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Grenchen

«Sicher waren die meisten Verstorbenen
 zu ihren Lebzeiten gerne in Gesellschaft»

Der Friedhof Grenchen reagiert auf veränderte Bestattungsformen und realisiert eine Anlage mit Baumgräbern. Am Ort der ewigen Ruhe soll mehr Leben einkehren. Auf Bieler Friedhöfen drehen derweil bereits Jogger ihre Runden.

Urnengräber inmitten von wilden 
Blumen. 
Patrick 
Nyffenegger will noch mehr Natur im Grenchner Friedhof.
 Copyright: Peter Samuel Jaggi / Bieler Tagblatt

Brigitte Jeckelmann

Wilde Wiesen, blühende Blumen – im Grenchner Friedhof breitet sich die Natur aus. Wo früher Gedenksteine standen, wogt das Gras im Wind. Das traditionelle Grab hat ausgedient. Immer mehr Menschen entscheiden sich für eine letzte Ruhestätte nach eigenem Geschmack. Erdbestattungen gibt es kaum noch. Körper im Sarg, einen Meter achtzig tief im Erdreich, findet nur noch selten statt.

Patrick Nyffenegger, Leiter von Stadtgrün Grenchen, drückt es in Zahlen aus: «Früher gab es in Grenchen jährlich um die 170 solcher Begräbnisse, heute sind es noch gerade mal sieben.» Nyffenegger ist seit zwei Jahren im Amt. Er steht neben der Abdankungshalle im oberen Teil des Friedhofs auf einer Anhöhe. Von dort aus schweift der Blick weit über die ganze Anlage, die rund 42 000 Quadratmeter umfasst. Überall Grün, durchsetzt mit Bäumen und Sträuchern.

 

Wildnis breitet sich aus

Der Rückgang der Erdbestattungen hat auf dem Friedhof freien Platz geschaffen. Parzelle um Parzelle, die man nach der Grabruhe von 20 Jahren geräumt hatte, blieben leer. Und schon bald begann die Wildnis zu wuchern. Gut, Nyffenegger und sein Team haben dann ein wenig nachgebessert. Das Erste, was er nach seinem Antritt angeordnet hat: «Wir haben Wildblumen angesät.» Nun blüht der Natternkopf rot-blau, die Nelke tiefrosa, das Labkraut gelb und die Wegwarte kobaltblau. Dennoch: Gestorben wird nach wie vor. Patrick Nyffenegger und Ulrike Kubierske, die Leiterin des Friedhofs, haben das Angebot den veränderten Wünschen der Menschen angepasst und es um Wiesen-, Strauch-, und Baumgräber erweitert. Das kommt an. Innert zwei Jahren war fast jeder verfügbare Platz verkauft. Die Asche der Verstorbenen ruht in Urnen im Erdreich rund um Bäume und Sträucher, bedeckt mit Namenstafeln.

Auch auf den wilden Wiesen gibt es Reihen mit solchen Tafeln. Die Gründe für den Wechsel bei den Bestattungsformen sind für Nyffenegger klar: Einerseits gestattet der Vatikan den Katholiken die Einäscherung erst seit Mitte der 60er-Jahre. Seither nimmt diese Bestattungsform laufend zu. Heute werden laut dem Schweizerischen Verband für Feuerbestattung 75 Prozent der Verstorbenen kremiert. Andererseits führt Nyffenegger die geringeren Kosten von Gemeinschaftsgräbern ins Feld. Kommt dazu: «Viele wollen ihren Hinterbliebenen nicht noch die jahrelange Pflege des Grabs aufbürden.» Die derzeit gefragten Wiesen- und Baumgräber verursachen Angehörigen keinen Aufwand, sind dafür aber teurer als das Gemeinschaftsgrab.

