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Uhrenbranche

Die Verunsicherung ist gross

Die ETA darf auch mit der jetzigen Weko-Verfügung in den nächsten Monaten KMU mit Uhrwerken beliefern – 
gibt aber an, dies sei nicht möglich. Es profitiert der ETA-Konkurrent Sellita – aber auch die Händler auf dem Graumarkt.

Bild: bt/a

Tobias Graden

Für einen kurzen Moment sah es am Mittwochabend so aus, als löse sich die verzwickte Situation um die Wettbewerbskommission (Weko), die Swatch Group mit der Uhrwerkherstellerin ETA und den zahlreichen von ihr abhängigen Uhrenmarken halbwegs in Minne aus.

«Weko verlängert Liefervereinbarung für Swatch-Tochter ETA», betitelte die Nachrichtenagentur AWP eine Meldung, die sie gegen 20.30 Uhr verschickte. Patrik Ducrey, Direktor der Weko, bestätigte die Verlängerung der einvernehmlichen Regelung mit der Swatch Group, die Ende Jahr ausgelaufen wäre, um ein Jahr. Im Artikel hiess es: «Mit diesem Entscheid stösst die Kommission einen vom eigenen Sekretariat unterbreiteten Vorschlag um, der ab 2020 einen Lieferstopp für die Lieferung an Drittfirmen verlangt hätte.»

 

Langer Vorlauf nötig

Allein: In Wirklichkeit war es ziemlich anders. Gestern Morgen publizierte die Weko ihren Entscheid. Die Verfügung, die dem BT vorliegt, besagt tatsächlich: «Die Lieferungen mechanischer Uhrwerke von ETA (...) an ihre bisherigen Kunden (...) werden ab dem 1. Januar 2020 vorläufig ausgesetzt.» Dazu kommt es allein schon aus faktischen Gründen: Angesichts der langen Vorlaufzeiten ist es der ETA nun zeitlich gar nicht möglich, Bestellungen von Drittkunden zu bedienen.

Dieser Lieferstopp betrifft zumindest auf dem Papier jedoch nur die Grosskunden. Für die KMU lässt die Weko wie in der bisher geltenden einvernehmlichen Regelung (EVR) die Hintertür einer Ausnahmeregelung offen. Die ETA ist frei, ihnen mechanische Uhrwerke auch in einem Umfang zu liefern, der über die in der EVR festgelegten Menge hinausgeht. Es gibt aber zwei Einschränkungen: Die ETA muss alle KMU gleich behandeln. Und um zu verhindern, dass die so auf den Markt gelangenden Werke nicht doch zu den grossen Playern gelangen, ist ihre Gesamtzahl auf die Gesamtbestellmenge aller KMU des Jahres 2018 beschränkt.

Bleiben also wenigstens die kleinen und mittleren Uhrenhersteller im nächsten Jahr von Lieferrestriktionen verschont? Leider nein, heisst es auf Anfrage bei der Swatch Group. Die Produktion brauche neun bis zwölf Monate Vorlauf. Die im Jahr 2019 eingegangenen Bestellungen hätten wegen der bestehenden Ungewissheit nicht bestätigt werden können, und faktisch bestünden die Restriktionen auch für KMU über das Jahr 2020 hinaus: Da unsicher sei, wie der nun für Mitte 2020 in Aussicht gestellte definitive Entscheid der Weko ausfalle, könnten auch bis dahin keine Bestellungen bestätigt werden.

Insgesamt werde ETA 2020 nun eine halbe Million weniger mechanische Uhrwerke produzieren als letztes Jahr. Das ist ungefähr die Gesamtmenge, die bislang an Dritte ging. Schätzungen von Branchenkennern zufolge dürfte es sich dabei zum grossen Teil um Lieferungen an grosse Kunden wie TAG Heuer, Breitling und IWC handeln, die Gesamtmenge für KMU dürfte unter 100 000 liegen.

Die Swatch Group machte gestern keine Angaben, welche Konsequenzen dies für die Beschäftigten bei der ETA haben wird.

 

«Ein Drittel bricht weg»

In der Branche ist die Verunsicherung gross. «Wir sind verwirrt, wir wissen nicht, was gilt und wie es weitergeht», sagt der CEO eines mittelgrossen Herstellers aus der Region (Name der Redaktion bekannt). Das Problem: Nicht für alle mechanischen Uhrwerke gibt es Alternativen im Markt. Für mechanische Damenuhren zum Beispiel sei ETA nach wie vor konkurrenzlos. Der Graumarkt sei keine wünschenswerte Alternative. Bei besagter Marke werde 2020 ein Drittel des Umsatzes wegbrechen, wenn keine ETA-Werke verfügbar seien. Der Geschäftsführer ist enttäuscht: «Wir haben der Weko klar signalisiert, worum es geht – doch das wurde offenbar nicht berücksichtigt.»

