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Wochenkommentar

Eine breite Reform statt «AHV plus»

Der Wochenkommentar von Tobias Graden.

Symbolbild: Keystone

Heute Nachmittag wehen auf dem Bundesplatz die roten Fahnen der Gewerkschaften. Diese laden zur Demonstration gegen das drohende «Rentenmassaker», dem sie ihre Initiative «AHV plus» entgegensetzen. Deren Forderung ist einfach: Zehn Prozent mehr AHV für alle.

In ihrem Argumentarium führen die Gewerkschaften zahlreiche richtige Punkte auf. In der Tat ist die AHV die effizienteste und günstigste Altersvorsorge. Praktisch jeder Franken, der eingezahlt wird, geht zu den Rentnerinnen und Rentnern. Eine etwas höhere AHV-Abgabe um je 0,4 Prozent für Arbeitnehmer und -geber, wie sie die Initianten vorschlagen, wirkt sich darum sehr spürbar auf die Renten aus. Höhere Renten aus der zweiten und dritten Säule sind in absehbarer Zukunft angesichts der Tief- und Negativzinslage und der zurückhaltenden Weltkonjunktur tatsächlich nicht zu erwarten. Auch trifft es zu, dass sich die AHV als robuster erwiesen hat, als dies vielfach vorhergesagt wurde. Eine markant gestiegene Beschäftigtenzahl, höhere Produktivität und damit verbunden eine Steigerung der Löhne haben auch die Einzahlungen in die AHV gesteigert – zumal für die AHV die ganzen Löhne berechnet werden, die Renten jedoch gedeckelt sind. Ein «Schlechtreden» der AHV sei also unangebrachte Angstmacherei, sagen die Initianten.

Allein: Die Sache hat mehrere Haken. Zum einen hat sich die komfortable finanzielle Lage der AHV in letzter Zeit deutlich verschlechtert, der Ausgleichsfonds schliesst mittlerweile mit Defiziten. Eine Trendwende ist nicht in Sicht, denn nun kommen die Babyboomer in Rente. Einfach gesagt: Weniger Erwerbstätige müssen mehr Renten finanzieren. Weil das über die AHV-Abzüge nicht ausreicht, ist eine Erhöhung der Mehrwertsteuer breiter politischer Konsens und in der Reform «Altersvorsorge 2020» ohnehin schon vorgesehen. Bundesrat Alain Berset, selber Sozialdemokrat, hat klargemacht: Er sehe für die AHV-plus-Initiative derzeit keinen finanziellen Spielraum, ohne Gegenmassnahmen wachse das jährliche Defizit im AHV-Ausgleichsfonds schon so stark genug an.

Wenn die Initiativbefürworter dieser Tage für ihr Anliegen weibeln, ist nämlich bezeichnend, worüber sie schweigen: Gemäss heutigem Finanzierungsschlüssel müssten 800 Millionen Franken der Kosten aus Bundesgeldern kommen – ein Betrag, der nicht gar so leicht aufgetrieben werden kann. Die vergangene Zunahme der Löhne und der Beschäftigtenzahl lässt sich zudem kaum einfach so in die Zukunft extrapolieren: Die Digitalisierung könnte den Arbeitsmarkt vor ganz andere Herausforderungen stellen, als wir dies bislang kennen, und eine hohe Zuwanderung (die das Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum in den letzten Jahren stützte) ist schon politisch nicht mehr mehrheitsfähig. Hinzu kommt, dass die Initiative gerade jenen Menschen, die einen Zustupf am dringendsten brauchen könnten, nichts nützt: Für einen guten Teil der Bezüger von Ergänzungsleistungen (EL) wäre sie ein Nullsummenspiel; gegen 15 000 von ihnen fahren sogar schlechter, weil sie, anders als die EL, die AHV-Renten versteuern müssten. Die Initiative kommt also nicht nur finanzpolitisch zur Unzeit, sie ist mit ihrem Giesskannenprinzip auch weniger sozial, als es den Anschein macht.

Dass in der Altersvorsorge aber grosser Reformbedarf herrscht, um sie für die Zukunft zu sichern, steht ausser Zweifel. Mit dem Nein zu «AHV plus» ist es nicht getan. Der Bundesrat hat ein breites, ausgewogenes Massnahmenpaket vorgeschlagen, das der Ständerat sogar noch leicht zugunsten der Rentner verbessert hat. Es ist nun an der bürgerlichen Mehrheit im Nationalrat, die nicht mehrheitsfähigen Forderungen seiner Kommission wieder zu kippen. Denn ein gänzliches Scheitern der «Altersvorsorge 2020» kann sich die Schweiz nicht leisten.

E-Mail: tgraden@bielertagblatt.ch

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