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Berlin

Wenn der eisige 
Ostwind weht

Schwindende Taxis, ein scheinbar ausländisches Märchenland und Eisiges aus Osteuropa: Fernweh-Autor Donat Blum 
versucht sich an einem Berliner Dreiklang.

Manchmal ist Berlin auch Moskau: Blick aus dem Fenster von Fernweh-Autor Donat Blum. Standort: Berlin
  • Dossier

Donat Blum

Statt mich für ein einzelnes Thema zu entscheiden, versuche ich mich heute an einem formalen Experiment, an einem Berliner Dreiklang. Ganz abwegig ist das nicht. Beim Schreiben bewahrheitet sich erstaunlich oft das Sprichwort: Aller guten Dinge sind drei. Sowohl als Leser als auch Autorinnen scheinen wir darauf konditioniert, dass drei Attribute den Kreis runder machen als zwei oder vier. "Er war hübsch, schön und heterosexuell" oder "Berlin ist die Stadt der Taxis, von Netflix, der Weltliteratur und der formalen Experimente".

Natürlich funktioniert rein grammatikalisch auch Letzteres. Nur wirkt es irgendwie holpriger, langfädiger und auf alle Fälle 
umständlicher. Also habe ich mich entschieden, mich nicht zu entscheiden. Die heutige Kolumne handelt von einem ungarischen Märchenbuch, von Berlin als Filmkulisse und von der Rolle von Taxis.

 

Taxis als Inbegriff von Luxus

Beginnen wir mit Letzteren. Rund 1400 Berliner Taxifahrerinnen haben laut «Tagesspiegel» wegen der Pandemie bereits aufgegeben. Das entspricht gut einem Fünftel der vor der Pandemie in Berlin registrierten gelben Gästefahrzeuge. Wenn U-Bahnen der Inbegriff einer Grossstadt sind, dann sind Taxis der Inbegriff von Luxus. Eigene vier Wände inklusive einem zugehörigen Fahrer für eine beliebig lange Zeit dein Eigen nennen? Was will man mehr.

Zumindest stellte ich mir das als Kind und Jugendlicher so vor, wenn ich zuschaute, wie vom letzten Zug in die Kleinstadt ein paar wenige Leute auf die fünf artig aufgereihten Taxis zusteuerten, die Türe hinter sich ins Schloss fallen und sich entspannt nach Hause kutschieren liessen, während das Gros der Leute zur Bushaltestelle strömte und dort 20 Minuten auf den Nachtbus wartete oder stattdessen den Nachhauseweg selbst unter die Füsse nahm. An tatsächliche Taxifahrten in Schaffhausen erinnere ich mich nicht. 
Bereits der Nachtbus-Zuschlag war mir nach dem Ausgang zu teuer, und so bewältigte ich die drei Kilometer ins Bett in aller Regel schwankend zu Fuss.

Ein erstes Mal auf den Geschmack des ungezwungenen Taxifahrens kam ich in China, wo ich im Rahmen eines Kulturaustauschs ein Jahr meiner Gymnasialzeit verbrachte. Auch dort war das Taxifahren teurer als Bus- und Fahrradfahren, aber nicht zehnmal teurer, sondern je nach Distanz auch mal nur dreimal. Und das Taxifahren war wesentlich selbstverständlicher als in der Schweiz, besassen damals doch die 
wenigsten Chinesen ein eigenes Auto.

Einigermassen erschwinglich wurde für mich dieser Luxus aber erst in Berlin. Nicht täglich, aber doch dann, wenn es nichts 
Bequemeres gab, als sich auf eine Rückbank fallen und nach Hause chauffieren zu lassen. Nach einer längeren Reise. Nach einer durchgetanzten Nacht. Oder auch, 
vor vier Jahren, nach der Schlüsselübergabe mit den ersten Koffern in die neue Wohnung. 3 Euro 90 kostet hier die Grundgebühr einer Taxifahrt. Zwei Euro der Kilometer. Sitzt man zu dritt im Taxi, kommt das teilweise günstiger als die Fahrt mit der 
U-Bahn für je 2 Euro 70. Der wahre Luxus aber ist und bleibt die Fahrt allein.

