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Pflege

Spitex rüstet sich gegen das Coronavirus

Personell chronisch unterdotiert und eine bevorstehende Welle von Coronakranken: Wie sich die Spitex darauf vorbereitet, erklären die vier Geschäftsführer der Spitexorganisationen Bürglen, Biel-Regio, Aare-Bielersee und Seeland.

Kommt der Ansturm? Markus Irniger, Karin Roth, Marianne Hubschmid, Maurizio Pasqua Di Bisceglie (von links). Bild: Mattia Coda
  • Dossier

Interview: Brigitte Jeckelmann

Markus Irniger, Marianne Hubschmid, Karin Roth, Maurizio Pasqua Di Bisceglie, das Coronavirus krempelt gerade unser aller Leben um. Hierzulande fürchtet man sich vor einem Horrorszenario wie in Italien. Wie wappnet sich die Spitex vor der Infektionskrankheit Covid-19?

Markus Irniger: Das Bundesamt für Gesundheit hat Empfehlungen für die Spitex im Umgang mit der Corona-Situation erlassen. In dem dreiseitigen Schreiben geht es unter anderem um die Instruktion der Mitarbeiter. Einerseits sollen sie mit verstärkten Hygienemassnahmen die Klienten, aber auch sich selber vor einer möglichen Ansteckung mit dem Coronavirus schützen.

Marianne Hubschmid: Zudem enthält es detaillierte Vorschriften über die Pflege von Corona-Fällen, aber auch den haushälterischen Gebrauch des Materials, Stichworte sind Atemschutzmasken und Desinfektionsmittel. Damit unterstützt uns das BAG und gibt uns auch Sicherheit in einer Zeit, in der täglich neue Fragen auftauchen, auf die es noch keine Antworten gibt. Die Situation ist für alle neu.

Welchen Einfluss hat das Coronavirus auf die täglichen Einsätze der Spitex-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter?

Irniger: Grundsätzlich noch keine grossen, ausser den verstärkten Hygienemassnahmen. Wir sind uns bewusst, fast ausschliesslich mit Menschen aus Risikogruppen zu tun zu haben. Die allermeisten Personen, die wir regelmässig versorgen, sind über 65. Noch haben wir keinen bestätigten Corona-Fall. Dennoch müssen wir von einer Dunkelziffer ausgehen.

Hubschmid: Wir bereiten uns entsprechend unserem Kernauftrag darauf vor, dass wir möglichst lange und gut die gesundheitliche Versorgung der Menschen zuhause aufrechterhalten können.

Wie sieht das konkret aus?

Hubschmid: Ein wichtiges Thema sind die Personalressourcen und wie wir sie optimieren können. Unsere vier Spitexorganisationen überlegen sich auch, wie wir uns gegenseitig unterstützen können. Im Moment bereiten wir uns vor allem mental vor und holen die Mitarbeiterinnen mit ins Boot.

Maurizio Pasqua Di Bisceglie: Nicht nur mental, sondern auch strukturell. Das bedeutet, dass es Gefässe mit klaren Zuständigkeiten brauchen wird. Diese beinhalten Abläufe, aber auch Massnahmen. Noch hat keine unserer vierSpitexorganisationen einen Corona-Fall, weder bei den Mitarbeitern noch den Klienten. Was morgen ist, wissen wir nicht.

Karin Roth: Wir prüfen, ob wir allenfalls gezwungen werden könnten, einen Ferienstopp beim Personal zu verfügen. Aber das ist noch nicht entschieden. Als ersten Schritt klären wir mit den Mitarbeitenden, ob sie bereit wären, auf ihre Ferien zu verzichten.

Irniger: Ein zentraler Punkt ist die Doppelrolle unserer überwiegend weiblichen Pflegefachkräfte als Mutter und Berufsleute. Für die geschlossenen Schulen und teilweise Kitas brauchen wir dringend Lösungen. Denn oberstes Ziel ist, dass unsere Pflegefachleute weiterarbeiten können und nicht ihre Kinder hüten müssen. Alternativen aus dem Umfeld sind begrenzt. Wo es möglich ist, kann der Partner einspringen. Was gar nicht geht, sind die Grosseltern, die zur gefährdeten Gruppe gehören. Daher braucht es Strukturen. Wir sind darauf angewiesen, dass die Politik nun hält, was sie verspricht: Nämlich dass die Schulen eine gewisse Betreuung sicherstellen.

