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Phobien

Der ängstliche Psychiater

Der pensionierte Psychiater Tedy Hubschmid hat unter Höhenangst gelitten. Eine einmalige Hypnose hat ihn fast geheilt, so dass er sein Wissen an seine Patienten weitergeben konnte.

Tedy Hubschmid ganz cool auf der Kirchenfeldbrücke: Heute kann er von hier die Aussicht geniessen. Früher hat er jedoch vermieden, die Brücke zu betreten, Grund dafür war die Höhenangst. Foto: Jonathan Liechti

Interview: Andrea Butorin

Wenn ein Psychiater an einer Phobie wie Höhenangst leidet – ist da nicht etwas schief gelaufen?

Tedy Hubschmid: Nein, das ist ein sehr häufiges Symptom. Angst ist normal und lebensnotwendig. Ohne sie würden wir beim Überqueren der Strasse nicht aufpassen oder andere gefährliche Dinge machen.

Trotzdem sollten Sie als Experte wissen, wo das Problem liegt und wie man es beheben kann.

Es ist eine Illusion zu glauben, es existiere irgendwo das eine Problem, das man erkennen müsse und dann beheben könne, damit danach alles gut sei.

Ist Höhenangst eine Krankheit? Eine psychische Störung? Oder eine Einbildung?

In der Psychiatrie sprechen wir lieber nicht mehr von Krankheiten, sondern von Störungen. Und eine Störung wird es erst ab dem Moment, wenn es das Leben stört und zu einem schweren Leiden führt. Ängste können sich verheerend auswirken, wenn man beginnt, gewisse Situationen zu vermeiden. Wenn man nicht mehr über die Brücke geht, sondern das Tram nimmt. Hier setzt die Therapie an, sie versucht, die Vermeidungen rückgängig zu machen. Im Falle der Höhenangst sprechen wir von einer neurotischen Störung. Angstsymptome gehören zu jeder psychischen Störung. Schizophrene haben Angst, wenn sie von Stimmen bedroht werden, auch in Demenzen oder Delirien ist Angst ein sehr häufiges Symptom.

Sie ist also keine Einbildung?

Nein. Das ist heftig. Das packt einen, der ganze Körper zeigt Reaktionen.

Sie sprechen auch von sich selbst.

Ja. Ich wohne im Kirchenfeldquartier und bin auch hier aufgewachsen. Meine Herausforderung war die Kirchenfeldbrücke. Bei mir war es so: Ich hatte nicht Angst, dass ich herunterfalle, sondern dass ich über das Geländer springe. «Äs ganz ekligs Gfüehl». Nahe am Geländer zu gehen war möglich. Aber ich hätte nicht ans Geländer treten und runterschauen können.

Wann hat sich diese Angst bemerkbar gemacht?

Als ich 10, 12 Jahre alt war, lag meine Mutter im Salemspital. Um sie zu besuchen, musste ich beide Brücken überqueren. Die Kornhausbrücke ist ja noch höher als die im Kirchenfeld. Um sie zu vermeiden, habe ich ein paar Mal den Altenbergsteg genommen. Aber diesen Zusammenhang zu kennen half mir nichts. Es ist eine Illusion zu glauben, es werde besser, wenn man den Grund von etwas kenne. Deshalb sucht die Psychotherapie nicht nach Gründen.

Was hat die Höhenangst bei Ihnen körperlich ausgelöst?

Wenn ich mir früher nur schon vorgestellt habe, ich gehe über die Brücke und trete ans Geländer, hätten sich mir die Fusssohlen verkrampft. Verhaltenstherapeuten sagen: Immer dann, wenn körperliche Reaktionen auftreten, verstärkt sich die Angst wieder. Aber jetzt kann ich davon erzählen, ohne dass etwas passiert. Es ist also schon viel besser.

War Ihnen diese Angst damals von irgendwoher bekannt?

Später habe ich vernommen, dass mein Vater während des Krieges bei den Gebirgsjägern war. Viele von ihnen hatten Höhenangst. Aber indem sie stundenlang auf Bergnasen herumsassen und die Aussicht genossen, haben sie sich gleichzeitig die Höhenangst abtrainiert. Die gleiche Art von Therapie ist übrigens auch von Goethe auf dem Strassburger Münster überliefert. Meine Mutter hatte extreme Angst vor der Höhe und hätte nie erlaubt, dass Vater mit uns «z Bärg» ging. Ich glaube schon, dass Eltern ihre Kinder mit Ängsten anstecken können.

Aber es ist nicht im genetischen Sinn vererbbar?

Das ist schwierig zu sagen, die ganze Vererbungsfrage bei Ängsten und Depressionen ist in einem totalen Wandel begriffen. Bei Depressionen beispielsweise ist man auf vererbbare Merkmale gestossen. Demnach ist es auch bei Höhenangst nicht auszuschliessen.

Litten Sie an weiteren Ängsten?

