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Velotour

Thalhammers machen in Nepal und Indien Grenzerfahrungen

In Raxaul stossen Bea und Pit Thalhammer auf viel Müll und frierende Menschen. Sie wollen deshalb so rasch wie möglich nach Mumbai weiterreisen. Natürlich verläuft auch diese Zugfahrt nicht ohne Abenteuer.

In Raxaul treffen Thalhammers auf viel Verkehr und Schmutz. Das 
ständige Gehupe und Gedränge nervt sie, und auch die Kälte macht ihnen zu schaffen. Bild: zvg
  • Dossier

Pit Thalhammer

Raxaul, Indien. Keine Stadt könnte besser zum heutigen Tag passen als Raxaul. Alle negativen Adjektive, die uns zu Indien einfallen, treffen hier zu. Unglaublich, der viele Müll in den ungeteerten Strassen. Überall kauern Einheimische um kleine, stinkende Abfallfeuer, halten die nackten Füsse nah an die Glut, um sich bei Temperaturen von knapp zehn Grad aufzuwärmen. Nur wenige besitzen eine warme Jacke und anständige Schuhe. Die Menschen tun uns leid.

Eine nie enden wollende Verkehrslawine aus Lkws, rostig-verbeulten Autos, Fahrrädern, Tuk-Tuks und vielen, vielen Motorrädern deckt das Elend mit Dauergehupe zu. Purer Wahnsinn! Wo sind wir bloss hingeraten? Wir möchten einfach nur weg.

Zug fahren in Indien ist nichts für Warmduscher

Wir wissen – Internet sei dank – dass von Motihari nur zwei Züge pro Woche direkt nach Mumbai fahren (einer am Sonntag, also in zwei Tagen), Billette kaufen knifflig und nervig sein kann, man die Velos aufgeben muss, die Züge meist rappelvoll sind und frühes Buchen von Vorteil wäre. Also rasch ab zum Bahnhof. Wir haben Glück, keine lange Kolonne vor dem Schalter und der Beamte spricht leidlich Englisch. «Am Sonntag nach Mumbai? Nein, geht nicht. Ist erst in drei Wochen (!) möglich. Velos mitnehmen ok.» Nein, das kann nicht sein! Warum das? «Keine Plätze frei.»

Wir schieben die Visitenkarte des Hotels rüber und bitten ihn, die aufgeschriebene Nummer anzurufen. Vielleicht hilft etwas Vitamin B. «Nein, anrufen ist nicht möglich, aber kommen Sie morgen Samstag um 10 Uhr wieder, dann können Sie Fahrscheine kaufen.»

Hä? Wieso das jetzt auf einmal? Nach einigem Hin und Her kapieren wir, dass Billette am Schalter frühestens 24 Stunden vor der Abreise zu kaufen sind. Euphorisch schnappen wir uns ein Tuk-Tuk zurück ins Hotel. Positiv denken, dann wird das morgen schon klappen. Das tut es dann auch. Nach zehn Minuten halten wir die kostbaren Papiere in den Händen. Puh, erste Hürde geschafft!

Wir marschieren mit den Velos gleich zur Gepäckaufgabe. Zweite Hürde. Der Zug fährt morgen um 7.22 Uhr, dann ist es schlauer, die «Göppel» schon heute aufzugeben. Solche Kunden mit Velos gibt es hier offenbar selten. Das Ausfüllen der Formulare dauert (der Chef schreibt, drei Kollegen kommentieren), ein Helfer marschiert mit unseren Pässen los, um Fotokopien zu machen (ausserhalb des Bahnhofs, ich gehe mit). Nach einigen Rückfragen ist der Preis für den Velotransport endlich klar. Die Fahrräder bekommen ein Stück Wellkarton mit der handschriftlichen Enddestination umgehängt, zur Sicherheit wird noch sorgfältig ein Vermerk auf die Schutzbleche geklebt – super, alle sind zufrieden, alles paletti. Die Inder sind Meister im Improvisieren. Wir bezahlen für die 46 Stunden dauernde, 
direkte Zugfahrt nach Mumbai (2040 km, 
75 Zwischenhalte) 110 Franken in der besten Klasse, inklusive Velos, versteht sich.