 

Neue Anlage im Herbst fertig

Naturbestattungen sind inzwischen so beliebt, dass der Friedhof Grenchen eine neue Anlage geplant hat: Auf einer Parzelle im westlichen Teil soll ein Baumgrab-Park entstehen. Wie Nyffen-egger sagt, ist die Friedhofsanlage in Grenchen als Werk des bekannten Architekten Johannes Schweizer in den 50er-Jahren entstanden und in der Liste der schützenswerten Gartendenkmäler aufgeführt. «Es soll ein Ort werden, wo Menschen gerne verweilen», sagt er. Ein Ort, wo man den Verstorbenen nahe sein kann aber auch ein Ort für jene, die ein bisschen Ruhe in der Hektik des Alltags suchen. Sitzgelegenheiten, eine Pergola und eine Brunnenanlage in der Mitte des Platzes sollen dazu einladen, hier auch mal die Mittagspause zu verbringen. Denn der Friedhof ist für Kubierske und Nyffenegger auch ein Ort, wo man Menschen trifft. Mehr Leben auf dem Friedhof dürfe sein. Kein Rummelplatz, immer mit dem nötigen Respekt. Nyffenegger ist überzeugt: «Die meisten Verstorbenen waren zu Lebzeiten bestimmt auch gerne in Gesellschaft.»

Jene, die den Verlust eines geliebten Menschen betrauern, haben oft das Bedürfnis, zu reden. Das stellt Ulrike Kubierske bei ihrer täglichen Arbeit fest: «Die Menschen sind dankbar für ein offenes Ohr.» Das gehöre für sie einfach zum Job, sagt sie. Kubierske packt überall mit an: Die ausgebildete Landschaftsgärtnerin mit Weiterbildung zur Gärtnermeisterin und im Bereich Friedhofswesen besorgt zusammen mit zwei Mitarbeitern alle anfallenden Arbeiten auf dem Friedhof.

Wie Nyffenegger hat auch sie Visionen zum Friedhof der Zukunft: Ein kleines Café könnte sie sich darin gut vorstellen, oder Kunst im öffentlichen Raum, meint Nyffenegger. Die neue Anlage ist der erste Meilenstein dazu. Das Projekt steht, Baubeginn ist am 3. August, die Einweihung für den Herbst geplant. Bei der grossen Nachfrage sind die Kosten laut Nyffenegger in wenigen Jahren amortisiert. Der nächste Schritt wäre dann ein Waldgrab im westlichsten Teil des Friedhofs, wo mehrere alte Bäume stehen. Er sieht es schon vor sich. Man müsste nur noch ein rollstuhlgängiges Wegnetz bauen.

 

Treffpunkt Friedhof

Was in Grenchen noch nach Zukunft klingt, ist in Biel schon längst Realität: Auch dort sind die Erdbestattungen rückläufig. Über 90 Prozent der Verstorbenen werden heute kremiert, wie Sacha Felber, Leiter Friedhöfe und Bestattungswesen, sagt. Durch die vielen Freiflächen habe sich das Bild des Friedhofs verändert. Felber: «Es hinterlässt bei vielen Leuten den Eindruck einer Parkanlage mit integriertem Friedhof.» Dieser werde dadurch zum Begegnungsort.

Die Menschen kämen in erster Linie auf den Friedhof, um den Verstorbenen zu gedenken. Manche würden aber auch Pilze suchen im Herbst oder die rund 40 verschiedenen Vogelarten beobachten, sagt er. Wieder andere Besucher nutzten das Gelände, um einige Runden zu joggen oder am Mittag einfach die Ruhe mit einem Sandwich zu geniessen. Doch auch in Biel hat man sich den veränderten Gewohnheiten angepasst. Zwar bietet die Stadt weiterhin Sarg- und Urnenreihengräber an. Aber gerade im letzten September eröffnete sie im Friedhof Madretsch ein Gemeinschaftsgrab mit Namensplatten. Die Asche ruht in Biournen, die sich nach einiger Zeit zersetzen. Biel hat ebenfalls Platz geschaffen für andere Religionen: Im Friedhof Madretsch ist eine ganze Abteilung für die Beisetzung von Personen jüdischen Glaubens reserviert und seit 2012 besteht zudem ein Grabfeld für die Bestattung von Muslimen.

