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Aarberg

Wenn Mein Arzt plötzlich verschwindet

Patientinnen und Patienten stehen bei der Bahnhof-Praxis vor geschlossenen Türen. Bevor sie verschwunden sind, haben die Hausärzte wahrscheinlich monatelang ohne Lohn gearbeitet. Wie kam es dazu? Eine Spurensuche.

Copyright: Lee Knipp / Bieler Tagblatt

Mengia Spahr

Wählt man die Telefonnummer der Bahnhof-Praxis Aarberg, klingelt es ins Leere. Die Praxis ist zu. Zuletzt wurde sie von der Mein Arzt Schweiz GmbH betrieben. Im Stedtli erzählt man sich, dass die von der GmbH eingesetzten Ärzte während zwei Monaten keine Löhne erhielten und das Weite gesucht haben. Dahinter steht eine abenteuerliche Geschichte, die mutmasslich geprellte Ärzte und viele ratlose Patienten zurücklässt.

Gegründet wurde die Bahnhof-Praxis in Aarberg von Ulrich Castelberg. Vor 14 Jahren ging dieser in Pension, und das Ärzte-Ehepaar Dietmar Meier-Radun und Adelheid Radun führte die Praxis fortan. Anfang dieses Jahres kündigten sie ihren Patienten an, dass sie in den Ruhestand gehen wollen. Die Suche nach einer Nachfolge begann.

 

Ist die Nachfolge seriös?

Im Juni strahlt die «Rundschau» des Schweizer Fernsehens einen Bericht über das Geschäftsmodell eines Christian Neuschitzers aus. Die Idee des österreichischen Unternehmers klingt verlockend: Er bietet Hausärzten, die bei ihrer Pensionierung auf ihren Praxen sitzen bleiben, an, die Nachfolge zu regeln. Neuschitzers Firma kauft die Praxen, gründet eine GmbH, übernimmt Administration und Finanzen und platziert eine Nachfolgerin. Das Unternehmen verwaltet im Juni 2020 fast 30 Arztpraxen in verschiedenen Deutschschweizer Kantonen und beschäftigt 130 Angestellte. Doch die «Rundschau» deckt auf: Etwas ist faul. Diverse Praxen haben keine Bewilligung, obwohl sie eine bräuchten, es werden Abrechnungsnummern von Ärzten benutzt, die längst weg sind und Firmen verordneten Lieferstopps, sodass in den Praxen Material und Medikamente fehlen. Hausärzte diverser Mein Arzt Praxen werden von Rechnungen überschwemmt, erhalten Mahnungen und Betreibungen. Im Mai gibt es in jeder zweiten Praxis Probleme und zahlreiche Anwälte beschäftigen sich mit der Mein Arzt Schweiz GmbH. Herr F.* sieht den «Rundschau»-Beitrag im Fernsehen. Er und seine Familie waren langjährige Patienten der Ärzte Meier-Radun. Eine Woche nach der Ausstrahlung der Enthüllungen erhält er einen Brief seiner Hausärzte. «Praxisnachfolge für die Dr. med. Radun Arztpraxis ist gesichert», lautet die Überschrift. Mit dem Brief verabschieden sich Meier-Raduns und ihre Nachfolger stellen sich vor. Es handelt sich um Afrim Azizi und Andreas Grzesik. Der Brief ist mit Mein Arzt Aarberg unterzeichnet. Mein Arzt Aarberg versichert den Patientinnen, mit den genannten Ärzten «wundervolle und sympathische Hausärzte» gewonnen zu haben, «welche die Patientenversorgung in der Praxis sichern». Grzesik werde als Übergangslösung die Praxis ab Juli leiten, Azizi soll dann ab August die reguläre Nachfolge antreten.

Herr F. ist alarmiert und schreibt seiner Krankenkasse. Er fragt, ob sie die Mein Arzt Schweiz GmbH als vertrauenswürdig erachte. Im kurzen Antwortmail steht, die Krankenkasse «dürfe und könne keine Empfehlungen zur Arztwahl abgeben». Da er seine betagten Eltern nicht beunruhigen will, erzählt Herr F. ihnen nichts von der «Rundschau»-Recherche, sucht sich aber selber einen neuen Hausarzt. Im Juli tritt Grzesik die Stelle an und wird wie geplant im August von Azizi abgelöst. Die Eltern von Herrn F. sind zufrieden mit der Behandlung.

Frau K.*, deren Ehemann ein Patient der Ärzte Meier-Radun war, sagt gegenüber dem «Bieler Tagblatt», dass sie fand, die Ablösung klinge vernünftig.

