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Titelgeschichte

«Vo hie gani nümm furt»

Christoph Scholl ist so stark in Pieterlen verwurzelt wie ein alter Buchsbaum im Waldboden. Der 34-Jährige kennt jedes schöne Plätzchen, jeden historischen Meilenstein und jede Anekdote. Damit ist er der ideale Botschafter für «Mini Beiz, mi Verein, mis Dorf».

Copyright: Carole Lauener / Bieler Tagblatt

Text: Andrea Butorin, Bilder: Carole Lauener

Bereits als seine Bewerbung beim BT einging, war klar: Da lebt einer für sein Dorf, er liebt es und kennt sich richtig gut aus. Christoph Scholl hatte sich auf die Aktion «Mini Beiz, mi Verein, mis Dorf» gemeldet, um sein Pieterlen zu präsentieren.

Das Dorf, in dem er aufwuchs, die Schule besuchte, die Lehre als Zimmermann absolvierte. Zwar lebte er einige Jahre lang an anderen Orten, kehrte aber zurück und arbeitet heute da, verbringt seine Freizeit hier und sagt: «Vo hie gani nümm furt.»

Motiviert erwarten der 34-Jährige und sein zehn Monate alter Hund Nolan, der sicher Schäfer- und vermutlich auch Windhund-Blut in sich trägt, das BT-Team am Bahnhof.

«Nein, die Gegend um den Bahnhof ist nicht gerade die beste Visitenkarte für Pieterlen», sagt Scholl, beginnt aber trotzdem unverzüglich mit der Führung.

Hier ist das unglaubliche Wachstum des Dorfs am Jurasüdfuss ersichtlich: All die Mehrfamilienhäuser in Bahnhofsnähe seien vor zehn Jahren noch nicht gestanden. Damals lebten rund 1000 Einwohner weniger in Pieterlen als heute;aktuell zählt man 4850 Bewohnerinnen.

Auf der Südseite des Bahnhofs ist ein Stück traurige Industriegeschichte sichtbar; das über 100 Jahre alte Fabrikgebäude – einst Uhrenfabrik, ab 1936 Hauptsitz der Bohrmaschinenfirma Perles – zerfällt. Jetzt soll aber etwas gehen, ein Teil des Fabrikareals wird abgerissen und Altlasten werden saniert.

Perles – Perla – Pieterlens Selbstbezeichnung als «Perle am Jurasüdfuss» geht auf frühere burgundische Varianten des Ortsnamens zurück. Scholl will weitergehen, um seine wahre Perle zu präsentieren: das Pieterler Oberdorf.

Unterwegs geht es am Gemeindehaus vorbei, Christoph Scholls Arbeitsplatz. Er amtet hier als stellvertretender Leiter Bau und Energie. «Mein Arbeitsweg beträgt 80 Meter», sagt der Vater einer zehnjährigen Tochter lachend. Schräg gegenüber liegt der neu gestaltete Dorfplatz mit seinem Wasserspiel und einem Werbeturm für die Dorfvereine. Scholl biegt in den Brunnenweg und zeigt auf das Haus von K-Pieterlen: «Hier bieten Lea und Stefan Rusch ein engagiertes und vielseitiges Kulturprogramm an.» Eigentlich. Wegen der Coronakrise ist derzeit Veranstaltungspause angesagt.

Historisches: das Oberdorf
«Hier beginnt der schönste Teil von Pieterlen», so Scholl, der mit dem freudig mit dem Schwanz wedelnden Nolan den Brunnenweg in Richtung Alte Landstrasse hochsteigt. Gemäss eines Denkmalpflegers befindet sich in Pieterlen «die einzige Altstadt zwischen Solothurn und Biel». Gemeint ist natürlich die einzige auf einer Geraden direkt dem Jurasüdfuss entlang, um Büren aussen vor lassen zu können. Und tatsächlich, wer noch nie in Pieterlens «Altstadt» war, staunt. Das ist weit mehr als bloss ein einstiges schmuckes Bauerndorf, hier stehen stattliche, jahrhundertealte Steinhäuser.

Die Alte Landstrasse war einst Pieterlens Durchgangsstrasse – das Gebiet im heutigen Unterdorf war zu sumpfig. Bis heute muss dort bei Baustellen erst einmal gepfählt werden, wie Scholl aufgrund seiner Arbeit bestens weiss.