 

Umfangreiche Untersuchung

Wie konnte es so weit kommen? Eigentlich wurde ursprünglich nicht eine vorübergehende Verfügung, sondern der definitive Entscheid erwartet, wie es im Markt der mechanischen Uhrwerke im Allgemeinen weitergeht. Zu diesem sieht sich die Weko aber noch nicht imstande, weil die Untersuchung, die für den Abschluss des 2018 eröffneten Wiedererwägungsverfahrens nötig ist, noch nicht abgeschlossen ist. Die Weko bedauert diesen Umstand, macht dafür aber mehrere Faktoren geltend. So hat sie nicht weniger als 191 Unternehmen befragt – dreimal mehr als in früheren Untersuchungen. Dieser Umfang sei auf Wunsch der Swatch Group erfolgt.

Bei der Lektüre der ganzen Verfügung kann zudem der Eindruck entstehen, dass der Uhrwerkhersteller Sellita – der als bislang einziger namhafter ETA-Konkurrent von der jetzigen Situation profitiert – die Untersuchung mit längeren Antwortzeiten und zahlreichen Eingaben verlängert hat. Im Juni kam es gar zu einer Anzeige von Sellita gegen Nivarox und Swatch Group.

 

Die Schwelle: 35 Prozent

Die Swatch Group macht nun jedenfalls geltend, sie habe im Bereich der mechanischen Uhrwerke für Dritte keine marktbeherrschende Stellung mehr. Während sie eine halbe Million Werke verkaufe, fertige Sellita eine Million pro Jahr. Wenn diese Zahlen stimmen – die Weko bestätigt sie nicht –, dann läge der Anteil von ETA unter jenen 35 Prozent, die 2013 in der EVR als Schwelle festgelegt worden waren. Allerdings ist dies die Momentaufnahme für 2019, und ETA hatte letztes Jahr von sich aus die Bestellmengen von KMU gedrückt (vgl. BT von gestern). Das sei jedoch nicht zur künstlichen Herabsetzung des Marktanteils erfolgt, verteidigt man sich bei der Swatch Group, sondern wegen der durch das Wiedererwägungsverfahren angestossenen Ungewissheit.

Allerdings geht es in der Verfügung ohnehin nicht nur um den Ist-Zustand, sondern vor allem um den Blick in die Zukunft. Entscheidend sein wird nämlich nicht, ob die ETA – wie in früheren Jahren befürchtet werden konnte – den Markt auszutrocknen gedenkt, sondern ob sie im Gegenteil viele Uhrwerke zu günstigen Preisen verkaufen könnte, so dass die Marktchancen der alternativen Anbieter umgehend wieder geschmälert würden. Die Swatch Group widerspricht dieser Darstellung, ist aber offenbar verbindliche Aussagen über ihre künftigen Pläne nach dem allfälligen Wegfall der Beschränkungen schuldig geblieben. Die Weko begründet ihre Verfügung auch damit, dass dem Wettbewerb «ein nicht leicht wieder gutzumachender Nachteil» drohe, wenn ab Januar der ETA sämtliche Lieferverpflichtungen entfielen.

Swatch-Group-intern wird die jetzige Verfügung bereits «Lex Sellita» genannt, und in der Mitteilung vom Mittwochabend wirft der Konzern der Weko implizit vor, von Sellita beeinflusst zu sein. «Diesen Vorwurf weisen wir mit aller Vehemenz zurück», sagt Weko-Vizedirektorin Andrea Graber Cardinaux, «wir sind unabhängig. Unser Interesse ist der Schutz des Wettbewerbs, nicht von einzelnen Parteien.»

Noch gestern hat die Swatch Group mitgeteilt, dass sie die Verfügung vor dem Bundesverwaltungsgericht anfechten und womöglich Schadenersatz einfordern werde. Aufschiebende Wirkung hat dies aber nicht. Die Weko rechnet ihrerseits damit, bis im Sommer den Entscheid in der Hauptsache zu fällen.

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Hongkong dämpft Exporte

Der Verband der Schweizerischen Uhrenindustrie FH hat gestern die Exportzahlen für November veröffentlicht. Im Vergleich zum Vorjahresmonat ist der Wert der Uhrenexporte um 3,5 Prozent zurückgegangen. Zurückzuführen sei dies in erster Linie auf die Ereignisse in Hongkong, teilte die FH mit. Die übrigen Märkte seien zumeist stabil. Hongkong jedoch ist nach den USA der zweitgrösste Markt für die Branche. Und nachdem schon im Oktober ein Exportrückgang um fast 30 Prozent zu beobachten war, betrug dieser nun 26,7 Prozent. In Grossbritannien und Frankreich gab es ein Minus von etwas über 17 Prozent. Angesichts dieser Zahlen sowie der Wirren um die Lage auf dem Markt der Uhrwerke (vgl. Haupttext) sank gestern der Kurs der Aktien von Swatch Group und Richemont.

Verbandspräsident Jean-Daniel Pasche zeigte sich nach der Weko-Verfügung besorgt. Es drohe ein Mangel an Werken mit dem Gütesiegel «Swiss made», sagt er. tg

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