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Kantonswechsel

Was Bern alles loslassen muss

Was für Verluste oder gar Gewinne bringt Moutiers Abschied von Bern? Wie wirkt sich der Übertritt der Stadt zum Kanton Jura aus?
Ein Blick auf neun Punkte.

Klar ist seit Sonntag: Moutier will in den Kanton Jura eintreten. Doch was sind die Folgen? Bild: Keystone

Stefan von Bergen

Am Sonntag hat sich Moutier in der neunten Abstimmung über seine Kantonszugehörigkeit endlich entschieden, den Kanton Bern zu verlassen. Nach Clavaleyres, das im Februar 2020 in den Kanton Freiburg übertrat, verliert der Kanton Bern also eine weitere, ungleich grössere Gemeinde.

Wie wirkt sich dieser Austritt aus? Was muss Bern alles loslassen? Eine lockere Tour d’Horizon in neun Punkten

 

1. Die Menschen

7385 Einwohnerinnen und Einwohner lebten Ende 2019 in Moutier. Sie werden bis etwa 2027 den Kanton Bern verlassen. Um so viele Personen schrumpft also die Kantonsbevölkerung von 1 039 474 Menschen. Die gute Nachricht: Der Kanton Bern fällt dadurch nicht hinter die Millionengrenze zurück. Die weniger gute Nachricht: Der frankofone Berner Jura verliert rund 13 Prozent seiner derzeit rund 54 000 Einwohnerinnen und Einwohner.

Verlieren der Kanton Bern und der Berner Jura mit Moutiers Auszug auch an politischem Gewicht? Noch nicht. Bei den Nationalratswahlen 2019 erhielt der Kanton Bern aufgrund seiner weniger schnell wachsenden Bevölkerung einen Sitz weniger. Auf einen Nationalratssitz kommen derzeit laut Bundeskanzlei rund 42 000 Menschen. Moutiers 7300 Menschen sind also nicht matchentscheidend. Die NZZ hat in einer Simulation vorgerechnet, dass der Kanton Bern frühestens bei den Wahlen 2031 einen weiteren seiner derzeit 24 Nationalratssitze verlieren könnte.

Auch in den kantonalen Gremien muss der Berner Jura trotz seinem Bevölkerungsschwund keine Verminderung seines Einflusses befürchten. Gemäss Kantonsverfassung sind ihm ein Regierungssitz und 12 Sitze im Grossen Rat garantiert.

 

2. Der Boden

Mit dem Austritt von Moutier verkleinert sich die Gesamtfläche des Kantons Bern von derzeit 5960 um 19,6 Quadratkilometer. Im Berner Jura schenkt der Landverlust weniger ein als der Bevölkerungsrückgang. Moutiers 19,6 machen von den 541 Quadratkilometern des Berner Juras gerade mal 3,5 Prozent aus. Folgenreicher ist Moutiers Abgang für den Verlauf der Kantonsgrenze zwischen Bern und Jura. Die Gemeinde Moutier hat nur eine schmale Verbindung zum Kanton Jura. Durch ihren Austritt wird eine Art Sack mit gewundener Grenze aus dem Gebiet des Kantons Bern herausgestanzt.

 

3. Die Religion

Mit dem Auszug von Moutier verlässt die Gemeinde mit dem höchsten Katholikenanteil den Kanton Bern. 45 Prozent sind dort römisch-katholisch, bloss noch 20 Prozent reformiert und 35 Prozent konfessionslos. Ab dem 16. Jahrhundert drang die Reformation von Bern aus zwar in den südlichen Jura bis nach Moutier vor. Vor allem katholische Zuwanderer aber drehten die konfessionellen Verhältnisse im Industriestädtchen wieder um.

Sechs weitere Gemeinden sind im Berner Jura mehrheitlich katholisch, weiss David Leutwyler, kantonaler Beauftragter für kirchliche und religiöse Angelegenheiten. Unter ihnen sind die grösseren Orte Tavannes und St-Imier. Auch Biel hat seit kurzem etwas mehr Katholiken. Bei all diesen Gemeinden sind aber – anders als in Moutier – Katholiken und Reformierte kräftemässig fast gleichauf.

Stärkt der Auszug des katholischen Moutier also die Position der Berner Reformierten? «Nein», sagt Leutwyler. Denn die Zahl der Reformierten nimmt generell ab, diejenige der Konfessionslosen aber zu. Ob sich mit Moutiers katholischer Mehrheit übrigens seine Affinität zum katholischen Kanton Jura erklären lässt, ist eine umstrittene Frage.

 

4. Die Sozialhilfeempfänger

Moutier ist als Industrieort konjunkturellen Schwankungen ausgesetzt. Es überrascht deshalb nicht, dass der regionale Sozialdienst Prévôté, zu dem Moutier gehört, mit 7,52 Prozent die fünfthöchste Sozilahilfequote des Kantons Bern aufweist. In absoluten Zahlen sind das 738 Empfängerinnen und Empfänger von Sozialhilfe. Diese Zahlen listet ein Bericht der kantonalen Gesundheitsdirektion von 2019 auf. Höher ist demnach die Sozialhilfequote nur in Biel (11 Prozent), in Saint-Imier (10,9 Prozent), in Tavannes (9,1 Prozent) sowie in Pieterlen (7,6 Prozent).

Zum Vergleich: In der Verwaltungsregion Bern-Mittelland mit der Stadt Bern liegt die Sozialhilfequote im Schnitt bei 4,33 Prozent. Es wäre allerdings kein besonderes Berner Verdienst, weniger Sozialhilfeempfänger versorgen zu müssen. Das Armutsproblem bleibt und muss von einem anderen Kanton getragen werden.

