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Moutier

Moutier, gefangen zwischen den Fronten

Im Kanton Bern bleiben? Den Übertritt in den Kanton Jura wagen? Die Meinungen in Moutier sind geteilt. Wer den Austritt aus dem Kanton Bern fordert, argumentiert oft mit dem Herz, mit der Verbundenheit zur frankophonen Kultur. Wer den Verbleib im Kanton Bern vorzieht, entscheidet meist mit dem Kopf, aus wirtschaftlichen Gründen.

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  • Dossier

Lotti Teuscher

Restaurants stehen neben Boutiquen und Versicherungen, historische Häuser stehen in der Nachbarschaft von Zweckbauten aus den 60er- und 70er-Jahren. Auf den Strassen dominieren Autofahrer, Fussgänger sind nur vereinzelt unterwegs. Die Kirchenglocken läuten gegen das Rattern der Autos auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Rathaus an. Ein junger Mann spaziert vorbei und grüsst mit einem Lächeln. Ist Moutier eine Gemeinde im Jura wie viele andere? Es scheint so.

Nein! Moutier ist eine Enklave, das Städtchen ist die letzte Bastion der Bewegung «Jura libre». Während alle anderen Gemeinden im Berner Jura 2013 mit über 70 Prozent Ja-Stimmen entschieden, im Kanton Bern zu verblieben, wollten sich die Einwohner von Moutier mit 55 Prozent Nein-Stimmen fast ebenso entschieden verabschieden. Nächsten Juni werden sie nochmals über die Kantonszugehörigkeit abstimmen (siehe Zweittext).

Frage der frankophonen Kultur

Romano Silva* hat zu dieser Frage nichts zu sagen, obwohl er in Moutier lebt, seit er fünf Jahre alt ist. Dennoch hat er eine dezidierte Meinung: «Wir sprechen französisch und nicht deutsch», sagt er. «Die Gemeinden hier heissen Moutier oder Crémines und nicht Täuffelen oder Schwadernau. Moutier hat mehr Beziehungen zu Delémont als zu Bern. Wir sind Jurassier und keine Berner.» Kurz, so Silva, sei es eine Frage der frankophonen Kultur, sich dem Kanton Jura anzuschliessen. Gegen die Politik der Berner Regierung habe aber er nichts – er kenne sie schlicht nicht.

In der Bäckerei mit angeschlossenem Café auf der gegenüberliegenden Strassenseite will sich niemand zur Abstimmung äussern: «Weil wir Geschäftsleute sind.» Gehen die Emotionen somit immer noch so hoch wie während der 70er-, 80er- und frühen 90er-Jahre, als sich Sangliers und Béliers erbittert bekämpften? Ist es gefährlich, sich öffentlich zu äussern?

Heute nicht mehr, meinen die Befragten. Die Rebellen von einst sind älter und ruhiger geworden, die jüngeren individualistischer: Sie beschäftigen sich eher mit ihrer eigenen Zukunft als jener Moutiers. Beide Parteien verteidigen zwar ihre Haltung, aber mit Worten statt mit Anschlägen. Er hoffe, sagt Bertrand Dubois* aus Moutier, dass dies bis zur Abstimmung im Juni so bleibe.

Anonyme Flyer im Briefkasten

Statt wie früher Brunnen zu sprengen oder Brücken anzuzünden, werden heute Flugblätter in die Briefkästen geworfen. Anonym. «Darauf stehen lauter Lügen», sagt Dubois: «Die Befürworter des Kantonswechsels schreiben, dass alles gut werde. Sie behaupten, dass wir uns vom Kanton Bern erwischen lassen, wenn wir gegen den Wechsel sind.»

