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Sie will nie wieder umziehen

Beatrice Mosimann lebt mit Multipler Sklerose allein in Lyss. Täglich kommt eine Assistentin vorbei, die ihr beim Kochen, Putzen und Waschen hilft. Die 55-Jährige hadert nicht damit, auf Hilfe angewiesen zu sein – im Gegenteil.

Beatrice Mosimanns Feinmotorik ist von der Krankheit nicht beeinträchtigt. Bild: Carole Lauener
  • Dossier

Sarah Grandjean

Als Beatrice Mosimann zum ersten Mal die Wohnung im Lyssbachpark betrat, mit zwei Balkonen und Ausblick in drei Himmelsrichtungen, wusste sie: Hier will ich hin. «Ich habe in der Küche gestanden und mich gefühlt wie eine Kapitänin im Bug eines Schiffs», sagt die 55-Jährige. Ihr gefielen das alte Nachbarhaus, die Bäume im Park, die freie Sicht auf die Alpen.

Für Mosimann waren aber auch Dinge ausschlaggebend, die im ersten Moment nebensächlich wirken: Dass sie die Wohnung im dritten Stock mit dem Lift erreichen kann. Dass es drinnen keine Bodenschwellen, aber breite Gänge und Balkontüren gibt. Dass diverse Einkaufsmöglichkeiten auf der anderen Seite der Strasse liegen: Migros, Denner, Apotheke und Kleidergeschäfte. Denn Mosimann leidet an der unheilbaren Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose (MS). Zum Gehen ist sie auf einen Rollator angewiesen. Hat sie einen Termin weiter weg, muss jemand sie fahren. Autofahrten, die länger dauern als eine halbe Stunde, liegen aber nicht drin. Die meiste Zeit verbringt sie zuhause.

Plötzlich auf einem Auge blind

Nun sitzt Mosimann am Küchentisch, vor sich ein Blatt mit Notizen, die sie für das Gespräch vorbereitet hat. Hin und wieder fasst sie sich an die Stirn, muss sich sichtlich anstrengen, nicht den Faden zu verlieren. Sie schaut auf ihre Notizen, beginnt zu erzählen. Im Jahr 2008 wurde sie auf dem linken Auge plötzlich blind. Sie ging zum Augenarzt, der den Grund ahnte und sie sofort ans Inselspital überwies. Am nächsten Morgen erhielt sie die Diagnose: Multiple Sklerose.

Das war für Mosimann kein Schock, sondern eine Erleichterung. Denn für so viele Dinge gab es plötzlich eine Erklärung. «Seit meiner Jugend hatte ich das Gefühl, ich sei ein fauler Mensch», sagt sie. Sie wurde rasch müde, erbrachte weniger Leistung als andere, ging nie bis in die frühen Morgenstunden in den Ausgang. Sie sei halt einfach ein komischer Vogel, habe sie immer gedacht. Rückblickend hätte man die Krankheit wohl schon früher entdecken können. 20 Jahre zuvor waren bei ihr sogenannte Plaques im Hirn festgestellt worden, aber die Ärzte gingen dem nicht weiter nach. Darüber ist Mosimann froh. Denn früher riet man Frauen mit MS davon ab, Kinder zu kriegen. Man fürchtete, eine Schwangerschaft und die damit verbundene körperliche Belastung könnte die Krankheit verschlimmern.

Zum Zeitpunkt der Diagnose lebte Mosimann als alleinerziehende Mutter mit ihren beiden Kindern zusammen. Sie bekam Unterstützung von der Spitex. Drei Mal wöchentlich half ihr jemand beim Duschen und Haarewaschen, dann brauchte sie auch Hilfe im Haushalt. Doch irgendwann wurde ihr alles zu viel. Der Sohn, inzwischen 20 Jahre alt, wohnte noch zuhause, die Tochter war schon ausgezogen. Die Familienwohnung war Mosimann zu gross, zudem war sie nicht rollstuhlgängig. Ihren Kindern wollte sie nicht zur Last fallen, das hätte sie ungerecht gefunden. Also zog sie aus.