 

5. Die Finanzen

2019 hat die Gemeinde Moutier aus dem kantonalbernischen Finanzausgleich 2,7 Millionen Franken bezogen.

Ist diese künftig nicht mehr anfallende Belastung hoch? Lukas Röthenmund, stellvertretender Generalsekretär der Finanzdirektion, rechnet vor, dass beim Finanzausgleich 227 Millionen Franken in die Berner Gemeinden fliessen. Pro Kopf berechnet erhalte Moutier im Jahr 381 Franken, der Schnitt der 302 Nehmergemeinden liege bei 221 Franken. Damit liege Moutier im Mittelfeld auf Rang 156. Ein extremer Ausreisser ist es also nicht, mit Moutiers Weggang wird die Berner Kantonskasse nicht viel voller.

Und doch hat Moutiers Auszug Folgen für die Schatulle des Kantons. Die Autoren einer Studie haben 2016 berechnet, dass der Kanton Bern dadurch 29,4 Millionen Franken weniger aus dem nationalen Finanzausgleich (NFA) erhält, der Kanton Jura aber 26 Millionen mehr. Die Zahlenbasis hat sich seither laut Lukas Röthenmund verändert, aber man müsse mit einer Reduktion «im tiefen zweistelligen Millionenbereich» rechnen. Derzeit erhält der Kanton Bern aus dem NFA 842 Millionen Franken im Jahr.

 

6. Die Banken

Die Filiale Moutier der Berner Kantonalbank (BEKB) wird laut Sprecherin Nina Lerch auch nach dem Austritt des Städtchens aus dem Kanton Bern weitergeführt. Die BEKB betreibt schon heute vier Filialen ausserhalb der Kantonsgrenzen. Sie befinden sich im Kanton Solothurn, etwa in Grenchen.

Als Aktiengesellschaft ist sie laut Lerch frei in ihrer Standortwahl. Moutier werde zwar nicht mehr zum Marktgebiet Bern-Solothurn gehören, man werde sich aber unverändert um die Finanzbedürfnisse der regionalen Kundschaft kümmern. «Wie die BEKB in Zukunft zum Standort Moutier steht, werden die Kundinnen und Kunden entscheiden», sagt Lerch. Mal sehen, ob sie auch in der jurassischen Gemeinde einer Berner Bank treu bleiben.

 

7. Das Sorgenkind

Die 2001 aus einer Fusion hervorgegangene Drehautomatenfabrik Tornos SA führt als wohl letztes Unternehmen die einst stolze Industrietradition Moutiers weiter. Die exportorientierte Firma ist wie auch andere lokale Industriebetriebe den konjunkturellen Schwankungen des Weltmarkts ausgesetzt. Immer wieder erleidet Tornos Rückschläge. Insbesondere im Coronajahr 2020.

An der Bilanzmedienkonferenz vom März musste Tornos gegenüber dem Vorjahr einen Verlust von 30 Millionen Franken und eine Halbierung des Umsatzes bekannt geben. Der Bestellungseingang ging um 30 Prozent zurück, das Personal wurde von 729 auf 603 reduziert. Aber Tornos ist geübt, mit Sparmassnahmen und neuen Engagements etwa in China, immer wieder den Kopf über Wasser zu halten, ob im Kanton Bern oder im Kanton Jura.

 

8. Das Spital

Das Spital Moutier ist derzeit zusammen mit St-Imier einer von zwei Standorten der Hôpital du Jura bernois SA. Der Kanton Bern hat die zwei Standorte schon aufgesplittet und einen Anteil an der bernjurassischen Spital-AG an die Privatspitalgruppe Swiss Medical Network verkauft. Dem Kanton Jura bietet Bern an, als dritter Partner einzusteigen und sich so am Standort Moutier zu beteiligen. Dafür wäre auch das Network offen.

Noch ist die künftige Besitzstruktur des Spitals unklar. Im Abstimmungskampf war der Erhalt des Spitals Moutier ein Politikum. Der Kanton Jura betreibt nur wenige Kilometer entfernt das Spital Delsberg. Berns Teilverkauf an das Network empfand man im Jura als Vorpreschen. Eine Arbeitsgruppe der Kantone Bern und Jura sowie des Bundes schlägt mittlerweile in einem Bericht vor, im Spital Moutier die regionale Psychiatrie zu konzentrieren, aber auch eine somatische Akutversorgungsabteilung zu belassen. Die Zukunft des Spitals Moutier bleibt vorerst eine Knacknuss.

 

9. Die Hochburg

Moutiers Gemeindebehörden haben zwar eine separatistische, aber keine rot-grüne Mehrheit. Sechs der neun Mitglieder im Gemeinderat gehören SVP, FDP und Mitte an, nur drei der sozialistischen PSA. Moutiers Stimmberechtigte aber ticken in ihrem Abstimmungsverhalten ähnlich links wie die Stadtbernerinnen und Stadtberner. So sagten in Moutier zur Konzernverantwortungsinitiative 68 Prozent der Stimmenden Ja, in Bern 74 Prozent.

Mit Moutier verliert Bern, die linkste Stadt der Schweiz, eine geistige Verbündete. Und bei den Siegesfeiern vom Sonntagabend wurde in Moutiers Strassen noch etwas klar: Der Kanton verliert mit der Stadt eine unvergleichliche politische Leidenschaft. Jedenfalls in der Jurafrage.

Stichwörter: Moutier, Wechsel, Jura, Bern, Verlust

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