Gefangen zwischen diesen beiden Fronten, so Dubois, habe sich Moutier zur Schlafstadt entwickelt. Der Industrie gehe es schlecht, viele Geschäfte müssten schliessen: «Schauen Sie, jetzt ist Mittag, aber auf der Strasse bewegt sich nichts. Sehen Sie sich mal in Delémont um – diese Stadt ist viel lebendiger.» Vielleicht, sinniert Dubois, wäre der Übertritt in den Kanton Jura ein Weckruf. Der Kanton habe zudem versprochen, Teile der Verwaltung in Moutier anzusiedeln.

Überraschungsbesuch am Arbeitsplatz von Jean-Jaques Clémençon, einem der neun Gemeinderatsmitglieder von Moutier. Sechs Gemeinderäte sind für den Übertritt in den Kanton Jura. Clémençon gehört zu den drei, die dagegen sind. Die Zusammenarbeit sei kein Problem, heisst es im Gemeinderat. Denn im Rat gehe es meist um Anliegen zum Wohl von Moutier und weniger um Politik.

Gespräch hinter Gittern

Klingeln, die Tür zum Vorplatz öffnet sich. Nochmals klingeln, eine Weile warten, dann öffnet sich auch die Stahltür im Betonbau. Drinnen, hinter schusssicherem Glas, stehen zwei Männer mit breiten Schultern in schwarzen Hemden. Zwei Augenpaare betrachten die Besucher kühl und forschend. Das BT-Team muss Ausweise durch einen Schlitz unter der Scheibe durchschieben, die Handys abgeben und eine Sicherheitsschleuse passieren. Danach begrüsst uns in Jeans und Pullover Clémençon, der Gefängnisdirektor von Moutier.

Jean-Jacques Clémençon, Gemeinderat. Daniel Müller

Er spreche nicht als Gefängnisdirektor, präzisiert Clémençon im nüchternen Konferenzzimmer, sondern als Gemeinderat. Er sei nicht ein Pro-Berner, sondern ein Antiseparatist und im Herzen ein Jurassier und Frankophoner, der auch Deutsch spreche: «Ich war immer gegen die Trennung vom Kanton Bern. Denn es ist vorteilhafter, Teil von etwas Grossem, statt von etwas Kleinem zu sein.»

Der Kanton Jura ist in der Tat sehr klein; gemessen an der Zahl der Einwohnern steht er auf Platz 20 der Schweizer Kantone. Gut 70 000 Personen leben im Kanton Jura, im Kanton Bern sind es über eine Million. Teil eines grossen Kantons zu sein, habe den Vorteil, so Clémençon, dass zum Beispiel die Administration prozentual zur Bevölkerung kleiner sei.

Der Gemeinderat macht sich auch Sorgen um die Zukunft des Spitals, falls es zu einem Kantonswechsel kommt. Denn im Kanton Jura gibt es bereits drei Akutspitäler. Jenes von Moutier, nur 13 Kilometer vom nächsten Spital entfernt, wäre das vierte. «Ein viertes Spital politisch zu rechtfertigen, wird schwierig sein», sagt Clémençon.

Achtmal Ja zum Kanton Jura gesagt

Auch den Gemeindepräsidenten besucht das BT unangekündigt – mit der Frage im Hinterkopf, wie flexibel die Leute von Moutier sind, die im Seeland den Ruf von Sturköpfen haben. Sie sind flexibel, sehr flexibel sogar. Marcel Winistörfer ist zwar im Moment nicht im Rathaus, der Lehrer unterrichtet. Aber nur eine Stunde später erscheint er vor dem imposanten Bau, 1830 im Stil des Klassizismus erstellt, mit Krüppelwalmdach, Glockenturm und Vorbau. Winistörfer bittet in den prachtvollen Konferenzsaal mit dem polierten Parkett, der hohen Decke und dem langen Eichentisch mit roten Stühlen.