 

Asche zu Asche – in der Natur

Dass es auf den Friedhöfen mehr freie Flächen gibt, hat aber noch einen anderen Grund, wie Philipp Messer sagt. Er ist Geschäftsführer des Bieler Bestattungsunternehmens Storz und Präsident des Schweizerischen Branchenverbands. Immer weniger Menschen wünschen sich den Friedhof als letzte Ruhestätte: In der Region Biel nehmen laut ihm rund 20 Prozent der Familien die Asche der Verstorbenen in der Urne mit und setzen sie in der Natur bei, sei es im Garten, im See oder auf einem Berg (siehe Text unten). Dabei sollte man auf die Gefühle anderer Menschen Rücksicht nehmen, sagt Messer. «Man kann die Asche nicht einfach im Wald verstreuen, wenn andere Passanten in der Nähe sind » Für Beisetzungen auf dem Wasser gebe es spezielle Behältnisse, die sich auflösen.

Oft würden die Menschen die Urnen auch bei sich zuhause irgendwohin stellen oder Schmuck aus der Asche herstellen lassen. Die günstigere Variante sei, etwas von der Asche in Ringe oder Ketten einarbeiten zu lassen. Die teurere, Messer spricht von einigen 1000 Franken: Man lässt die Asche zu einem Diamanten pressen.

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Die letzte Ruhe in der Natur: Und plötzlich war die Tanne weg

Wer seine letzte Ruhestätte in der freien Natur wählt, tut gut daran, sich vorgängig bei den Gemeinden nach den Vorschriften und Gepflogenheiten zu erkundigen. Sonst könnte es einem so ergehen, wie einer Grenchnerin die eine Tanne im Wald oberhalb der Gemeinde für sich ausgewählt hatte.

Doch kürzlich musste sie feststellen: «Die Förster haben meinen Baum gefällt.» Ursprünglich hätte sie vorgehabt, dass ihre Angehörigen dereinst die Urne mit ihrer Asche zu Füssen der Tanne begraben sollten. Nach einer jüngst überstandenen schweren gesundheitlichen Krise hatte sie sich daran gemacht, die letzten Dinge zu regeln. Dazu gehört auch die Art und Weise, wie man sich bestatten lassen möchte. Nun, da «ihre» Tanne weg ist, sucht sie nach neuen Ideen. Das allenfalls geplante Waldgrab im Friedhof Grenchen wäre für sie eine überlegenswerte Option. Inzwischen gibt es in der Schweiz auch etliche Friedwälder und Waldbesitzer, die Waldbestattungen anbieten. Sie garantieren, dass die Bäume nicht gefällt werden.

Aber darf jeder Urnen in der Natur begraben, wie er will? Das ist nicht ganz eindeutig zu beantworten, wie eine Anfrage bei den zuständigen Behörden der Kantone Bern und Solothurn zeigt. Laut Reto Bähler, Leiter Gemeindeorganisation beim solothurnischen Amt für Gemeinden, ist es in der Schweiz grundsätzlich erlaubt, die Asche von Angehörigen in der Natur zu verstreuen – sei es im Wald, in der Luft oder im Wasser. Auch das Vergraben einer Urne im Wald ist nicht verboten, allerdings sollte die zuständige Gemeinde informiert werden. Bei Privatgelände muss der Eigentümer zustimmen.

Ähnlich handhabt es das Amt für Wald und Naturgefahren des Kantons Bern: Für Einzelbeisetzungen in der freien Natur gibt es nur wenige Einschränkungen, etwa in Naturschutzgebieten oder aus Gründen des Umweltschutzes. Asche ausstreuen in Gewässern, auf Berggipfeln, auf Alpweiden oder im Wald ist mit dem Einverständnis der Grundeigentümer fast überall möglich. Es gibt allerdings auch einzelne Kantone und Gemeinden, die dies in ihren Vorschriften einschränken oder gar verbieten.