Eine Express-Fahrt auf Sicht
und eine Extrawurst

10.22 Uhr, 11.22 Uhr, 12.22 Uhr, 13.22 Uhr, 
14.02 Uhr, 14.45 Uhr. Nein, das sind nicht Abfahrtszeiten verschiedener Züge, es sind die jeweils neu angekündigten Abfahrtszeiten unseres Zuges. Vier Stunden Verspätung gleich zu Beginn. Unter anderem wegen des Morgennebels kann unser Express nicht schnell fahren. In Indien tummelt sich auf den Gleisen alles, was vier oder zwei Beine hat. Gefahren wird darum auf Sicht, begleitet von nahezu ständigen Hornstössen.

Dreimal statte ich der Gepäckaufgabe einen Besuch ab, um wirklich sicher zu sein, dass unsere Velos dann, wenn es endlich losgeht, auch eingeladen werden. «No problem, no problem.» Ich bin nicht wirklich beruhigt, aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Wir reisen im Sleeper-Wagon, zwei Waggons hinter der Lokomotive, im letzten Wagen sollten unsere Rösser stehen. Der ganze Zug hat eine Länge von mindestens 400 Metern und hält nur drei Minuten. Also nichts mit Nachschauen, ob die Velos verladen werden.

Wieder einmal geniessen wir als Ausländer eine (hier willkommene) Extrawurst, 
indem wir von irgendeinem Chef in den Warteraum gebeten werden, der eigentlich Personen der Regierung vorbehalten bleibt. Anstelle edler Aktenmappen aus feinem Nappaleder schleppen wir grosse, blaue 
Taschen eines schwedischen Möbelhauses mit unserem Gepäck. Wir sind unsere eigene Regierung. Wenigstens zieht es hier nicht, und das Gratis-Wifi funktioniert. Die Inder nehmen die langen Wartezeiten stoisch gelassen, wir auch, worüber wir selber staunen. Vier Minuten oder vier Stunden Verspätung kümmern hier kaum jemanden; was solls, wir sind einfach froh, dass man uns überhaupt mitnimmt.

Wenn in Indien der Satz «no problem» fällt, wird es spannend

Wir reisen bequem und träumen angenehm in unserem Schlafwagen. Das Essen, das ans Bett serviert wird, schmeckt vorzüglich, und die Steckdosen in jedem Abteil sind ein willkommener Luxus. Nach 52 Stunden rollen wir endlich in Mumbai ein. Endstation. Die Stunde der Wahrheit ist da. «Cycle?» – «No, no, bicycle.» Ich mache dem Inder am Gepäckwagen mit kreisenden Handbewegungen klar, was ich suche. Erst mal kommen hinter der massiven Schiebetüre grosse, weisse Gepäckballen, gestapelt bis zur Waggondecke, zum Vorschein. Nein, hier können die Velos nicht sein, bestimmt ein Irrtum. «No problem, wait ten minutes», meint der Typ gelassen und schiebt mich auf die Seite. Wenn in Indien der Satz «no problem» fällt, wird es spannend.

Unter den grossen Gepäckstücken kommen weitere Säcke zum Vorschein, die sehr, sehr schwer sein müssen, so wie die Träger keuchen. Und dann erscheint das Vorderrad eines Motorrads. «Cycle?» – «No, no, two bicycles!» Mir schwant Schlimmes. Tatsächlich, bald kommt stabile Schweizer Qualität unter all den Säcken zum Vorschein. Puh, Glück gehabt, nichts ist gebrochen, lediglich ein Low-Rider 
(Gepäckträger vorne) und die hinteren Schutzbleche sind verbogen. Das lässt sich mit wenigen Handgriffen richten.

Zug fahren in Indien ist ein spezielles Abenteuer. Wir sind um Erfahrungen 
reicher, die wir trotz allem nicht missen möchten.

Info: Seit 2012 radeln die gebürtigen Safnerer Bea und Pit Thalhammer durch die Welt: 
www.bepitha.ch

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