 

Arztpraxen versinken im Chaos

Als die «Rundschau» Mitte August in die Zentrale zurückkehrt, ist diese leer und niemand erreichbar. Offenbar hat Neuschitzer alle Angestellten per SMS entlassen. Die Türen sind von der Kantonspolizei Zürich versiegelt worden: «Abteilung Wirtschaftskriminalität.» Für Neuschitzer, der am Ausstrahlungstermin in Italien in Unteruchungshaft sitzt, gilt die Unschuldsvermutung.

Die «Rundschau» zeigt in ihrem Beitrag vom 9. September Arztpraxen, die im Chaos versinken: Hausärztinnen und Praxisangestellte, die monatelang ohne Lohn arbeiteten, und weil auch die Lieferanten nicht bezahlt wurden, fehlt es an Material. Die Zentrale von Mein Arzt Schweiz, von wo aus rund 30 Praxen verwaltet wurden, ist wie ausgestorben. Die «Rundschau» erfährt: Neuschitzer hat sämtliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen per SMS entlassen. Die Ärzte können nichts bestellen – es gibt keine Ansprechpersonen und Vorgesetzten mehr, die meisten Mein-Arzt-Praxen schliessen. Im Beitrag gezeigt wird auch die verlassene Aarberger Praxis.

Diesen Beitrag sieht Herr F. nicht. Er erfährt auf anderem Weg von der Praxisschliessung: Im September will seine Mutter Medikamente abholen, doch die medizinische Praxisassistentin teilt ihr mit, dass Azizi weg sei. «Wann hätte sie wohl davon erfahren, wenn sie nicht vorbeigegangen wäre?», fragt sich der Sohn. Die F.s erhielten weder ein Schreiben noch einen Anruf. Offenbar wurden die Patientinnen erst im Folgemonat informiert.

Als Frau K. am 5. Oktober einen Anruf von der medizinischen Praxisangestellten der Mein-Arzt-Praxis Aarberg erhält und über die kurzfristige Schliessung der Praxis informiert wird, ist sie anfangs «hässig» auf die Ärzte, die einfach so abgehauen sind. Mit den Informationen aus dem «Rundschau»-Beitrag sei dann aber vieles klar geworden: «Jetzt verstehe ich sie, man kann ja nicht einfach weiterarbeiten, ohne je bezahlt zu werden.»

 

Viele offene Fragen

Dass die medizinische Praxisassistentin geblieben ist und die Patienten informiert hat, wird ihr von vielen Betroffenen hoch angerechnet. Aarbergs Gemeindepräsident Fritz Affolter – selber kein Patient der Praxis – hat von ihr erfahren, dass sie arbeitslos ist und ihr zwei Monatsgehälter nicht ausbezahlt worden sind. Affolter ist seit fast 20 Jahren in der Gemeindepolitik aktiv und hat einen guten Kontakt zu vielen Bürgerinnen und Bürgern. In dieser Angelegenheit wusste aber auch er nicht Bescheid. Als das Ärztepaar Meier-Radun zu praktizieren aufhörte, hätten ihn viele Patientinnen und Patienten angerufen und Hilfe angefordert. «Dabei wusste ich selber nichts; ich hatte nur die Informationen aus den Medien.» Auch Gemeinderat Patrik Schenk, Vorsteher Soziales, sagt, er wisse nichts Näheres. «Wer etwas sagen könnte, darf sich wohl nicht äussern», fügt er an. Da es sich um eine private Firma handelt, seien keine offiziellen Informationen verschickt worden. Affolter meint, dass Castelberg vielleicht mehr wisse. Doch Castelberg will sich nicht öffentlich zu den Geschehnissen äussern.

Die geprellten Ärzte ihrerseits sind wie vom Erdboden verschluckt. Meier-Raduns sind Gerüchten zufolge nach Deutschland, in ihre Heimat, zurückgekehrt. Von Azizi fehlt jede Spur.

Und Grzesik? Dieser war bereits in verschiedenen Berner Gemeinden als Hausarzt tätig. Eine Internetrecherche ergibt: Am 5. Juli 2019 wurde Grzesik in Walkringen in die Pension verabschiedet. Auf der Einladung zum Abschiedsapéro steht, dass er und seine Frau ihren Ruhestand auf Teneriffa verbringen werden. Zwischen Juni und August praktizierte der pensionierte Arzt jedoch in Aarberg und offenbar arbeitete er nicht nur dort. Laut Website der Praxis Günsberg praktiziert er in der Solothurnischen Gemeinde als Allgemeinmediziner. Der automatische Telefonbeantworter der Praxis erklärt den Patienten und Patientinnen: «Aufgrund der wirtschaftlichen Lage von Mein Arzt Schweiz bleibt die Praxis geschlossen. Wir hoffen, dass es zeitnah eine Lösung für die Patienten gibt, die ihre Akten noch nicht abholen konnten. Bitte wenden Sie sich in dringenden Fällen an …» Wurde Grezsik als Opfer falscher Versprechungen von Mein Arzt wiederholt als Übergangslösung eingesetzt?