Obwohl gesetzlich nicht explizit verboten, will man aber im Berner Wald keine Urnen vergraben haben. Erlaubt ist dagegen, die Asche zu verteilen oder sie ohne Urne in einem Erdloch beizusetzen. Im Wald dürfen auch keine Tafeln, Blumen, Steine, Kerzen oder anderer Grabschmuck angebracht oder aufgestellt werden. bjg

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«Dem Tod ins Gesicht lachen»

Der Friedhof als Begegnungsort? Mittagessen, schwatzen, joggen, Pilze suchen – darf man das? Wo ist die Grenze zur Pietätslosigkeit? Und welche Bedeutung hat der Friedhof als Ort, wo man verstorbene Angehörige besuchen kann? Auf ein Gespräch mit der reformierten Theologin Luzia Sutter Rehmann vom Arbeitskreis für Zeitfragen in Biel.

 

Luzia Sutter Rehmann, Fröhlichkeit auf dem Friedhof - geht das überhaupt?

Luzia Sutter Rehmann: Für mich ist das völlig okay. Biblisch gesehen gibt es keinen Grund, weshalb es auf dem Friedhof tötelig sein soll. Unabdingbar ist, dass die Würde der Verstorbenen und der Angehörigen respektiert wird.

Wo sind die Grenzen?

Nicht allen Friedhofsbesuchern ist nach Fröhlichkeit zumute. Wer Ruhe und Stille sucht, und sich lieber zurückziehen will, soll das können.

Also doch – auf dem Friedhof

hat man ernst zu sein.

Nein, nicht zwingend. Es steht nirgends festgeschrieben, dass die Würde von Verstorbenen mit Stille und Ernst zu assoziieren ist. Was Menschen als Würde beschreiben, ist oft auch zeitbedingt. Vor 50 Jahren wurden Kinder auf dem Friedhof angehalten, ruhig zu sein. Heute reklamiert niemand mehr, wenn Kinder dort lachen und spielen. Zudem spielt auch die Kultur eine Rolle. In anderen Ländern wird bei Bestattungen gesungen und getanzt. In Mexiko zum Beispiel stehen an manchen Orten statt Blumen geschnitzte Totenköpfe auf den Tischen. Und der Tag der Toten Anfang November ist ein farbenprächtiges Volksfest. Im Angesicht des Todes kann man entweder verstummen oder dem Tod geradeheraus ins Gesicht lachen.

Der Leiter Stadtgrün Grenchen ist der Ansicht, Verstorbene würden sich, wie einst auch im Leben, über Gesellschaft freuen – wie klingt das für Sie?

Damit bin ich absolut einverstanden. Wieso sollte sich das im Tod geändert haben? Man soll sich für den Tod Zeit nehmen, ihn nicht unsichtbar machen oder herunterspielen. Aber welchen Platz man ihm einräumt – auch physisch – steht uns frei.

Wie wichtig ist für Hinterbliebene ein physischer Ort, um sich Verstorbenen nahe zu fühlen und Trauer zu verarbeiten?

Ein solcher Ort hat auch etwas Soziales. Alle sollten dorthin gehen können, die Abschied nehmen möchten, nicht nur die engsten Angehörigen. Am Grab zu stehen, ist eine Schwellenerfahrung. Eine Begegnung mit der Endlichkeit und der Unendlichkeit. Das muss nicht unbedingt der Friedhof sein. Man kann auch das Geburtshaus, den Sterbeort oder den Wirkungsort eines Menschen aufsuchen. Wichtig ist, dass man sich Zeit nimmt, einen Weg geht, an jemanden denkt. Nach einem Grabbesuch kann man sich umdrehen, weggehen und loslassen. Für mich sind das Elemente, die eine Seele braucht.

Interview: Brigitte Jeckelmann

 

 

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