Marcel Winistörfer, Gemeindepräsident. Daniel Müller

Der Gemeindepräsident weist seinen Besuchern einen Platz zu und beginnt zu erzählen: «Für mich stellt sich die Frage nicht, im Kanton Bern zu bleiben. Moutier ist fremd im grossen Kanton, wir leben eine andere Kultur. Selbst die Bauern leisten hier im Jura eine andere Arbeit als jene im Flachland unten.» Winistörfer verweist darauf, dass die Bürger von Moutier achtmal in der Folge für den Übertritt in den Kanton Jura gestimmt haben – immer mit einem Ja-Stimmenanteil von 55 bis 60 Prozent.

Verteidigen wie einst im Mittelalter

Er verstehe nicht, weshalb der Kanton Bern das kleine Territorium Moutier verteidige wie einst im Mittelalter, sagt der Gemeindepräsident: «Ruhe einkehren wird vermutlich nur dann, wenn Moutier anlässlich der Abstimmung im Juni entscheidet, in den Kanton Jura überzutreten.»

Der dritte Überraschungsbesuch klappt nicht. Silvia Rubin vom Office du Tourisme in Moutier ist an einer Sitzung. Aber sie ruft an. Wie Clémençon sagt auch sie, dass sie keine Pro-Bernerin sei. Aber sie fühle sich mit dem Berner Jura verbunden, dort sei sie aufgewachsen, dort habe sie tiefe Wurzeln. Die Gemeinden im Berner Jura, sagt Siliva Rubin, hätten viele Gemeinsamkeiten: «Hier spielen die Präzisionsindustrie und die Zugehörigkeit zu den Uhrenfabrikanten eine grosse Rolle.» Rubin schätzt auch die zweisprachige Administration des Kantons Bern.

2013, als Moutier als einzige Gemeinde im Berner Jura entschied, den Kanton zu wechseln, sei die Situation eine andere gewesen, erklärt Silvia Rubin: «Bei einem Ja wäre der gesamte Berner Jura dem Kanton Jura beigetreten. Wenn es im kommenden Juni zu einem Ja kommt, tritt Moutier alleine über.»

Angst vor wirtschaftlichen Folgen

Eine, die ähnlich denkt wie Silvia Rubin, wenn auch aus anderen Gründen, ist Sandra Michel*, Pächterin eines Cafés. Sie befürchtet, dass ein Kantonswechsel Moutier wirtschaftlich schaden werde: «Die Steuern würden steigen, die Subventionen sinken, und es würde weniger Geld für die Schulen zur Verfügung stehen.» Auch die die Wirtschaftsförderung des Kantons Bern hält sie für effizienter als jene des Kantons Jura – etwas, das wichtig sei, da Moutier in den letzten Jahrzehnten viele Arbeitsplatze verloren habe.

Sandra Michel bestätigt, dass die Wogen heute nicht mehr so hoch gehen wie früher. In ihrem Café verkehren Pro-Berner und Pro-Jurassier. Gibt es somit keine Feindschaften mehr? Ganz so einfach ist die Situation wohl doch nicht.

Subtil geäusserte Missbilligung

Wer für den Übertritt in den Kanton Jura ist, kann dies auf der Strasse offen sagen. Wer für den Verbleib im Kanton Bern ist, darf dies grundsätzlich auch – immer vorausgesetzt, er erträgt eine mit subtilen Mitteln geäusserte Missbilligung. Oder, wie Silvia Rubin sagt: «Die Autonomisten sind sichtbarer, weil sie glauben, Recht zu haben. Wer denkt wie ich, hat automatisch Unrecht, obwohl beide Lager in Moutier etwa gleich gross sind.»

*Name von der Redaktion geändert

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200 Jahre alter Konflikt

Einst hat die Region zum Bistum von Basel gehört. Bis heute protestieren Bewohner im Berner Jura gegen die deutschsprachige Herrschaft.

Der historische Jura, Teil des ehemaligen Bistums Basel, wird am Wiener Kongress 1815 dem Kanton Bern zugewiesen. Das jurassische Volk, frankophon (mit Ausnahme des Bezirks Laufen) und katholisch, kommt unter die Herrschaft eines deutschsprachigen, protestantischen Kantons, was Widerwillen weckt.