 

Kentucky in Berlin

Derart Rumchauffieren lässt sich auch Elizabeth «Beth» Harmon, die Protagonistin der Netflix Mini-Serie «The Queen's Gambit». Nach dem Match gegen den Schach-Weltmeister Borgov fährt sie auf dem Weg zum Flughafen in einem Taxi durch Moskau. Vor dem Fenster zu sehen sind allerdings die Zuckerbauten Berlins.

Bereits in einer der ersten Folgen kam mir der Innenraum eines Kleidergeschäfts in Kentucky unverständlich bekannt vor. Die Aufteilung des Geschäfts, die Treppe und die Balustrade sahen aus wie in der grössten Filiale der Secondhand-Kleiderkette Humana am Frankfurter Tor. Und 
tatsächlich, so ergab eine kurze Recherche online, grosse Teile der US-amerikanischen Serie wurden in Berlin gedreht. Hier fanden der Regisseur Scott Frank und sein Set-Designer, der Deutsche Ulrich Hanisch, alle Stile und Atmosphären, die es für die Serie brauchte: Der Secondhand-Laden wurde zu einem Modegeschäft in den 50er-Jahren in Kentucky, die Karl-Marx-Allee zu einem russischen Wohnviertel in Zeiten der Sowjetunion, eine Villa ausserhalb Berlins zu einem Waisenhaus in der amerikanischen Pampa, das Palais am Funkturm, ein Teil der Messe, zum Innern des Austragungsorts der US Open in Las Vegas und der Friedrichstadt-Palast zu einem Hotel in Mexico City. Selten wurde mir die architektonische Vielfalt Berlins und die hiesige Verschmelzung von Ost und West besser vorgeführt als mit dieser Serie.

 

Blick auf ungarische Bücherzerstörung

Und in der Tat, der östliche Teil Europas ist hier wesentlich präsenter, als es mir manchmal bewusst ist. Nicht nur bläst hier tatsächlich der sogenannte «sibirische Wind», der dieser Tage die Kreuzung vor meinem Fenster, die ehemalige Dimitroffstrasse, 
in eine russische Filmkulisse verwandelte. Nein, auch die osteuropäische Kulturszene sucht den Kontakt mit Berlin und macht deutlich, dass Budapest nicht weiter entfernt liegt als Biel. Von dort erreichte mich die Bitte, mit Glitter, der Literaturzeitschrift, die ich herausgebe, auf den Kulturkampf gegen LGBT aufmerksam zu machen, der sich in den letzten Wochen in Ungarn an einem intersektionalen Kinderbuch zugespitzt hat.

In «Märchenland für alle» werden klassische Märchen so adaptiert, dass in ihnen auch Roma-Kinder, Kinder mit nicht-heteronormativen Realitäten oder Kinder aus armen Verhältnissen ihre Heldinnen und Helden finden. Das passte der Regierung Orbán und seiner rechtspopulistischen 
Partei gar nicht in den Kram, und sie versuchten, das Buch für ihre Minderheiten diskriminierende Politik zu instrumentalisieren. Das Buch wurde öffentlichkeitswirksam geschreddert, partiell verboten und 
sogar Orbán persönlich nahm ziemlich unverblümt homophob Stellung dazu. Teile der Zivilgesellschaft allerdings hielten dagegen: Das Buch avancierte zum Symbol für den ungarischen Kampf gegen Diskriminierung und wurde zum nationalen Bestseller.

Das seltsame Gefühl hier in Berlin bleibt allerdings hängen: Weniger als 800 Kilometer von hier, nur eine Ein-Tages-Reise mit dem Auto entfernt, wird Literatur, wie auch ich sie mache, Literatur, die meine Lebensrealität widerspiegelt, von höchster politischer Ebene geschreddert. Es gibt viele schöne Dinge in Berlin: Taxis und Netflix-Serien sind zwei davon. Aber auch der Ostwind gehört dazu. Und manchmal weht dieser eisig.


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