Was kann die Spitex tun?

Pasqua Di Bisceglie: Was im Rahmen unserer Möglichkeiten steht. Ein Beispiel: Wir haben bis vor Kurzem in Lyss eine Tagesstätte für Menschen mit einer Demenz betrieben, die nun per Bundesdekret wegen des Coronavirus geschlossen ist. Darin haben wir nun ein freiwilliges und unentgeltliches Angebot für Kinderbetreuung aufgezogen. Glücklicherweise gibt es zu den Räumlichkeiten auch einen grossen Garten. So versuchen wir, den Angestellten, die ihre Kinder sonst nirgends betreuen lassen können, eine Alternative zu bieten. Doch die Anzahl Kinder, die man dort aufnehmen kann, ist begrenzt. Weitere Hilfsangebote finden sich zunehmend auf den Sozialen Medien, wo sich vor allem die jüngere Generation organisiert und entsprechende Gefässe schafft.

Roth: Die Kinderbetreuung ist ein grosses Problem, das sich von einem Tag auf den andern ändern kann. Auch Tagesmütter fallen aus. So wie jene einer meiner Mitarbeiterinnen. Der Mann der Tagesmutter musste mit Verdacht auf Corona in die Isolation, sodass die Frau keine fremden Kinder mehr betreuen darf. So rasch dann eine andere Lösung zu finden ist nicht einfach.

Hubschmid: Kinderbetreuung ist nicht nur ein Thema bei der Spitex. Das gesamte Gesundheitswesen ist auf seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Front angewiesen, gerade bei den schon ohnehin knappen Personalbeständen.

Roth: Wir sprechen hier auch nicht von lediglich zwei bis drei Wochen. Je nachdem kann die Corona-Krise länger dauern. Deshalb braucht es für die Betreuung der Kinder Lösungen, die langfristig tauglich sind. Denn anders als in vielen Arbeitsbereichen ist Homeoffice in der Pflege unmöglich

Sie fordern von der Politik rasches Handeln für die Kinderbetreuung, damit die Spitex auf keine Mitarbeiterin verzichten muss, falls die Zahl der Corona-Fälle explodiert. Das kann schnell gehen, die Zeit drängt also.

Irniger: Ja. Aber dank den Entschlüssen des Bundesrats können wir uns jetzt vorbereiten und nicht erst dann, wenn das Feuer bereits noch mehr brennt.
Hubschmid: Sollten die Personalressourcen noch knapper werden und der schlimmste Fall eintreten, dann müssen wir unsere Leistungen auf das Wichtigste beschränken.

Pasqua Di Bisceglie: Die Triage nach Prioritäten wird extrem wichtig. Dann geht es darum, die Kräfte zu bündeln. Im Moment kommen wir mit den Ressourcen noch zurecht. Wir wissen aber nicht, wann und wie schnell sich die Situation ändert. Es ist dieses Ungewisse, das man nicht in Szenarien oder Modellen durchdenken kann. Wichtig ist, dass wir zu unseren Leuten gut schauen und sie gesund halten.

Irniger: Unsere hauptsächliche Sorge dreht sich um eine Zunahme des Klientenvolumens. Wenn wir innert kurzer Zeit ein zusätzliches Drittel Klienten mit denselben Personalressourcen versorgen müssen, sind wir bald einmal am Anschlag. Das ist die Herausforderung und eine grosse Blackbox. Denn niemand von uns hat je etwas Vergleichbares erlebt.

Hubschmid: Hinzu kommt noch etwas: Die öffentliche Spitex hat einen Leistungsauftrag. Wir dürfen keine Klienten abweisen, selbst bei einem Mangel an Personal. 

Wie ist die Stimmung unter den Mitarbeiterinnen?

Roth: Wir stellen eine gewisse Verunsicherung fest, keine Panik. Aber es gibt schon einige, die ein ungutes Gefühl haben, weil man nicht weiss, was die Pandemie für uns alle bedeutet. Da auch unter den Pflegenden solche aus Risikogruppen sind, drehen sich viele Fragen um die eigene Sicherheit und wie man sich selber schützen kann. Manche von ihnen sind unsicher, ob sie nun noch arbeiten sollen oder nicht. Das löst Ängste aus.