Oben sind aussergewöhnlich viele Perlen erhalten: Das Haus zum Himmel von 1644 etwa, das heute der Burgergemeinde gehört, einen Saal und Wohnungen beherbergt und in dem nicht nur Scholl einst wohnte, sondern auch dessen Ur-Ur-Ur-Urgrossvater. Seine Vorfahren hatten einst wie viele andere Pieterler Uhrensteine angefertigt. Wie im gesamten Jurabogen üblich, arbeiteten auch hier viele in privaten Ateliers, quasi im frühzeitlichen Homeoffice, ehe die Uhrenfabriken gegründet wurden. Davon profitieren die heutigen Hausbesitzer, denn die einstigen Ateliers weisen viele und grosse Fenster auf.

Weiter fällt die grosse Sorgfalt auf, mit der die Häuser gepflegt werden: Viele sind in den letzten Jahren oder Jahrzehnten dem Denkmalschutz entsprechend umgebaut oder restauriert worden, sie sind herausgeputzt, hübsch dekoriert, und auch die Umgebung wurde stimmig gestaltet. Sehenswert sind etwa die drei ehemaligen Mühlen, das Haus zum Himmel oder auch das ehemalige Gefängnis an der Alten Landstrasse. Das älteste Haus Pieterlens ist das Thellunghaus von 1607, benannt nach seinem Erbauer, J. H. Thellung, Vogt im Erguel. Einst war hier das Gericht, heute ist das Haus im Besitz der Burgergemeinde.

in weiteres bauliches Juwel befindet sich ausserhalb des Ortskerns. Das Schlössli Pieterlen nämlich, dessen Erbauer Sigmund Heinrich Wildermeth war, der Gründer der gleichnamigen Kinderklinik in Biel. Wildermeth lebte in Pieterlen und fand auf dem dortigen Friedhof seine letzte Ruhe.

Freizeit: 47 Vereine
Besonders schmuck ist das hölzerne Miniatur-Stöckli gegenüber dem Thellunghaus. Hier hat der Oberdorfleist, dessen stellvertretender Präsident Christoph Scholl ist, seinen Sitz. In normalen Zeiten findet da jeweils das Oktoberfest statt, für das mitten auf der Alten Landstrasse ein Zelt aufgestellt wird.

Scholl engagiert sich nicht nur beim Oberdorfleist, sondern er ist in einigen der insgesamt 47 Pieterler Vereine Mitglied: Im Theaterverein, im Feuerwehrverein (in der eigentlichen Feuerwehr Lepime auch, aber der dazugehörige Verein kümmert sich vor allem um den geselligen Teil) sowie im Gönnerverein des FC. Dies, ohne selber Fussball zu spielen. «Ach ja, ich bin ja auch noch im Obstbauverein», wird ihm später einfallen. Trotz dem zutraulichen Nolan ist er aber in keinem der beiden Hundeclubs dabei, und auch der Verschönerungsverein muss ohne Christoph Scholl auskommen. Dieser Verein kümmert sich um die tadellose Beschriftung sämtlicher Spazierwege, auch jene weit oben im Wald, wie wir später sehen werden, sowie um genügend Sitzbänkli und um Ordnung bei den Aussichtspunkten und Grillplätzen. In seiner Freizeit leistet Christoph Scholl Chronistenarbeit für das Dorf, sammelt und digitalisiert alte Fotos und Dias aus der Bevölkerung. Scholl bewohnt mit seiner Partnerin das frühere Haus seiner Grosseltern, das sie sukzessive umbauen. Nebst Nolan hält Scholl zwei Katzen sowie sechs Hühner der Rasse Silverudds Blaue, die vom Lockdown profitierten, da Scholl Zeit fand, ihnen ein Häuschen zu bauen.

Als passionierter Geocacher hat er natürlich einige Caches in Pieterlen versteckt, selber macht er sich am liebsten in Skandinavien auf die digitale Schatzsuche.

Wann genau Christoph Scholl schläft, ist unklar, denn er sagt von sich: «Ich bin vermutlich der erste ‹Bieler-Tagblatt›-Leser des Tages.» Sobald das E-Paper um 00.00 Uhr online geht, klickt er sich schon durch die Seiten. Und ab 5.30 Uhr geht er mit Nolan auf die Morgenrunde und bereitet sich dabei auf den neuen Tag vor.