Als Kind fürchtete ich mich, in den Keller zu gehen. Ich bin generell ein eher scheuer Mensch. Ganz anders meine Frau, die fürchtet sich vor kaum etwas.

Sie haben angesprochen, dass sich die Angst bei Ihnen gebessert hat. Wieso?

Mit Mitte 30 meldete ich mich im Rahmen einer Hypnoseausbildung als Versuchskaninchen für die Handlevitation. Da bewirkt Hypnose, dass ein Arm immer leichter wird, bis er schwebt. Die Therapeutin meinte, wenn ich ein Problem hätte, könnte sie das gleich mit reinnehmen. Und so erzählte ich ihr von meiner Höhenangst. Im Hypnosezustand – was im Übrigen nichts mit Jahrmarkt-Hokuspokus, sondern mit einer tiefen Entspannung zu tun hat – sind wir das Problem angegangen. Die Levitation hatte nicht geklappt, aber mit der Höhenangst ist es seither viel besser.

Dank einer einzigen Hypnosesitzung?

Ja. Im Zustand extremer Entspannung sind wir gedanklich zusammen von meiner Praxis aus via Helvetiaplatz auf die Kirchenfeldbrücke gegangen. Ich hielt mich am Geländer fest, blickte runter und genoss diesen Zustand. Sie suggerierte mir: «Es ist schön, dass du das kannst. Wie toll die Aussicht ist!» Das muss ich mir heute noch ab und zu sagen, wenn ich über die Brücke gehe. Aber ich kann es jetzt auch wirklich tun. Mich am Geländer halten und runterschauen. Aber es ist nicht immer ganz einfach.

Die Angst ist also nicht ganz weg?

Nein. Vor Kurzem habe ich mich wieder einer Situation auf dem Stockhorn ausgesetzt, die schlimm war. Es geht immer besser, aber es ist nicht vorbei.

Sie haben Goethe erwähnt. Eine Selbsttherapie ist also möglich?

Ja. Aber es kostet einiges an Aufwand und Stress. Es wird sie ganz schön packen.

Was muss ich tun?

Entspannen Sie sich und versuchen Sie, sich in Gedanken in eine kritische Situation zu begeben. Üben Sie zunächst die leichteren Sachen und dann steigern Sie den Schwierigkeitsgrad. Anschliessend machen sie es in der Realität. Sie können jemanden um Unterstützung bitten, denn so verpflichtet man sich. Bei den Suggestionen müssen Sie aufpassen. Wenn sie sagen: «Es ist nicht gefährlich», kommt nur «gefährlich» an. Dasselbe bei «es tut nicht weh». Das verstärkt die Angst. Man muss sich positive Dinge sagen wie «ich kann das» oder «ich freue mich auf den neuen Freiheitsgrad.» Wenn Sie sich wie Goethe ihrer Angst aussetzen wollen, wird diese während 10 bis 12 Minuten immer schlimmer werden. Aber danach geht sie zurück. Das ist ein wichtiges Erlebnis; man merkt, dass man nicht dran stirbt. Sollten Sie es nicht alleine schaffen, dann versuchen Sie es mit einer Therapie.

Oder vielleicht mit einem Medikament?

Es gibt angstlösende Medikamente, Temesta ist beispielsweise berühmt. Aber die sollte man nicht nehmen, denn sie machen abhängig. Zwar sind sie hochwirksam, aber man hat dabei keinen Lerneffekt. Einzig Menschen mit extremer Flugangst kann man ausnahmsweise ein Temesta geben, als Notfallmedikation. Aber sobald man regelmässig fliegen muss, darf man es nicht mehr nehmen. Bei schweren Ängsten kann man ausserdem Antidepressiva verschreiben. Das nimmt den Angstdruck weg und macht nicht süchtig.

Falls ich es schaffe, meine Höhenangst zu überwinden, besteht nicht die Gefahr, dass eine andere Angst den freigewordenen Raum einnimmt?

Man spricht immer von der Symptomverschiebung, aber daran glaube ich nicht. Es ist aber auch nicht so, dass einfach alles weg sein wird. Es wird einfach viel besser.

Sind Phobien wie Höhenangst oder die Furcht vor Spinnen für einen Psychiater im Vergleich etwa zu einer Depression oder einer Schizophrenie ein Honigschlecken?

Nein. Alle Störungen können leichter oder schwerer ausgeprägt sein. Eine massive Spinnenphobie kann das Leben auch furchtbar einengen.

Ihr grösstes Problem scheint die Kirchenfeldbrücke gewesen zu sein. Wie sieht es mit anderen Herausforderungen aus, dem Münster etwa?

Da war ich auch schon. Als Junge, notabene bereits mit Höhenangst, war ich sogar einmal ganz oben im Spitz. Mit Kollegen. Es war furchtbar. Aber auch schön.

Fallschirmspringen?

Nein, das habe ich noch nie gemacht. Man muss ja auch nicht alles machen. Ich bin schliesslich auch noch ein bisschen ein Grüner.

Stichwörter: Hypnose, Psychiater

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