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Plagne

Zusammen gehen sie die Wände hoch

Boris Girardin kreiert Kletterrouten am Laufmeter, sein Bruder Christophe Girardin und dessen Frau Carine Devaux Girardin schreiben Kletterführer. Alle sind Urgesteine des Bieler Juras, doch gemeinsam trifft man die Brüder nur selten an.

Die Brüder Boris (Mitte) und Christophe Girardin sowie Carine Devaux Girardin. copyright: Lee Knipp

Mengia Spahr

Der Zug von Biel nach Sonceboz fährt an der Zementfabrik von Rondchâtel vorbei. Der Blick rechts aus dem Fenster geht auf die imposanten Felswände von Plagne. Steil fallen sie von der typischen Juraebene hinunter ins Tal. Paul-Henri Girardin (1936-2010), der Vater von Christophe und Boris Girardin, ist der erste, der in den 1950er-Jahren den gelblichen Felsen bezwang.

Die Gämsen von Plagne
1979 hat Vater Girardin auf der Plagner Ebene ein Chalet erworben. Die Brüder Christophe und Boris, 1966 und 1971 geboren, begannen dort auf Felsblöcke zu kraxeln. In den 1980er-Jahren erklommen sie erstmals die von ihnen benannten Blocs des Chamois (die Blöcke der Gämsen), indem sie sich von oben mit einem Seil sicherten. Die Kletterei an den niedrigen Gesteinsformationen ist eine andere als diejenige, in die der Vater die beiden Brüder einführte. Während er in Bergschuhen kletterte und ihnen die «Klassiker» zeigte, also die langen Routen durch die ganze Plagner Wand, erkletterten die Brüder ihre Blöcke in Turnschuhen.

Bald kannten Boris und Christophe Girardin sämtliche Wege, welche die Blocs des Chamois hinaufführen, auswendig. Und bald begannen auch sie, lange und kürzere Routen zu «eröffnen» – sie mit Sicherungspunkten zu versehen, in die man Karabiner und dann das Seil einhängen kann. Nach und nach wurden die Girardin-Brüder zu Experten der Kletterei in Plagne.

Das sprach sich herum, und als Carine Devaux, die mit ihrem Vater regelmässig die Felsen von Orvin erkundete, das Klettern in Plagne ausprobieren wollte, rief sie bei den Girardins an, um Auskünfte einzuholen. «Da hatte ich Christophe am Apparat», sagt sie schmunzelnd.

Heute leben Christophe Girardin und Carine Devaux Girardin in Orvin, haben zwei erwachsene Kinder und gemeinsam ein gutes Dutzend Kletterführer geschrieben, in denen die Wege durch die Felsen sowie Felshöhe, Routenname, Erschliesser, Qualität der Absicherung, Schwierigkeitsgrad der jeweiligen Route, Empfehlungen zum Naturschutz und vieles mehr eingetragen sind. Boris seinerseits hat in Plagne hunderte von Routen eingerichtet, und jedes Jahr kommen neue hinzu.

Dass Brüder eine gemeinsame Leidenschaft für den Bergsport ausleben, ist ein verbreitetes Phänomen. Der breiten Öffentlichkeit dürften die Gebrüder Huber bekannt sein. In der Schweiz sind etwa die Remys, die Rebetez, die Nicoles oder die Zambettis Urgesteine der Szene. «Früher war die Partnerschaft im Klettern sehr hierarchisch», sagt Christophe Girardin. «Da die Routen schlecht abgesichert waren, ging immer derselbe voraus – der Mutigere.» Und Schwestern? Was ist mit den Frauen? Leider habe es in den 1980er-Jahren fast keine Kletterinnen gegeben. «Das wäre zu toll gewesen – eine Freundin, die klettert», sagt Boris Girardin. Christophe blickt zu Carine Devaux Girardin – und grinst.

Abenteuer statt Fitness
Seit Paul-Henri Girardin in Bergschuhen und mit einem Seil um den Bauch gebunden einen Weg die Plagner Felsen hinauf fand, hat der Klettersport eine enorme Entwicklung durchgemacht. Die Einführung eines neuen Kletterstils wurde bei den Girardins jeweils rege diskutiert: «Jeden Tag, von morgens bis abends, sprachen wir nur übers Klettern; es war das Hauptthema jeder Mahlzeit.»

In den 1980er-Jahren zogen die Girardins in einer Gruppe von vier jungen Romands um die Felsen. «Wir machten unser eigenes Ding und waren sehr getrennt von den Deutschschweizer Kletterern.» Einen Austausch gab es aber gleichwohl – so war im damaligen Kletterwarengeschäft in der Bieler Altstadt ein Heft deponiert, in dem die Jurakletterer ihre Erfolge und Erschliessungen eintrugen.

«Im Vergleich mit den umliegenden Ländern war die Entwicklung des Kletterns hier etwa zehn Jahre im Rückstand», erzählen die Brüder. «Wir abonnierten ein französisches Klettermagazin und reisten in den Ferien in sämtliche Modegebiete; dort kamen wir auf die Welt – das waren andere Kletterstile und ein anderes Niveau!» Die Gruppe verbrachte zahlreiche Ferientage im Dorf Finale an der ligurischen Küste: «Zuerst war man unter Kletterern, dann kamen die Freundinnen dazu und schliesslich die Kinder.» Carine Devaux und Christophe Girardin haben eine Tochter und einen Sohn, Boris hat zwei Söhne. Trotz des einschlägigen Wochenendprogramms teilt der Nachwuchs die Begeisterung der Eltern fürs Klettern nicht.