Einsame Tage gibt es nicht

Mittlerweile lebt sie seit vier Jahren in ihrer Wohnung im Lyssbachpark. Allein – oder fast: In einer Ecke schläft Gipsy, die 16-jährige Katze. Es vergeht aber kaum ein Tag, den Mosimann ohne menschliche Gesellschaft verbringt. Regelmässig kommt eine Assistentin vorbei, die ihr im Haushalt zur Hand geht. Ihre Frauen, wie sie sie nennt, hat Mosimann selbst ausgesucht und angestellt. «Das Wichtigste ist die Chemie», sagt sie. «Die muss zu 100 Prozent stimmen.» Eine ihrer Frauen kommt jeweils am Montag vorbei, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist. Am nächsten Tag kocht sie bei Mosimann zu Mittag und ihre Kinder kommen zum Essen. Am Nachmittag geht Mosimann mit Freundinnen Kaffee trinken. Am Mittwoch kommt eine andere Assistentin, eine junge Studentin. «Sie macht einfach alles», sagt Mosimann. Kochen, putzen, handwerken, nähen. Sie habe all ihre Kleider enger genäht, nachdem sie abgenommen hatte. Am Donnerstag erledigt die andere Helferin den Wocheneinkauf, schaut auch am nächsten Tag kurz vorbei. Am Samstag kommt eine dritte Assistentin fürs Waschen und Putzen. Mosimann hat kein Problem damit, auf Hilfe angewiesen zu sein, im Gegenteil: «Ich freue mich jedes Mal, wenn jemand vorbeikommt.»

Sie kümmert sich selbst um die Arbeits- und Ferienpläne sowie die Lohnabrechnungen ihrer Helferinnen. Unterstützt wird sie dabei von einem Mitarbeiter von Pro Infirmis. Den Lohn der Assistentinnen bezahlt sie mit einem Assistenzbeitrag der Invalidenversicherung. «Es ist unglaublich, wie viel Hilfe man in der Schweiz bekommt», sagt Mosimann. «Dafür bin ich sehr dankbar.»

In ein Wohnheim zu ziehen, ist für sie nie infrage gekommen. Sie will selbstbestimmt leben und wohnt gerne allein – könnte es sich gar nicht mehr anders vorstellen. «Selbst wenn ich einen Partner hätte, ich könnte nicht mit ihm zusammenleben.» Mit dem Alter werde sie immer pingeliger, halte an Kleinigkeiten fest. Ihre Zeit verbringt sie mit häkeln und sticken, ausserdem stellt sie Schmuck her, ihre Feinmotorik ist von der Krankheit nicht beeinträchtigt. Die Termine mit der Neurologin macht sie telefonisch, um nicht nach Bern fahren zu müssen. Sie geht weder an Konzerte noch fährt sie in die Ferien. In Menschenmengen hält sie es nicht aus, «da macht der Kopf nicht mit». Zu Beginn konnte sie kaum in die neue Migros, zu gross war es, zu hell. Mitleid will Mosimann deswegen nicht. Diese Dinge fehlten ihr nicht, sagt sie. Das wäre nur Stress.

Für alle Fälle vorgesorgt

Nun sei es ihr lange Zeit gut gegangen. Nachdem sie erfolglos verschiedene Therapien ausprobiert hatte, nimmt sie heute ein Medikament ein, das das zentrale Nervensystem ein Stück weit gegen die Angriffe des Immunsystems schützt. Seither hat sie weniger Schübe. Momentan habe sie aber wohl wieder einen. In der Physiotherapie konnte sie von einem Tag auf den anderen nur noch ein Drittel des Gewichts stemmen. Ein Schub kann sich auch darin äussern, dass sie auf einmal nichts mehr sehen kann oder kein Gefühl mehr in Händen und Beinen hat. Nervenschmerzen hat sie momentan keine. Das ist früher manchmal vorgekommen, vor allem nachts. «Das war, als würde einem jemand mit einem Messer durch die Beine schneiden», sagt Mosimann. «Da schreit man nur noch.» Sie habe keine Angst, allein zu sein, wenn das wieder passieren sollte. Vier Personen besitzen einen Schlüssel zu ihrer Wohnung, sie könnte sie jederzeit anrufen.

Für den Fall, dass es ihr irgendwann schlechter gehen sollte, hat sie vorgesorgt. Die Gänge sind so breit, dass sie auch mit einem Rollstuhl durchkäme. Sie besitzt ein Krankenbett, das man ins Wohnzimmer schieben könnte, im aktuellen Schlafzimmer würde dann eine Pflegerin übernachten. Das Bad ist umgebaut worden. Anstelle der Badewanne gibt es eine bodenebene Dusche mit Badehocker und Handgriffen.

Beatrice Mosimann hat vor, diese Wohnung erst wieder zu verlassen, «wenn sie mich waagrecht raustragen». Hier fühlt sie sich wohl, hier ist sie zuhause. Sie zieht sich an einem Stuhl hoch, um aufzustehen, «hauruck!», und lacht dabei. Sie greift nach dem Rollator und verabschiedet sich an der Tür ihrer Wohnung, in der sie trotz Multipler Sklerose selbstbestimmt lebt. Ganz Kapitänin ihres eigenen Schiffs.

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