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Chlorothalonil

Morgen blickt die Schweiz nach Studen

Morgen entscheiden Vertreter von 20 Seeländer Gemeinden in Studen, ob sie ihr Trinkwasser künftig mittels Filter von Chlorothalonil-Rückständen befreien wollen. Der Entscheid ist ein Signal an das ganze Land.
Bei einem Ja übernimmt die Seeländer Wasserversorgung eine Pionierrolle – denn andere Regionen kämpfen mit demselben Problem.

Der Wasserturm in Gimmiz ist das wichtigste Standbein der Seeländer Wasserversorgung. Bild: Beat Mathys

Cedric Fröhlich

Studen, Restaurant Florida, Pink-Flamingo-Saal. Die Abgeordneten treffen sich in einer Pizzeria, um den Entscheid zu fällen, der für den Rest des Landes zum Vorbild werden könnte. Dort verhandeln sie morgen den Umgang mit den Altlasten des verbotenen Pflanzenschutzmittels Chlorothalonil. Und mit dessen Rückständen im Trinkwasser von 20 Seeländer Gemeinden. Die Seeländische Wasserversorgung (SWG) ist ein Verbund dieser Gemeinden mitten in der Gemüsekammer der Schweiz. Deren Vorstand möchte dem Problem mit einem für die Schweiz bislang einmaligen Projekt begegnen: Mittels einer Umkehrosmose-Anlage soll das Wasser gereinigt werden.

Das Unterfangen ist ambitioniert – und umstritten. Die Kosten von rund zwei Millionen Franken sind das eine. Viel mehr aber geht es um unterschiedliche Weltanschauungen. Hier, in diesem Epizentrum. Wo Umweltschutz und Intensivlandwirtschaft, Konsum und eine politisch aufgeladene Stimmung zusammenkommen.

Urs Lanz ist Präsident der SWG, ein BDP-Mann, Notar und Anwalt. Er war während 14 Jahren Gemeindepräsident von Studen und bezeichnet sich als «echten Milizler». Er fühle sich verpflichtet zu handeln, sagt er. Und zwar jetzt. «Vielerorts wird auf Zeit gespielt. Es geht um Geld. Die Bauern wollen Erträge, die Gemeinden möglichst nichts ausgeben, und die Agrarindustrie will ihre Produkte verkaufen.»

Dabei sei es ganz einfach: «Es ist unsere Aufgabe, genügend Wasser in guter Qualität zu liefern.» Das heisst? «Wasser, das der Lebensmittelgesetzgebung entspricht.» Eine andere Lösung als den Filter sieht Lanz nicht. «Wir können noch so oft messen, wir erreichen die Werte momentan einfach nicht.»

Er glaubt, dass eine Mehrheit der Delegierten morgen für den Filter stimmen wird. Ganz sicher ist er sich nicht. Die Signalwirkung des Entscheids, sie schüchtere den einen oder die andere eventuell ein.

 

0,1 Mikrogramm – die Krux

Chlorothalonil ist zur Chiffre geworden für eine Auseinandersetzung, die den politischen Diskurs bald massgeblich mitbestimmt: Das Land stimmt 2021 über zwei Initiativen ab, die den Einsatz von Pestiziden und Fungiziden teilweise stark einschränken möchten – oder gar ganz verbieten. Das Fungizid des Agrar-Giganten Syngenta kam seit den 1970er-Jahren auf Schweizer Feldern zum Einsatz. Für viele Landwirte war es ein Garant für Ertrag. Aber diese Sicherheit, sie hatte ihren Preis.

Nach Untersuchungen bezeichnete zunächst die EU-Kommission und im Frühling 2019 auch die Eidgenossenschaft Chlorothalonil und dessen Abbaustoffe – sogenannte Metaboliten – als «wahrscheinlich krebserregend» (das BT berichtete). Der Bund belegte chlorothalonilhaltige Produkte per 1. Januar 2020 mit einem Bann. Gleichzeitig senkte er die zulässigen Höchstwerte in Lebensmitteln teilweise drastisch. Für Trinkwasser gilt seither eine Obergrenze von 0,1 Mikrogramm pro Liter. Dieser neue Wert ist die Krux am Ganzen. Denn gerade in Gegenden, wo Chlorothalonil grosszügig – und völlig legal – gespritzt wurde, haben sich Depots gebildet. In den Böden sind Stoffe gebunkert, die mit jedem Niederschlag und nur langsam ausgewaschen werden. Wie lange es dauert, bis die Böden die Rückstände verdaut haben, kann heute niemand sagen. Gemäss verschiedenen Expertinnen und Experten dürften es eher Jahrzehnte denn Jahre sein.

