeit die 6. Klasse im Schulhaus an der Herrengasse in Lyss. Yann Staffelbach
  • Dossier
Aufgezeichnet: Hannah Frei
 
Manchmal denken die Leute, dass ich unterrichte, weil ich alle Kinder mag. Das stimmt so nicht. Vielmehr sehe ich bei jedem Kind liebenswerte Züge. Positives und Einzigartiges haben sie alle. Wenn ich eine Klasse neu übernehme, dann muss sich die Beziehung erst aufbauen. Mit der Zeit werde ich dann zur Löwin, die Kinder – natürlich auf einer professionellen Ebene – zu meinen. Eine Klasse abzugeben ist für mich daher auch immer schwierig. Ich unterrichte eine Klasse meist zwei Jahre lang, 5. und 6. Klasse, danach muss ich sie ziehen lassen.
 
Ich unterrichte schon seit 37 Jahren, anfangs hatte ich die 1. und 2. Klasse, heute die Mittelstufe, 5. und 6. Klasse. Seit einigen Jahren arbeite ich im Schulhaus an der Herrengasse in Lyss. Ich war schon an allen Lysser Schulen Lehrerin. Und in all diesen Jahren wurde ich immer weniger Lehrkraft und immer mehr Unterrichtscoach. Frontalunterricht steht nicht mehr im Vordergrund. Vielmehr geht es darum, jedes Kind abzuholen und individuell zu fördern. Alle dürfen in ihrem Tempo, nach ihren Möglichkeiten unterwegs sein. Es sollen alle möglichst selbst denken, selbst hinterfragen. Dieser Ansatz gefällt mir. Ich gab den Kindern ohnehin immer viele Freiheiten, viel Raum, um sich zu entdecken und zu entwickeln.
 
Ich bin in Scheunenberg bei Wengi aufgewachsen, von der 1. bis zur 4. Klasse wurden alle gemeinsam unterrichtet. Es folgte die Sekundarschule in Rapperswil und später in Lyss. Und ich hatte wirklich keine guten Noten. Manchmal zeige ich mein Zeugnis meinen Schülerinnen und Schülern. So kann ich sagen: Schaut her, auch aus mir ist etwas geworden.
Weshalb ich Lehrerin geworden bin? Das frage ich mich manchmal auch. Mein Bruder sagt, ich hätte ihn schon als Kind geplagt, mit «Schülerlen». Als es um die Berufswahl ging, wusste ich nicht recht, was ich machen soll. Als Jugendliche war ich ziemlich wild, habe vieles ausprobiert, wusste nicht recht, wohin mit mir. Meine drei Töchter, alle mittlerweile erwachsen, sind da viel braver – und nein, dass meine ich nicht nur. Damals sagten sie mir, ich sei recht intelligent, ich soll entweder ans Gymnasium oder an den Semer. Ich habe mich für den Semer entschieden, weil die Ausbildung mehr musische Fächer beinhaltete. Musik mochte ich schon immer, ich spielte Flöte. Für ein Klavier waren wir zu arm. Den Semer habe ich auch nur dank eines Stipendiums machen können.
Als junge Lehrerin wurde es mir auf einmal einfach zu viel. Ich hatte ein Burnout, musste pausieren. Die Schulen waren damals noch nicht so gut geführt. Heute schaut die Schulleitung zu dir, du erhältst Hilfe, wenn etwas nicht geht. Das ist sehr viel wert. Gut möglich, dass mir das Burnout erspart geblieben wäre, hätte ich damals eine solche Unterstützung gehabt wie heute.
 
Wenn ich an meine Anfänge denke, muss ich manchmal lachen: Wir mussten alles auf Matrizen schreiben, ich habe den Geruch immer noch in der Nase. Das ist heute kaum mehr vorstellbar. Es war sehr mühsam. Die Digitalisierung empfinde ich als extrem entlastend. Man hat die Unterlagen jederzeit zur Hand, muss nicht mehr von einer Bibliothek zur nächsten. Dem Schulmaterial muss man nicht mehr hinterherrennen.
 
