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Gewerbe & Gastronomie

"Wer liest, spürt mehr"

Worte, Geschichten und Bücher sind das Leben von Annaliese Stettler. Seit bald drei Jahrzehnten führt sie in Epsach ihr Bücherstübli und trotzt mit «Schnauf und Vertrauen» den harten Zeiten im Buchhandel.

Ein Kopf und ein Raum voller Geschichten: Annaliese Stettler in ihrem Bücherstübli. Bild: Copyright Bieler Tagblatt Lee Knipp

von Raphael Amstutz

Viele von uns, die über 35, 40 Jahre alt sind, erinnern sich wohl noch an diesen Satz aus der Schulzeit: «Wer liest, weiss mehr.»

Annaliese Stettler kennt diese Worte auch – und hat sie für ihr Bücherstübli in Epsach leicht umformuliert: «Wer liest, spürt mehr.» Dass das keine Floskel ist, erfährt, wer Stettler zuhört. Mit welchen Emotionen und welcher Leidenschaft sie über Worte, Geschichten und Bücher spricht. Was für eine Begeisterung, was für ein Feuer.

Als die dreifache Mutter vor 40 Jahren von Biel nach Epsach zieht und beim Umzug auf ihren eigenen, umfangreichen Bücherbestand blickt, denkt sie: «Irgendeinmal mache ich etwas in Sachen Literatur.»

Bald wird aus der Idee eine handfeste Sache. Stettler sammelt Bücher, kauft welche ein und eröffnet im Parterre ihres Hauses, dort, wo ihre Grossmutter einst einen Spezereiladen führte, das Bücherstübli. Dabei hatte der Architekt beim Umbau an dieser Stelle einen grosszügigen Eingang vorgeschlagen. «Nein», sagte Stettler. «Hier soll Platz entstehen für Bücher.»

Bögen schlagen
Eröffnet wird das Bücherstübli 1992. Die Idee wurde damals so formuliert: «Verleih und teilweise Verkauf nicht mehr ganz neuer Bücher». Das ist untertrieben. Denn von Anfang an ist das Stübli auch ein Ort für Lesungen. Zudem organisierte Stettler während vieler Jahre Bilder-Ausstellungen, Literatur-Wochenenden, Krimi-Nächte und Märchen-Nachmittage.

In Zeiten, in denen Bibliotheken und Buchhandlungen um Kundinnen und Kunden kämpfen, in denen fusioniert wird und reihenweise Betriebe verschwinden, hält sich der kleine Raum in Epsach.

Bücher – gebrauchte und neue – können dort auch nach 28 Jahren sowohl gekauft als auch ausgeliehen werden. Ergänzt wird das Angebot mit DVDs, CDs und Musiknoten, Lehrmitteln, Kalendern und einer Ecke mit Karten und anderen Kleinigkeiten (Stettler nennt es «Gschänkchäschtli»). Die Breite der Titel ist angesichts der überblickbaren Grösse des Lokals beeindruckend. Welche Werke kommen ins Regal? Stettler fasst es mit einem Satz zusammen: «Bei mir gibt es alles, was ich auch für mich selber kaufen würde.»

Das geschriebene Wort begleitet sie seit der Kindheit. Ihre Mutter habe viel gelesen, sagt sie – für sich; sie habe ihr und ihren fünf Geschwistern aber auch oft vorgelesen. Sie sei finanziell bescheiden, aber reich in jeglicher anderer Hinsicht aufgewachsen, sagt Stettler. Wenn sie in ihrem Stübli steht und spricht, tun sich ständig neue Welten auf. Stettler greift zu diesem Buch und zu jenem, zieht hier ein Kinderbuch hervor und dort einen Gedichtband. Vor allem aber zitiert sie frei, sie verknüpft, schlägt Bögen. Die Geschichten hüpfen durch die Zeiten, die Worte finden ihren Weg, eines führt zum anderen und vor dem geistigen Auge entsteht ein Bild voller feiner Verästelungen – ähnlich dem Blätterwerk eines imposanten Baumes.

Stettler erzählt von ihrer Zeit als Sonntagsschulmitarbeiterin und Chorsängerin, von ihrer Zeit als Mutter und allgemein als «Kostentiefhaltemanagerin», wie sie es nennt. Die Literatur ist dabei immer geblieben – egal, wie viel anderes daneben war.

Freude bringen
Seit über zehn Jahren trägt Stettler das Bücherstübli auch hinaus in die Region; sie liest regelmässig den Bewohnerinnen und Bewohnern in Altersheimen in Aarberg und Nidau vor.

Um zu verstehen, was das Angebot für Epsach bedeutet, was Annaliese Stettler den Kundinnen und Kunden bedeutet und wie das alles gewachsen ist, hilft ein Blick auf ein Gedicht, das im Herbst 2005 zum zehnten Geburtstag des Bücherstüblis verfasst wurde. Dort heisst es unter anderem: «Doch wars fürs Dorf erst ungewohnt, von Anerkennung kaum belohnt, was sich das Ann’lies da erdacht in irgendeiner wachen Nacht.»

Und weiter: «Sie brachte vielen Menschen Freud, erzeugte Wissen, Zeitvertreib.» Und schliesslich: «Das Ganze hat sich doch gelohnt, die Feststellung sehr ungewohnt in heut’gen angsterfüllten Zeiten da es so fehlt an solch Besonnenheiten. Lob sei deshalb dem Leserkreisli Epsach.»

Gefühle entstehen
Natürlich spürt auch Stettler die Coronakrise. Lange Zeit musste das Bücherstübli schliessen. Zudem ist da die Tatsache, dass die Menschen weniger lesen. Der Grund ist bekannt: Zu gross ist die Konkurrenz durch 1000 andere Möglichkeiten, die Freizeit zu füllen. Das alles geht nicht spurlos am Bücherstübli vorbei. Trotzdem: Der Ort ist und bleibt – und wird auch weiterhin von einer Stammkundschaft und immer wieder auch von neuen Kundinnen und Kunden besucht. Die Infozettel und Hinweise sind bis heute handgeschrieben und mit eigenen Zeichnungen versehen. Alles ist persönlich, bescheiden und direkt.

Das Wort Rendite interessiert Stettler nicht. Die Freude treibt sie an – und durchaus auch ein Sendungsbewusstsein. «Es braucht Schnauf und Vertrauen», sagt sie. Über beides verfügt sie.

«Literatur hilft im Leben», ist Stettler überzeugt. Das Gefühl, das beim Lesen entstehe, sei wichtig, die Schwingungen, die Vernetzungen. Lesen aktiviere alle Sinne. Und, das weiss sie aus langjähriger Erfahrung: «In jedem Buch findet man etwas – in jedem.»

Info: Annelies’ Bücherstübli, Baarstrasse 5, Epsach, 032 396 22 24, Öffnungszeiten: Mo und Do, 16 bis 18.30 Uhr, Sa, 9.30 bis 12 Uhr, jeden letzten Mi im Monat 14.30 bis 18.30 Uhr. Nach Absprache auch ausserhalb dieser Zeiten. An diesem Samstag, 24. Oktober, findet im Bücherstübli zwischen 10 und 15 Uhr der traditionelle Herbstanlass mit Punsch und Guetzli statt. Für die Einhaltung der Schutzmassnahmen ist gesorgt.

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