Dafür gibt es sonst immer mehr Leute, die auf den Geschmack kommen: Heutzutage spriessen Kunstwände nur so aus dem Boden. Für viele Hallenbesucher ist Klettern ein Fitnesssport, bei dem die Jagd nach dem nächsten Schwierigkeitsgrad im Fokus steht. Nicht so für die Girardins – sie interessieren sich für Schwierigkeitsgrade ebenso wenig wie fürs Bergsteigen. Zwar hatte Boris Girardin eine Phase, in der er die Grenzen seines Könnens auslotete. Doch fehle ihm die Geduld, mehrmals in eine Route einzusteigen und die Bewegungen zu üben, bis sie sitzen. Die Kletterhalle mochte er nie und die ansonsten im Gespräch sehr zurückhaltende Carine schüttelt vehement den Kopf, als sie gefragt wird, ob sie an Kunstgriffen klettere. Christophe Girardin hingegen sucht die Kletterhalle auf, ihm gefällt die Geselligkeit; «der geht nur, um zu schwatzen», sagt der jüngere Bruder neckend.

Draussen daheim
In Plagne sind denn auch andere Fähigkeiten gefordert als beim Heraufhangeln an Plastikgriffen. Unter Kletterinnen und Kletterern ist das Gestein wegen seiner Brüchigkeit berüchtigt. In diesem Gelände braucht es Kenntnisse über die Felsbeschaffenheit, und die Fusstritte müssen sitzen. Auch wenn die Grösse des Bizeps hier oft wenig zählt – fit sind die Girardins durchaus. Boris Girardin hievt seine Bohrmaschine immer wieder die Felswände hoch, um Sicherheitspunkte anzubringen. Aber die Arbeit beginne schon vorher: Wenn man eine Route in den Fels bohren wolle, müsse man zuerst die Strecke finden. Deshalb sieht man ihn oft mit dem Fernglas von Rondchâtel aus die Felswände nach geeigneten Wegen absuchen: «Ich habe noch so viele Projekte, so viele Ideen, die ich verwirklichen möchte», sagt er.

Die Pfade zu den Routeneinstiegen pflegen die Girardins liebevoll. Sie beschriften Bäume, bauen «Steinmandli» und Trockenmauern, installieren Handläufe und Seile. An manchem Ausstieg finden Kletterinnen und Kletterer ein Routenbuch, in das sie ihre Erlebnisse eintragen können. Viele Hobbykletterinnen und -kletterer sind sich wohl nicht bewusst, was für eine Arbeit hinter den fixfertigen Felsrouten steckt. Boris Girardin erzählt von Begegnungen mit Leuten, die dachten, die Instandhaltung der Kletterfelsen sei sein Vollzeitjob und er werde dafür bezahlt.

Dabei hat der gelernte Feinmechaniker eine Hundertprozentstelle bei Omega in der Qualitätskontrolle. Auch Christophe Girardin ist Feinmechaniker und seine Partnerin ist gelernte Hochbauzeichnerin, was ihr beim Skizzieren der Felswände für die Kletterführer zugute kommt. Wahrscheinlich kennt niemand die Wälder der Region so gut wie die Girardins. Boris erzählt, dass er kürzlich einen Anruf einer Kollegin erhielt, die sich in einer Felswand befand und etwas suchte, was sie dort vergessen hatte: «Ich versuchte herauszufinden, wo sie sich befand und habe ihr Fels- und Astformen beschrieben, sodass ich ihr schliesslich den Weg weisen konnte.»

Getrennte Wege
Ob sie denn immer zusammen unterwegs seien? – «Nein, nie», antworten die Girardins. Christophe und Boris, die von klein auf die Leidenschaft fürs Klettern teilen, dieselbe Ausbildung absolvierten, zusammen in die Ferien reisten und sämtliche freie Zeit im Bieler Jura verbringen, haben 1988 ihre einzige und letzte gemeinsame Route eingerichtet. «Wir klettern nicht zusammen, denn wir würden uns nur streiten», sagen sie. Dieses Jahr hätten sie ein einziges Mal zusammen geklettert, sagt der eine – «ach ja, da hatten wir bestimmt Krach», bemerkt der andere. 

Während Christophe Girardin seit 1992 mit Carine Devaux anzutreffen ist, ist Boris Girardin am liebsten alleine unterwegs. «Er mag es nicht, wenn man ihm widerspricht – eigentlich mag der gar keine Menschen», sagt Christophe mit einem verschmitzten Lachen. Boris Girardin bestätigt, ein Einzelgänger zu sein: «Manchmal sagen mir Kollegen, dass sie helfen wollen», erzählt er, «aber frage ich sie, wenn es regnet, kommen sie nicht. Scheint die Sonne, gehen sie lieber klettern als basteln.» Die Wochenenden verbringt er in Plagne im Chalet, das er vom Vater geerbt hat. Während Boris Girardin immerzu auf Trab ist, nehmen es sein Bruder und die Schwägerin auch mal gemütlich. Sie haben Enkelkinder, mit denen sie gerne Zeit verbringen, und sind sie zu faul fürs Klettern, gehen sie wandern.

Dafür, dass die Brüder Girardin angeblich nie zusammen klettern, sind sie im Kletterführer der Region ziemlich häufig gemeinsam auf Fotos abgebildet und können ganz schön viele gemeinsame Anekdoten erzählen. Besonders lustig finden sie es offenbar, wenn sich «Touristen» in ihren Gefilden verirren. Die Girardins erinnern sich bestens daran, die Autorin dieses Textes in Plagne auf Umwegen gesehen zu haben. Und der ältere der Brüder erzählt: «Kürzlich war ich mit Carine klettern, da irrten weiter unten zwei umher. Ich rief Carine zu: Lass mich hinunter, ich will sehen, was die da machen!» Alle lachen.

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