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Berlin

Unorthodox

In Zeiten der Quarantäne findet Berlin für unseren Fernwehautor Donat Blum in Erinnerungen, vor dem Fenster und auf Netflix statt. Beispielsweise in der Geschichte einer jungen Frau.

Dank der Netflix-Serie «Unorthodox» wird in Berlin wieder Jiddisch gesprochen. Bild: Donat Blum
  • Dossier

Donat Blum

Rausgehen ist hier noch nicht. Masken werden kaum getragen. Ausser in Supermärkten, in die man sonst nicht reingelassen wird. Also bleibe ich, wann immer es geht, zuhause, schreibe, arbeite – lese endlich auch wieder – und schaue Netflix.
Beispielsweise «Unorthodox». In der vierteiligen Miniserie spielt Berlin eine wichtige Rolle. Ein Berlin, das meinem inneren Bild der Stadt ziemlich nahe kommt.

Als die jüdische Protagonistin Esty in Berlin ankommt, lernt sie eine Gruppe Musikstudierende kennen, die sie zum Baden an den Wannsee mitnimmt. Während die anderen im Wasser rumtoben, streift Esty die Perücke vom Kopf und schreitet samt Rock und Rollkragenpullover in den golden schimmernden See – direkt gegenüber derjenigen Villa, in der 1942 der Holocaust in seiner vollen Unmenschlichkeit aufgegleist wurde.

Esty ist in New York bei den Satmarern aufgewachsen. Eine chassidisch-jüdische Gruppierung. Laut Wikipedia eine Sekte. Und auf alle Fälle ultra-orthodox. Das heisst: Religiöse Regeln bestimmen das Leben der jungen Frau bis ins kleinste Detail. Die Rollen von Frauen und Männern sind klar getrennt. Vor allem davor flieht Esty nach der arrangierten Hochzeit nach Berlin. Sie möchte Klavier spielen, sie möchte sich weiterbilden und am gesellschaftlichen Diskurs teilhaben – alles Dinge, die Frauen in der Gemeinschaft, aus der sie stammt, verboten sind.

Märchen unserer Zeit

Die Serie fand viel Lob, aber auch Kritik. So störten sich Kritikerinnen unter anderem daran, dass statt einem komplexen, vielfältigen Judentum eine einzelne radikale Minderheit porträtiert wird.

«Unorthodox» erzählt einerseits die Geschichte von Estys Flucht nach Berlin, und wie sie sich dort emanzipiert, und andererseits die Geschichte ihrer restriktiven Kindheit und Jugend in New York, die mit der arrangierten Ehe enden.
Der Kontrast zwischen diesen beiden Lebenswelten wird bis in die Bildgestaltung durchexerziert. Die New Yorker Bildwelt ist braun, grau und eng. Während die Berliner Szenen licht und hell – goldig schimmernd – gehalten sind. Diese Künstlichkeit ist eine Antwort auf oben genannten Einwand: «Unorthodox» ist weniger eine Milieustudie als ein Märchen unserer Zeit: Eine Frau löst sich aus den starren Normen, die sie bestimmen, streift sie ab, wie die aufgezwungene Perücke, und findet so zu ihrem «true self».

Berlin verkörpert in «Unorthodox» die Utopie, in der jede, jeder und alle mit anderen Geschlechtsidentitäten, so sein kann, wie er, sie, sie_er, es möchte. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute – in Frieden miteinander, Israeli, Palästinenser und Deutsche. In der Serie musizieren sie zusammen am Berliner Konservatorium.

Dass es die Vielfalt und die damit verbundene Möglichkeit, so zu leben, wie man es will, ist, was mich an dieser Stadt fasziniert und anzieht, dem habe ich mich hier schon verschiedentlich angenähert. «Unorthodox» fügt dem nun aber noch eine weitere Ebene hinzu, die mich an meine Privilegien erinnert – die uns an die Privilegien unserer Zeit zu erinnern vermag: Berlin ist nicht nur Sehnsuchtsort, sondern auch der Ort, an dem der Holocaust ausgeklügelt und in dem sich das grösste Unrechtsregime der neuern Zeit installiert hat.