Solange diese Verdauung im Gang ist, landen die Stoffe fast zwangsläufig im Grundwasser. Und damit in den Reservoirs, die diesem Land den Ruf eines «Wasserschlosses» eingebracht haben, die eine zentrale Rolle bei der Versorgung spielen. Rasch einmal stellte sich die Frage: Wie viel Chlorothalonil fliesst eigentlich in den Wasserfassungen und Pumpwerken der Schweiz, in unseren Trinkwasserleitungen?

Im Februar zeigten Recherchen der Tamedia-Zeitungen, gestützt auf amtliche Listen und Dokumente, die erst mittels Öffentlichkeitsgesuch publik wurden: Allein im Kanton Bern beziehen mehr als 200 000 Menschen in über 50 Gemeinden Wasser, das den lebensmittelrechtlichen Vorgaben nicht genügt. Die Chloro-
thalonil-Höchstwerte wurden in manchen Gegenden gar massiv überschritten.

Für die Konsumentinnen und Konsumenten bestehe keine Gefahr, betonen die Behörden. Aber darum geht es eigentlich gar nicht: Es geht um eine Wahl, die keine ist. Anders als das schmuddelige Restaurant, das man meiden kann, führt kein Weg am hauseigenen Wasserhahn vorbei.

 

Im Zentrum – Roman Wiget

Die hohen Werte setzen allen voran die Wasserversorger unter Zugzwang. Ihnen gewährte der Bund mit dem Chlorothalonil-Verbot eine Galgenfrist: Zwei Jahre, dann müssen die Werte im grünen Bereich sein. Eine Frist, die in Ausnahmefällen auf vier Jahre gestreckt werden kann. Roman Wiget ist der Geschäftsführer der SWG und ein Mann, der in der Diskussion rund um Chlorothalonil stets klare Position bezogen hat. Er liess Höchstwertüberschreitungen publizieren, obschon ihn niemand danach fragte. Er tritt als Befürworter eines rigideren Umgangs mit Pflanzenschutzmitteln auf. Der Filter war Wigets Idee. Er führte einen Pilotversuch durch und ging damit an die Öffentlichkeit. Für ihn ist das Unterfangen alternativlos. Die SWG verfüge nicht über genügend «saubere» Wasserreserven, um sie mit dem verunreinigten Wasser zu mischen.

Mit seinen Positionen machte er sich nicht nur Freunde. Der nationale Fachverband für Wasser-, Gas- und Fernwärmeversorger, in dem Wiget für verschiedene Arbeitsgruppen tätig war, trennte sich von ihm. Zu politisch war er, zu viel der Kritik an den politischen Positionen des Verbands übte er der Verbandsspitze. Er handle übereilt, heisst es zudem aus gewissen Gemeindehäusern des Seelands. Dass er das Chlorothalonil-Verbot und die Initiativen befürwortet, nimmt man ihm hier übel.

Damit konfrontiert, antwortet Wiget auf zweierlei Arten: mit Ungeduld. «Das Verbot gilt. Es bringt nichts, die Frist auszusitzen und zu hoffen, dass sich das Problem in Luft auflöst.» Und mit Verständnis: «Ja, es ist schwierig für die Landwirte.» Die Bauern und die Wasserversorger, das sei eine «Schicksalsgemeinschaft». Und ja, diese Gemeinschaft sei gefährdet, wegen der politischen Parolen und ideologischen Gräben. Wiget erzählt von Konsumentinnen und Konsumenten, die mit Erwartungen und Hoffnungen an ihn herantreten. Wiget steht im Auge des Sturms, zwischen Ämtern, der Politik und der Bevölkerung. Er ist Vermittler und Antreiber zugleich. Eine Rolle, die mit Druck einhergeht.

 

Im Kreuzfeuer – die Landwirte

Die Kritik an Wiget ist auch Ausdruck neuer Realitäten, mit denen sich ein ganzer Berufsstand zunehmend konfrontiert sieht: die Landwirte. Weil sie nicht mehr spritzen können, was sich lange bewährt hat. Weil sie alte Sicherheiten verlieren. Viele fühlen sich in ein falsches Licht gerückt, angeprangert, als Verschmutzer, als Beschuldigte. Da sind Existenzängste, gepaart mit einer fast reflexhaften Abwehrhaltung. Gegen das Verbot. Gegen die Vorwürfe der Konsumenten, die heute aufheulen und morgen ein perfektes Rüebli aus der Migros wollen. Und gegen den Filter.