Christoph Scholl ist zudem Offizier bei den Genietruppen, bald schon erwartet ihn der nächste Einsatz. Durch das Militär hat er zu einer besonderen Tätigkeit gefunden: Er ist Mitglied der Rettungskette Schweiz, die bei Erdbeben im Ausland zum Einsatz kommt. Geht der Alarm los, muss er innert sechs Stunden in Zürich am Flughafen sein. In den letzten neun Jahren war dies aber erst einmal der Fall; letzten November wurde er nach Albanien gerufen, um Verschüttete zu suchen – das BT berichtete über diesen gefährlichen Einsatz.

Überraschendes: der Burgsee
«Pieterlen hat einen See.» Mit dieser Aussage gelingt es Christoph Scholl, Ortsunkundige wie die BT-Journalistin und die Fotografin zu überraschen. Gut, über die Bezeichnung See lässt sich bei der Grösse des Burgsees streiten. Doch Scholl insistiert: «Er heisst See, also ist es auch ein See.» Es schwimmen ja auch beeindruckend grosse Fische darin.

Natürlich kennt Scholl auch den historischen Hintergrund des Sees: Zu Römerzeiten soll an dieser Stelle schon mal ein Seelein gewesen sein. Bis 1899 floss das Wasser der Kirchfluhquelle als Dorfbach durch Pieterlen und trieb die drei erwähnten Mühlen und die Sägereien an. Bis heute wird die Kirchfluhquelle als Trinkwasser genutzt. «Mittels Farbversuchen hat man versucht, herauszufinden, woher die Pieterler Quelle entspringt. Bislang ist das nicht gelungen», sagt Scholl. Die Quellfassung kann auf Anfrage bei der Burgergemeinde als Eigentümerin der Quelle besichtigt werden.

Nach der Aufgabe der Mühlen wurde das Überwasser in den Dorfbach Leugene, den die Einheimischen «Leugete» nennen, abgeleitet. Im Jahr 2000 wollten die Pieterler das Wasser wieder sichtbar machen. Die Burgergemeinde gestaltete im ehemaligen Burggraben den Burgsee, und entlang des Buchswegs wurde der Bach an diversen Stellen freigesetzt. Besonders beeindruckend gestaltet ist dies bei der privat umgebauten obersten Mühle, wo der Bach quasi unter dem Wohnzimmer hindurchfliesst – ehe er auf dem Dorfplatz als Wasserspiel zum Einsatz kommt.

Apropos Buchsweg: Der Buchsbestand im Ort ist geschützt und soll der grösste natürlich gewachsene nördlich der Alpen sein. Zu einem regelrechten Wäldchen ist das Gebüsch rund um die Kirche angewachsen. Leider ist deshalb auch der Buchsbaumzünsler ein weit verbreiteter und nicht willkommener Gast in Pieterlen.

Natur: das Gygetstüdeli
Der Burgsee befindet sich am oberen Dorfrand. Um seinen Lieblingsplatz zu präsentieren, will Christoph Scholl von da aus noch höher hinaus. Auf den gut gepflegten Waldwegen erklimmen Nolan und er Meter um Meter durch das Naturschutzgebiet Felsenheide. Ob Spuren von Artgenossen oder von Wildtieren, Nolan hat unterwegs viel zu erschnuppern. «Chum, Nölu», ermahnt ihn Scholl.

Beim Pavillon angelangt, geniesst man bereits einen tollen Ausblick. Aber Scholls nächstes Ziel liegt weiter westwärts. Verfehlen kann man es dank der Wegweiser nicht, das Gygetstüdeli, im Volksmund «Gygerstüdeli» genannt. Ein Aussichtspunkt, der einem den Atem nimmt. Direkt unter einem geht es bolzengerade die Westerfluh hinunter. Christoph Scholl liebt es, zu klettern und würde an dieser Stelle am liebsten einen Kletterpark eröffnen, doch der Naturschutz verbietet das, und vielleicht wäre das Gestein auch zu instabil.

Nolan kraxelt mit seinem Herrchen zwar oft am Jurasüdfuss herum, doch hier ist er zum ersten Mal. Er schnuppert alles ab und legt sich dann hin, die Nase weit unter dem Geländer durchgestreckt.