170000 Juden lebten einst in Berlin. Einige konnten fliehen, alle anderen wurden ermordet. Lediglich 9000 überlebten im Untergrund oder in Mischehen das nationalsozialistische Regime.

Ohne es explizit auszusprechen, macht die Serie all das deutlich. Beispielsweise indem in weiten Teilen Jiddisch gesprochen wird. Fast wäre es den Nationalsozialisten gelungen, diese Sprache auszulöschen. Sie nun in meiner gewohnten deutschen Umgebung zu hören, hier, wo diese Sprache mal zu einer gewissen Normalität gehört hat, ist besonders eindrücklich.

Das Trauma wird adressiert

Die deutsche Regisseurin Maria Schrader fasst Berlin im Making-Of der Serie mit diesen Worten: «Berlin wears its trauma on its sleeve. It is what makes the city so raw and interesting. And Esty does the same to this city. She adds to those layers.»

Esty ist es nicht allein, die der Stadt diese zusätzliche Ebene verleiht und das Trauma adressiert. Viel mehr steht Esty auch für all die Israelis, die seit einigen Jahren zahlreich nach Berlin ziehen. Neben 12000 Juden, die heute wieder in Berlin leben, sind 10000 bis 15000 säkulare, meist junge Israelis Teil der Stadt geworden. Man trifft sie beim Feiern, in Ausstellungen, auf der Strasse und in zahlreichen israelischen Restaurants, die in den letzten Jahren eröffnet haben. Sie sind zu einem sichtbaren und wichtigen Teil der hiesigen Kulturszene geworden.

In «Unorthodox» werden die praktizierenden Juden in einem jüdischen Altersheim gezeigt, in dem Estys Mutter, die aus der Gemeinde der Satmarer verstossen wurde, arbeitet. Die mehr oder weniger säkularen Israelis werden von Studierenden und Dozierenden am Konservatorium repräsentiert, die Esty in Berlin willkommen heissen.

Verschiedene Deutungsmöglichkeiten

Dass junge Israelis heute in eine Stadt ziehen, in der ihre Vorfahren verfolgt und in den Tod geschickt wurden; in der das grösste Trauma der jüdischen Gemeinschaft ihren Lauf nahm, mutet seltsam an. Zahlreiche Berichte beschäftigen sich mit diesem Phänomen.

«Unorthodox» fügt diesen zwei weitere Deutungsmöglichkeiten hinzu. Einerseits wird sichtbar, wie sehr sich Berlin entwickelt hat und es der Stadt gelungen ist, am liberalen Geist der 1920er-Jahre anzuknüpfen und so die Schreckensherrschaft zu überwinden. Und andererseits zeigt es, wie jüngere Generationen von Israelis – nicht zuletzt sind viele der Schauspieler und Schauspielerinnen der Serie inklusive der Hauptdarstellerin Shiraa Haas Israeli – sich dem kollektiven Trauma stellen, indem sie sich Berlin wieder aneignen und damit die Oberhand über die Fortschreibung der jüdischen Geschichte Berlins zurückerobern.

Die Serie ist kein Soziogramm über eine innerjüdische Minderheit, sondern eine Geschichte der Emanzipation: von Esty, von einer Frau, von Berlin und von der heutigen jüdischen Gemeinschaft, die mit «Unorthodox» endlich auch auf Netflix, in der Populärkultur und vor allem wieder mitten in Berlin stattfindet.

Info: Donat Blum, Jahrgang 1986, ist Absolvent des Schweizerischen Literaturinstituts in Biel und pendelt zwischen Berlin und der Schweiz. 2018 ist sein Debüt-Roman «Opoe» bei Ullstein fünf erschienen.

Stichwörter: Berlin, Unorthodox, Netflix

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