Vor allem im südlichen Zipfel des Gemeindeverbandes hat sich Widerstand gegen das Projekt formiert. Zum Beispiel in Walperswil und Bühl, Epsach und Hagneck. Ihre Gemeindepräsidenten haben sich im Vorfeld öffentlich für ein Nein starkgemacht. In einem beispiellosen Vorgehen stellt dieser Block gar einen eigenen Kandidaten für eine ebenfalls anstehende Vorstandswahl in der SWG auf. Und so kommt es morgen tatsächlich auch zu einer Kampfwahl um ein frei gewordenes Mandat. Walperswil, von dessen Gemeindegebiet rund 75 Prozent des Trinkwassers des Verbundes stammen, möchte Einsitz im Gremium.

Christian Mathys ist Gemeindepräsident in Walperswil, einer landwirtschaftlich geprägten Gemeinde. Der SVP-Mann hält den Filter für einen «Schnellschuss».

Und er sieht sich und die seinen unter Beschuss. «Vor allem die jungen Landwirte, um sie mache ich mir grosse Sorgen.» Immer höhere Anforderungen, immer mehr Auflagen, das bringe manche um ihre Existenzgrundlage.

Auf Walperswiler Boden laufen heute Projekte um nitratfreie Landwirtschaft, weniger Pflanzenschutzmittel. Ihm fehle der Fokus für diese, die andere Seite, der ganzen Geschichte. «Es ist nicht fair, ständig auf der Landwirtschaft herumzuhacken.» So wie Mathys geht es im Agrar-Kerngebiet einigen. Sie fühlen sich überrollt vom Tempo der Geschehnisse. In Gesprächen geht es oft bald nicht mehr um das eigentliche Geschäft, den Filter. Sondern um Wertschätzung, also um ein Gefühl.

Mathys fühlt sich durch Wigets mediale Präsenz auch ein Stück weit provoziert. Dieses «Vorpreschen», wie er es nennt, es entspricht nicht seinem eigenen Naturell. Darum soll sein Walperswil, in dem er seit 16 Jahren Gemeindepräsident ist, mehr Einfluss im Wasserverbund erhalten. Trotz all der Skepsis betont Mathys: «Wir wollen nicht a priori verhindern, dass die Anlage jemals gebaut wird.» Aber er will Zeit gewinnen. «Wenn wir in drei Jahren zum Schluss kommen, dass es wirklich keine Alternative gibt, dann werden auch wir dem Projekt zustimmen.»

Bei alldem wird man den Eindruck nicht los, dass es dem Mann um etwas anderes geht. Mathys spricht auch vom Gerichtsfall, den die Syngenta gegen den Bund führt, von der Hoffnung, dass sich die Höchstwerte und Verbote noch irgendwie revidieren lassen. Das Argumentarium des Widerstands, es liefert einen Vorgeschmack auf das, was da kommt: Wie wird der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln hierzulande in Zukunft aussehen?

Fakt ist aber: In Studen sitzt nicht der Bauernstand auf der Anklagebank. Es geht um einen Filter.

 

Ja oder Nein – das Signal

Weisungen gaben auch die übrigen Gemeinden ihren Delegierten auf den Weg. Im Norden und Osten ist die Zustimmung grösser. «Nur dank des Vorpreschens reden wir hier mittlerweile über eine konkrete Lösung.» So sagt es Jürg Räber (SP plus), er ist Gemeindepräsident von Orpund, einer Gemeinde im östlichen Teil des Verbunds. Orpund wird für die Anlage stimmen. Räber aber kann die Zweifel der anderen verstehen. «Es geht tatsächlich sehr schnell.» Aber jemand müsse den Anfang machen.

Wasserversorger, die handeln müssen. Bauern, die zuwarten wollen. Diese Gemengelage tritt morgen offen zutage. Einig sind sich die Lager, das zeigen Gespräche mit den Menschen, die im Seeland wohnen, politische Ämter innehaben, die hier ihre Felder bestellen: Sie wollen alle sauberes Wasser.

Wie das gesamte Mittelland ist das Seeland mit seiner Landwirtschaft ein nationaler Chlorothalonil-Hotspot. Schnippisch ist von der «Pestizid-Hölle» der Schweiz die Rede. Allerdings war man hier, ganz anders als in vielen anderen landwirtschaftlichen Regionen, transparent, was Höchstwertüberschreitungen und Chlorothalonil betrifft.

Morgen stimmen sie also darüber ab, ob sie in einem ihrer beiden Fassungsgebiete eine Filteranlage einbauen wollen. Bislang gilt in der Schweiz ein eiserner Grundsatz: Wir bereiten unser Trinkwasser nicht auf.

In Studen fällt ein richtungsweisender Entscheid. So oder so. Ein Ja zum Filter wäre ein Signal an den Rest des Landes. Ein Nein auch.

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