Der ganze Bielersee ist zu sehen und an guten Tagen sind es auch die Alpen. Heute ist leider bloss ein mittelmässiger Tag – Alpen sind keine in Sicht, aber immerhin umhüllt uns kein Nebel. Als Kind ist Christoph Scholl viele Male mit seinem Grossvater hier hochgestiegen. Während seiner letzten Ausbildung kam er gelegentlich hierhin, um auf dem in den Fels gehauenen Bänkli ungestört lernen zu können. Gross ist der Andrang auf diesen Platz einzig während des «Big Bang».

Nebst der Kirche ragt besonders das alte Schulhaus von 1911 mit seinem Türmchen aus dem Dorfbild heraus. Kita, Waldspielgruppe, Kindergarten, Unter- und Oberstufe: Pieterler Kinder können wie einst Christoph Scholl die gesamte obligatorische Schulzeit im Dorf verbringen. Das alte Schulhaus sei einst das erste Gebäude mit einer Warmwasser-Badegelegenheit gewesen, gegen ein Entgelt konnten sich die früheren Dorfbewohner im Keller der Turnhalle waschen gehen.

Kulinarisches: Perle Bräu
Das Gygetstüdeli ist ein würdiger Ort, um sich dem Kulinarischen zu widmen. Mit im Gepäck hat Christoph Scholl zwei Sorten des lokalen Biers Perle Bräus: Die Brauerei gibt es seit Anfang 2019, der Braumeister heisst Julien Kurt, und das Wasser stammt von der Pieterler Quelle.

Fix im Sortiment sind die drei Sorten Pieterler Perle (gelb), Sun downer (rot) und Black Diamond (weiss), zudem gibt es derzeit drei saisonale Biere. Scholl hat ein gelbes und ein violettes dabei: letzteres ist ein fruchtiges Sommerbier namens Crazy Girl. Das überzeugt gerade deshalb, weil es nicht allzu süss ist und immer noch nach Bier schmeckt. Mehr probieren wir nicht, schliesslich möchten wir heil wieder runterkommen.

Drei Restaurants und einen Kebabladen zählt Pieterlen. Auch mit Lebensmitteln ist das Dorf gut versorgt. Beim Kleingewerbe sieht es etwas anders aus, immerhin wird die Bäckerei nun von Grenchen aus beliefert und weitergeführt. Die Post aber schliesst demnächst und der Volg übernimmt den nötigsten Service. In der Sparte «besonderes Gewerbe» ist der neu eröffnete Gitarrenladen an der Hauptstrasse zu erwähnen.

Ein traditionsreicher Arbeitgeber in Pieterlen ist die Ziegelei, die seit 1834 besteht. Die «Lättgrube» auf dem Büttenberg ist immer noch in Betrieb, und die einstige Arbeitersiedlung Sonnenhof ist heute ein Quartier, das Junge anlockt.

Zurück im Dorf geht es bei Christoph Scholl wieder los mit «Sälü-Säge» – er wird an diesem Nachmittag niemandem begegnen, den er nicht kennt und mit Vornamen grüsst. Eine im Garten werkelnde Frau wundert sich, dass Scholl ihren Namen kennt. «Ich hatte ihr Baugesuch auf dem Tisch», sagt er schmunzelnd.

Dank seiner Vernetztheit ist Scholl im Dorf immer dabei, wenn es etwas zu feiern gibt. Alle zehn bis 20 Jahre findet in Pieterlen ein grosses Dorffest statt, das letzte war 2015. Der nächste Grossanlass ist 2023 mit dem Seeländischen Turnfest geplant, Scholl wird dabei mit Sicherheit beruflich und privat eingespannt werden.

Unterdessen sind drei lehrreiche Stunden vergangen. Auf dem Rückweg zum Bahnhof wedelt Nolan nicht mehr ganz so motiviert mit dem Schwanz wie zu Beginn. Einen kleinen Abstecher hat Scholl aber noch auf dem Plan: Er will das steinerne Ortswappen, einen Löwen, zeigen. Bis 1970 zierte dies das Restaurant Löwen-Klösterli. Nach dessen Abbruch galt das Wappen als verschollen, ehe es 2011 bei einem Privathaus wiedergefunden wurde. Nun schmückt es das Trafohäuschen an der Hauptstrasse. In der farbigen Version des Wappens wird der Löwe von einem blauen Band, der Leugene, durchquert.  «Übrigens», sagt Scholl, «trotz aller Liebe zu Pieterlen habe ich mir nicht wie andere das Ortswappen eintätowieren lassen!»

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