Der Blick ins Handelsregister zeigt: Nebst der Mein-Arzt-Praxis in Aarberg gibt es im Kanton Bern noch vier andere Praxen, darunter diejenige in Walkringen, die Grzesik vor anderthalb Jahren verliess. Die Praxis in Aarberg wurde am 7. Mai eingetragen. Gesellschafter ist Christian Neuschitzer, ebenfalls unterschrieben hat seine Frau Daniela Neuschitzer. Aus der GmbH ausgeschieden ist Geschäftsführer Maurizio Bondio. Ob er kurz vor dem Zusammenbruch des Unternehmens abgesprungen ist? Nicht rechtzeitig abspringen konnten jedenfalls viele Aarbergerinnen und Aarberger. Sie standen von einem Tag auf den anderen ohne Hausarzt da.

 

Und da warens nur noch zwei

Nach der Schliessung der Bahnhof- beziehungsweise Mein-Arzt-Praxis gebe es in Aarberg nur noch zwei Hausärzte, die in den Herbstferien ausgerechnet gleichzeitig zwei Wochen Ferien machten, sagt Frau K. Sie zeigt sich besorgt über den Ärztemangel – gerade für ältere Patientinnen und Patienten, die an einer Krankheit leiden, sei der Zustand unhaltbar: «Das war vielleicht eine Sache, bis mein Mann irgendwo unterkam. Wenn man darauf angewiesen ist, braucht es doch einen Arzt in der Nähe», sagt sie. Früher habe es in Aarberg vier Hausärzte auf 3000 Einwohner gegeben; jetzt gebe es noch zwei auf 4700. «Ob ab Januar jemand die Bahnhof-Praxis übernimmt, wissen die Götter.» Die ganze Geschichte beschäftigt Frau K. «wahnsinnig».

Affolter war die Angelegenheit von Beginn an nicht ganz geheuer: «Man wusste, es gab diese Mein Arzt Schweiz GmbH. Sie hatte an anderen Orten bereits Praxen übernommen und überall hiess es, die seien nicht seriös.» Laut Affolter haben deshalb viele Patienten bereits als Meier-Raduns gingen nach Ersatz gesucht. Einige seien in Studen untergekommen, andere im Medizentrum Lyss.

Auch Praxisgründer Castelberg schien der Sache nicht zu trauen: Am 20. Mai 2020 schaltete er ein Inserat auf der Website der «neuen Generation der Haus- und KinderärztInnen», mit dem er Nachfolger für die Bahnhof-Praxis sucht. Die Überschrift: «Aarberg (BE) braucht dringend Grundversorger!» Castelberg beschreibt im Inserat einen «grotesken Notstand» und äussert die Absicht, ein Gruppenprojekt ins Leben zu rufen.

Gemeinderat Schenk zufolge ist unbestritten, dass die Bahnhof-Praxis fehlt. «Der Hausärztemangel ist leider ein schweizweites Problem, das ist nichts Aarberg-Spezifisches.» Deshalb sei ja auch die Idee von Mein Arzt Schweiz so bestechend.

Die Situation in Aarberg werde immer angespannter, so Schenk. In den nächsten fünf bis sieben Jahren würden weitere Ärzte das Pensionsalter erreichen und ihre Praxen schliessen. Seit einigen Jahren gibt es eine Spezialkommission, die sich dem Problem annimmt. Doch der Gemeinde seien weitgehend die Hände gebunden: «Wir können die Infrastruktur bereitstellen, aber keine Ärzte rekrutieren – das steht ausserhalb unserer Möglichkeiten. Trotzdem: Wir bleiben dran.»

Die Mein-Arzt-Geschichte durchblickt gegenwärtig niemand richtig und so entstehen Gerüchte: «Einige Patienten, die plötzlich auf der Strasse standen und verzweifelt einen Hausarzt suchten, haben der Gemeinde die Schuld an der Situation gegeben», sagt Affolter. «Ich habe lange nachgedacht und kann mir wirklich nicht erklären, weshalb der Gemeinderat verantwortlich sein soll.»

* Namen der Redaktion bekannt

Stichwörter: Aarberg, Arzt, Spitex, Seeland

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