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Extremsituationen

Vögel geraten durch das Hochwasser in Bedrängnis

Wasservögel kommen mit Überschwemmungen eigentlich gut zurecht. Dennoch wirkt sich das Ereignis auf die Vogelwelt im Naturschutzgebiet am Neuenburgersee aus.

Treibholz und reissende Flüsse können selbst Schwimmvögel in Gefahr bringen. Bild: Heidi Flückiger
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Heidi Flückiger/sda

Der Bielerseepegel sinkt, die Hochwasserlage entspannt sich zusehends. Tage zuvor schwammen noch etliche Schwäne und Enten zwischen den überschwemmten Bäumen im Erlenwäldchen und auf dem Strandboden umher. Die meisten dieser Vögel sind mit der Hochwassersituation gut zurechtgekommen. Es komme aber vor, dass bei einer solchen Extremsituation, auch Tiere ihr Leben lassen müssten, sagt der Biologe Livio Rey von der Vogelwarte Sempach. Betroffen seien vor allem schwimmunfähige Jungvögel, die durch das Hochwasser abgetrieben werden. Laut Rey sind Wasservögel zwar bis zu einem gewissen Grad an Hochwasser angepasst. Dennoch: Hochwasser, reissende Flüsse und Treibholz, könnten auch schwimmfähigen Wasservögeln zur Gefahr werden.

 

Verlust der Flugfedern

Rey nennt als Beispiel Enten, die sich in der Mauser befinden. Denn dann verlieren sie die Flugfedern und somit auch die Fähigkeit zu fliegen, erklärt der Experte. Schwimmen könnten sie zwar immer noch. «Sie finden aber in den reissenden Fluten und bei überschwemmten Stellen weniger ungestörte Ruheplätze.» Bei ungewohnten Aufenthalten durch das Hochwasser an Land, können sich Wasservögel verletzen. In solchen Fällen ist die Vogelwarte Sempach behilflich: Sie nimmt geschwächte oder verletzte Vögel in ihrer Pflegestation auf oder vermittelt sie in andere Tierpflegestationen.

Trifft man einen verletzten Vogel an, sollte man gemäss Rey besser einen Wildhüter zu rufen oder die Polizei. Denn: «Schwäne und Enten sind nicht immer einfach einzufangen.»

Die Enten, Schwäne und Vögel in der Bieler Schwanenkolonie, wurden nicht von den Wassermassen in Mitleidenschaft gezogen. Der Wasserlauf entlang der Kolonie wurde geregelt. «Gut, dass letztes Jahr das Dach der Schwanenkolonie saniert wurde, sonst sähe es jetzt anders aus», sagte Heike Heuser, Wildtierpflegerin bei der Schwanenkolonie. Sie sei heilfroh, dass das Gebäudeinnere trocken geblieben ist, weil dort das Tierfutter lagert. «Der Verlust des Futters wäre uns teuer zu stehen gekommen», sagt sie. Verletzte Vögel und Enten wegen des Hochwassers, wurden bei der Schwanenkolonie bis jetzt keine abgegeben.

Anders sah das beim Biohof der Stiftung von Rütte-Gut an der Seestrasse in Sutz-Lattrigen aus. Der Gitzistall und das an den See grenzende Gelände wurden überschwemmt und der Geissbock, die Ponys und die Esel mussten evakuiert und andernorts untergebracht werden. Auch dort tummelten sich während der Überschwemmung Wasservögel. «Zusätzlich sind scharenweise Stare gekommen, die aus dem Boden kriechenden Würmern nachjagten», sagt Claudia Leu Fäs vom Biohof des von Rütte-Guts. Sogar ein junger Fuchs sei über das überschwemmte Gelände gerannt. Seit der Wasserpegel sinkt, verfault das durchnässte Gras. Im Garten und bei anderen Bepflanzungen des Biohofes hat nicht nur das Wasser, sondern auch der Hagel im Juni Schäden angerichtet.

 

Einige Vögel sind weg

Am Neuenburgersee sind wegen des Hochwassers einige Tierarten aus der Grande Cariçaie, dem grössten zusammenhängenden Feuchtgebiet der Schweiz, verschwunden. Viele Insekten ertranken und Vögel flogen weg an andere Orte. Die Grande Cariçaie erstreckt sich über einen 40 Kilometer langen Streifen entlang des Südostufers des Neuenburgersees und umfasst acht Naturschutzgebiete mit insgesamt rund 3000 Hektaren. Normalerweise bewegen sich Spaziergänger auf Besucherwegen durch das Schutzgebiet, das aus Mooren, feuchten Wäldern und Flachwasserzonen besteht. «Heute sieht die Grande Cariçaie wie ein mit Schilf bewachsener See aus. Wir fahren in Kanus oder mit Stiefeln dorthin, die uns bis zur Brust reichen», sagte Antoine Gander, Biologe des Vereins Grande Cariçaie der Nachrichtenagentur Keystone-SDA auf Anfrage.

 

Weniger Insekten

Erste Beobachtungen zeigten einen drastischen Rückgang der Zahl der Libellen, Heuschrecken und Grillen. Die seltene und stark gefährdete Zwerglibelle zum Beispiel sei aus ihrem üblichen Verbreitungsgebiet fast vollständig verschwunden, erklärte der Experte. Nur wenige Eier überlebten das Hochwasser.

Ein weiteres Opfer ist die sehr seltene und auf wenige Standorte beschränkte Glänzende Glattschnecke, die Sümpfe und Feuchtwiesen bevorzugt. «Tagelange Überschwemmungen überlebt sie nicht. Zuerst hat sie versucht, sich auf Pflanzenstängel zu flüchten», sagte Gander. «Dann ertrank sie.» Die Zahl der Vögel ist stark zurückgegangen. «Rohrammer, Teichrohrsänger und Haubentaucher sind dorthin geflüchtet, wo sie mehr Nahrung finden können. Sie können weit weg sein, bis zu hundert Kilometer, eher aber in den umliegenden Teichen», sagte Christophe Sahli, Ornithologe des Vereins Grande Cariçaie.

Auch einige Bruten wurden vernichtet. Enten und andere Bodenbrüter haben oft ihre Eier verloren. «Glücklicherweise war die erste Brut der im Sumpf lebenden Singvögel durch», sagte der Experte. Hingegen wird der in der Schweiz besonders seltene Purpurreiher in diesem Jahr wahrscheinlich keine Küken aufziehen, da seine Nester überflutet wurden. Im Reservat leben zwischen fünf und zehn Paare.

 

Rückkehr im nächsten Jahr

Die Folgen der Überschwemmungen für das Schutzgebiet im Detail abzuschätzen, ist zum jetzigen Zeitpunkt schwierig. Sie dürften aber vorübergehender Natur sein. Die Biologen erwarten, dass die Vögel, die weggezogen sind, im nächsten Jahr wieder zurückkehren und dass Insekten die überschwemmten Flächen wieder besiedeln werden.

Die Natur sei widerstandsfähig und sehr gut darin, sich zu regenerieren. Ein Hochwasser könne auch etwas Positives sein und die Ausbreitung bestimmter Arten an anderen Orte beschleunigen. «Das Hochwasser vom Mai 2015 lag zwar 30 bis 40 Zentimeter tiefer, hat aber den Populationen nicht geschadet», erinnert sich Biologe Gander.

In der Grande Cariçaie lebt rund ein Viertel der Tier- und Pflanzenarten der Schweiz, darunter zahlreiche seltene und bedrohte Arten.

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