Hubschmid: Auch das Verhalten mancher Klienten ist beängstigend. Die breite Bevölkerung geht bis jetzt eher sorglos mit dem Coronavirus um und setzt die Hygieneregeln mangelhaft oder gar nicht um. Es gibt Leute, die einem nach wie vor ins Gesicht husten. Wir sensibilisieren die Klienten darauf, Rücksicht zu nehmen, damit die Pflegefachleute von der Spitex auch möglichst lange für sie da sein können. Es soll ein Miteinander sein. Denn nur gemeinsam werden wir diese Krise meistern.

Tragen die Angestellten der Spitex denn bei der Arbeit keine Atemschutzmasken, Handschuhe oder gar Anzüge?

Pasqua Di Bisceglie: Sie tragen Masken, Handschuhe und Schutzschürzen dort, wo es das Bundesamt für Gesundheit vorschreibt. In den anderen Situationen setzen wir auf Kommunikation, Aufklärung und halten konsequent die Hygienevorschriften ein.
Stellen die Klienten viele Fragen über die Corona-Infektion?

Irniger: Nein, die meisten informieren sich über Kanäle wie Fernsehen, Radio oder Zeitung. Wir stellen aber fest, dass bei manchen unserer Klienten die Angehörigen die Pflege übernehmen, weil sie im Homeoffice arbeiten.

Geht es nach dem Bund, sollten ältere Menschen das Haus nur noch im äussersten Notfall verlassen. Wie gehen die Klienten damit um?

Hubschmid: Das ist für jene besonders schwierig, die sowieso schon eher sozial isoliert waren. Wir hatten an unserem Standort in Studen eine Tagesstätte, die wir schliessen mussten und die zahlreiche allein lebende Menschen besuchten. Diese vermissen das Angebot. Gerade heute hat mich eine Frau angerufen und mich gefragt, ob nicht jemand von der Spitex mal vorbeikommen und mit ihr ein Uno spielen könnte. Denn seit die Restaurants geschlossen sind und nun auch die Tagesstätte, hat sie keinerlei Kontakte mehr. Nun versuchen wir, diese Lücke zu schliessen, indem die Mitarbeiterinnen der Tagesstätte stundenweise zu den Leuten nach Hause gehen, um ein Minimum an sozialen Kontakten zu gewährleisten. Es ist einfach zu sagen, geht nicht mehr aus dem Haus. Wir wollen ja auch nicht, dass die Menschen vereinsamen oder in eine Sucht abdriften. Die Massnahmen sind für viele sehr einschneidend.

Wie steht es um die Materialvorräte?

Irniger: Atemschutzmasken und Desinfektionsmittel sind wie überall knapp, aber noch ausreichend. Wir verlassen uns darauf, dass Bund und Kanton für genügend Nachschub sorgen.

Hubschmid: Ich muss an dieser Stelle die grosse Solidarität unter den Dienstleistern im Gesundheitswesen erwähnen. Beispielsweise stellt die Apotheke, mit der wir schon seit Jahren zusammenarbeiten, nun auch Desinfektionsmittel für uns her. Und das zu einem guten Preis. Auch wir vier Spitexorganisationen tun uns zusammen und schauen, wie wir das gemeinsam schaffen können.

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Zu den Personen

Markus Irniger: Geschäftsführer der Spitex Biel-Bienne Regio mit Standorten in der Stadt Biel, in Lengnau, Pieterlen, Leubringen und Magglingen.

Marianne Hubschmid: Geschäftsführerin der Spitex Bürglen, die zuständig ist für die Gemeinden Aegerten, Brügg, Jens, Merzligen, Schwadernau, Studen und Worben.

Maurizio Pasqua Di Bisceglie: Geschäftsführer der Spitex Seeland AG. Standorte sind in Aarberg, Ins, Büren, Lyss und Schüpfen. Die Spitex versorgt 42 Gemeinden.

Karin Roth: Geschäftsführerin der Spitex Aare Bielersee, die zuständig ist für die Gemeinden Bellmund, Ipsach, Ligerz, Meinisberg, Nidau, Orpund, Port, Safnern, Scheuren, Sutz-Lattrigen und Twann-Tüscherz. bjg

Stichwörter: Spitex, Coronavirus, Patienten

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