Der Süd-Jura erlebt zur selben Zeit eine wachsende Industrialisierung und in der Folge eine beachtliche Einwanderung von Deutschsprachigen. Dieses wirtschaftliche Auseinanderdriften ist mit ein Grund für die anti-separatistische Bewegung der Leute im Süden, sagt Alain Pichard, Westschweizer Journalist und Autor des Buches «Die Jura-Frage», gegenüber Swissinfo.ch: «Sie hatten Angst, sich eine Unterstützungsaufgabe aufzuhalsen.»

Hinzu kommt, dass sich die Jurassier im Norden zusehends als Milchkühe des Kantons fühlen. Ihre frankophone Kultur wird ignoriert, Investitionen aus Bern fliessen spärlich, besonders im Bereich der Strassen- und Eisenbahn-Infrastruktur. Der Zorn wächst.

Terroristische Aktionen

Gekämpft wird während Jahrzehnten und mit harten Bandagen. Mit spektakulären Aktionen drängen Jungseparatisten der Gruppe Bélier in den 60er- und 70er-Jahren ihr Anliegen ins Rampenlicht. Separatistische Extremisten verüben Sprengstoff- und Brandanschlägen auf Häuser von Berntreuen, Denkmäler und öffentliche Einrichtungen. Die Holzbrücke in Büren wird von Separatisten abgefackelt.

Wut und Hass trennen Separatisten und Berntreue (Sanglier), Nord- und Südjura, stärker denn je. Nachbarn grüssen sich nicht mehr. Freundschaften und Familien zerbrechen an der Jurafrage. Ein Jurassier, der in Bern einen Sprengstoffanschlag plant, sprengt sich selber in die Luft.

1950: Die bernische Regierung kommt den Jurassiern entgegen, indem sie das «jurassische Volk» formell anerkennt, ihnen zwei der neuen Sitze im Regierungsrat zugesteht und die französische Sprache wie die deutsche als Amtssprache anergeknnt.

1951: Militante Separatisten finden die Anerkennung des Kantons Bern ungenügend und gründen das «Rassemblement jurassien» (RJ).

1959: Die Grossräte setzen sich mit der sogenannten Separatisten-Initiative auseinander. Darin fordert das RJ, dass innert Jahresfrist im Jura eine Volksbefragung durchzuführen sei. Die separatistischen Grossräte argumentieren vehement für das Zustandekommen der Initiative. Gegner der Initiative, allen voran Bieler und Laufentaler Grossräte, weisen auf die Risiken einer Trennung hin. Das bernische Volk lehnt die Initiative im Juli 1959 ab.

1978: 40 Jahre nach Beginn der Separationsbewegung, im September, sagt das Schweizer Volk Ja zur Schaffung des Kantons Jura, der zum 23. Kanton wird. Der Kanton Jura entsteht aus den Amtsbezirken Delémont, Ajoie und Freiberge.

2013: Im November wird im Berner Jura und im Kanton Jura über eine Fusion zu einem neuen Kanton abgestimmt. Die Bernjurassier lehnen die Idee mit über 70 Prozent Stimmen ab – einzig in Moutier findet sich eine Mehrheit. Im Anschluss an die Abstimmung verkündet Moutier umgehend, von der Möglichkeit einer zweiten Abstimmung zum Kantonswechsel Gebrauch zu machen.

2017: Moutier wird am 18. Juni darüber abstimmen, ob die Gemeinde im Kanton Bern verbleibt. Falls die Bevölkerung die Vorlage annimmt, werden die Dörfer Belprahon, Crémines, Grandval und Sorvilier ebenfalls über einen Wechsel entscheiden. Denn die Gemeinden sind stark mit Moutier vernetzt. Bleibt Moutier bei Bern, so würde die Mehrheit der vier Gemeinden wohl gar nicht erst über einen Kantonswechsel abstimmen. LT

 

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