Heute starten meine Tage eigentlich immer gleich: Am Morgen brauche ich viel Zeit, um wach zu werden und mich vorzubereiten. Ich stehe früh auf, trinke zwei Kaffees, und bin dann mindestens eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn in der Schule. So kann ich mir Zeit nehmen, um alles bereitzulegen. Ich begrüsse immer jedes Kind beim Eingang. Wir geben uns nicht die Faust oder den Fuss, sondern schauen uns in die Augen. Diese Begrüssung ist mir sehr wichtig.
 
Dann setzen wir uns in den Kreis, erzählen vom Wochenende, feiern Geburtstage, sprechen über das, was an diesem Tag passieren wird. Danach startet der reguläre Unterricht. Ich bin Klassenlehrerin und gebe alle Fächer ausser Mathematik und Sport.
 
In den Lehrerberuf bin ich hineingewachsen. Es dauerte sehr lange, bis ich glaubte, eine gute Lehrerin zu sein. Mit 16 sagten sie mir bei der Berufsberatung, ich sei nicht kreativ. Das habe ich bestimmt 20 Jahre lang geglaubt. Mit solchen Aussagen muss man wirklich vorsichtig sein. Ich achte sehr darauf, dass ich keine solchen mache.
Im ersten Teil meiner Laufbahn war ich noch sehr unsicher. Lange wollte ich auch keine Studenten begleiten, weil ich der Überzeugung war, nicht gut genug zu sein, um ihnen das Richtige beizubringen. Heute bin ich davon überzeugt, dass ich eine gute Lehrerin bin. Was zu diesem Wandel geführt hat, weiss ich gar nicht recht. Es war wohl die Zeit, die Erfahrung, eine neue Gelassenheit, eine andere Perspektive.
 
Meine älteste Tochter Nina ist ebenfalls Lehrerin, sie arbeitet sogar an derselben Schule. Ich finde das cool und bin sehr stolz auf sie. Wir kommen nicht aus einer Lehrer-Dynastie. Dass sie nun doch denselben Weg wie ich eingeschlagen hat, zeigt mir, dass ich wohl irgendwas richtig gemacht haben muss. In der Schule gehen wir sehr professionell miteinander um. Ich muss sie nicht bemuttern, sie sich nicht für mich schämen. Geht es jedoch einer von uns nicht gut, ist es für die andere schwierig, professionell zu bleiben. Da würden wir uns gerne einfach in den Arm nehmen. Ausserhalb der Schule haben wir eine Regel: An Familientreffen dürfen wir maximal zehn Minuten über die Schule sprechen. Sonst langweilt sich der Rest der Familie bald.
 
Abschalten kann ich in der Natur am besten. Wir haben einen Hund, ich und mein Mann gehen gerne gemeinsam mit ihm spazieren. Und seit einem halben Jahr besitze ich ein E-Bike. Ich hätte nicht gedacht, dass mir Fahrradfahren einmal so viel Spass machen wird. Aber nun fahren ich und mein Mann auch manchmal gemeinsam nach Bern an die YB-Matches. Das Hobby haben wir uns gemeinsam ausgesucht. Wir sind nun seit über 30 Jahren verheiratet. Da muss man schon hin und wieder an der Beziehung arbeiten. Vor ein paar Jahren fragten wir uns, was wir denn gemeinsam erleben wollen, was uns beiden Spass macht. Mein Mann spielt schon lange selber Fussball, früher ging ich häufig an seine Matches. So sagten wir uns: Weshalb nicht gemeinsam die YB-Matches schauen gehen?
 
Mein Traum wäre es, ein «Alphüttli» zu kaufen und es zu renovieren. Aber mein Mann hat andere Träume. Er reist gerne. Ich auch, komme aber auch immer gerne wieder zurück. Grundsätzlich bin ich aber sehr zufrieden. Was mich trägt, ist mein Glaube an Gott. Er rückt ins Zentrum, gerade wenn es schwierig ist. Unsere Familie ist wunderbar, wir haben einen starken Zusammenhalt. Was will man mehr?

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