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Nachbarschaftshilfe

Sich selbst eingestehen, dass man zur Risikogruppe gehört

Immer mehr über 65-Jährige nehmen Hilfe fürs Einkaufen an. Manche kostet dies Überwindung, andere fühlen sich dadurch kaum eingeschränkt. Vier Seeländer und eine Helferin erzählen.

Der 67-jährige Hanspeter Brunner reserviert seine Einkäufe im Voraus. Bild: Peter Samuel Jaggi

Sarah Grandjean

«Mich hat es nicht Überwindung gekostet, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sondern, mir einzugestehen, dass ich selbst zur Risikogruppe gehöre.» Hanspeter Brunner ist 67 Jahre alt, wohnt in Aarberg und betreut die Website des Vereins Aarsenior. Auf dieser hat er einen Aufruf an über 65-Jährige zur Einkaufshilfe gestartet. Dann hat er nach freiwilligen Helfern gesucht. Er sei überrascht gewesen, wie viele Personen helfen wollten und abgelehnt werden mussten, weil sie selbst zur Risikogruppe gehörten, sagt er.

Als Helferin gemeldet hat sich unter anderen die 19-jährige Laura Hügli. Sie erledigt nun für Hanspeter Brunner die Einkäufe. Die beiden kannten sich bereits vorher. Er stellt fest, dass sich sein Einkaufsverhalten verändert hat. Normalerweise geht er in den Laden und schaut, was da ist. Nun muss er eine Einkaufsliste erstellen, ohne überhaupt die Auswahl zu kennen. Da er für gewöhnlich in kleinen, regionalen Geschäften einkauft, konnte er seine Produkte im Voraus reservieren: In die Metzgerei hat er eine SMS geschickt, in die Käserei eine E-Mail und beim Bäcker hat er angerufen. Laura Hügli hat die Einkäufe für ihn abgeholt und ihm eine SMS geschickt, sobald sie abholbereit vor der Haustür standen. Bezahlt hat Hanspeter Brunner über Twint: «Das hat wunderbar geklappt.»

Laura Hügli ist Studentin und kauft seit letzter Woche für vier Parteien ein. «Ich habe das Gefühl, Hilfe in Anspruch zu nehmen, kostet die Leute viel Überwindung», sagt sie. Oft sei ihnen das überhaupt nicht recht, denn sie würden lieber selbstständig bleiben.

Mehr nehmen Hilfe an

Joel Gerber vom Hilfsdienst «Solidarité» findet, dass noch immer verhältnismässig viele ältere Menschen einkaufen gehen, besonders bei gutem Wetter. Dennoch ist die Nachfrage bei «Solidarité» gestiegen, der Hilfsdienst führt rund 30 Aufträge pro Tag aus. Joel Gerber stellt zudem fest, dass viele Menschen Hilfe von der Familie oder von Nachbarn bekommen.

Marcel Schenk, Geschäftsleiter von Pro Senectute Kanton Bern, bestätigt, dass immer mehr ältere Menschen Hilfe im Alltag annehmen. «Ein Grossteil versucht jetzt, zuhause zu bleiben.» Viele würden dadurch für das Thema sensibilisiert, dass täglich über das Coronavirus gesprochen und auf die Massnahmen hingewiesen wird. Auch die regelmässigen Medienkonferenzen des Bundes dürften ihren Teil dazu beitragen. Personen aus der Risikogruppe sollten laut Marcel Schenk überhaupt nicht mehr einkaufen gehen: Die Gefahr, sich mit dem Virus anzustecken, sei in Einkaufszentren momentan am grössten.

Kein Grund zu jammern

Daran halten sich Elsbeth und Erich Heimberg. Die 72-Jährige und der 78-Jährige wohnen am Rand von Aarberg im Erdgeschoss eines grossen Zweifamilienhauses. Im selben Haus wohnt ihr Sohn zusammen mit seiner Frau und den zehnjährigen Zwillingen. Seit zwei Wochen geht Heimbergs Schwiegertochter für die beiden einkaufen. Manchmal bestelle sie etwas im Laden vor, sagt Elsbeth Heimberg, manchmal erstelle sie eine Einkaufsliste.

Elsbeth Heimberg findet, sie habe keinen Grund zu jammern. Sie und ihr Mann haben eine sichere Rente und das Einkaufen sei ihnen nicht so wichtig. Da fehlt den beiden das Radfahren mehr. Darauf verzichten sie im Moment ganz: «Die Jungen haben gesagt, wenn euch beim Velofahren etwas passiert und ihr ins Spital müsst, dann blockiert ihr ein Spitalbett», erzählt Elsbeth Heimberg. Das sei ihr eingefahren. Sie findet, die jungen Leute haben ein Recht darauf, ihnen zu sagen, was sie tun und lassen sollen. Sie und ihr Mann gehen nun täglich ein, zwei Stunden in den nahe gelegenen Wald spazieren, wo sie nur wenigen Leuten begegnen.

Optimistisch eingestellt ist auch Rosmarie Lüscher aus Biel. Ihre Nachbarin hatte ihr schon in früheren Situationen Hilfe angeboten. Bisher brauchte sie diese nicht, aber nun hat sie sie sofort und «von Herzen gern» angenommen. Die 73-Jährige kauft inzwischen anders ein, weil sie nicht mehr vor Ort auswählen kann. Sie schreibt Produkte auf, die nicht allzu schwer zu finden sind, das sei für sie kein Problem: «Man wird vielleicht etwas bescheidener.» Wenn ihre Nachbarin mit den Einkäufen vorbeikommt, klingelt sie und tritt dann ein paar Schritte zurück. Dann geht Rosmarie Lüscher zur Tür und «wir schwatzen ein paar Worte». Im Moment geht sie nicht mehr unter Leute. Einsam fühlt sie sich deswegen nicht: Sie lebt bereits seit 20 Jahren allein und greift nun einfach häufiger zum Telefon.

Warten auf Antikörper-Tests

«Ich bin gerne allein», sagt auch die 64-jährige Christine Spycher aus Schwadernau. Sie hat über die Facebookgruppe «Gern gscheh – service! – Biel/ Bienne hilft / aide!» jemanden gefunden, der für sie einmal pro Woche einkaufen geht. Sie tut sich nicht schwer damit, Hilfe anzunehmen. Ihr Partner, von dem sie getrennt lebt, jedoch schon, fügt sie lachend an. Sie habe auch für ihn einen Helfer gefunden und diesen mit einigen Einkäufen zu ihm geschickt.

Christine Spycher hat zwei Hunde, «gottlob habe ich die beiden». Mit ihnen geht sie drei Mal täglich spazieren. Sie telefoniert nun häufiger und trifft sich mit ihrer Familie zu Videoanrufen. Seit drei Wochen haben sie einander nicht mehr gesehen, die Familie fehlt ihr. «Und was machen wir, wenn das Virus alle Jahre wiederkommt wie eine Grippe?», fragt Christine Spycher. Sie vermutet, dass sie das Coronavirus bereits hatte. Ende Januar hatte sie Fieber, begann dann zu husten und hatte Atembeschwerden, was schliesslich zu einer Lungenentzündung führte. Sie wartet nun darauf, dass sie sich auf Antikörper testen lassen kann und hofft, dass sich ihre Vermutung bestätigen wird: «Dann kann ich wieder leben.»

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