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Berufsbildung

«Mit einer Lehre hat man alle Chancen»

Dass die Berufsbildung heute verakademisiert ist, sei ein Schlagwort. Mit der Berufsmatura seien im Gegenteil die praktischen Berufe gestärkt worden, sagt der Berner Erziehungsdirektor Bernhard Pulver.

Das schweizerische Bildungssystem sei der Grund für die tiefe Arbeitslosigkeit, sagt der Berner Erziehungsdirektor Bernhard Pulver. Bild: Chris Harker/a

Interview: Thomas Uhland

Bernhard Pulver, wie verakademisiert ist die Berufsbildung im Kanton Bern heute?

Bernhard Pulver: Überhaupt nicht. Die Berufsbildung ist ja eine der grossen Stärken des schweizerischen Bildungssystems. Ich bin je länger desto mehr überzeugt davon, dass die Aufteilung in rund 20 Prozent akademische Ausbildung über die Gymnasien und Universitäten einerseits und eine gute Berufsbildung mit vielen Entwicklungsmöglichkeiten andererseits hervorragend ist. Dass unsere Arbeitslosigkeit so tief ist, hat genau mit unserer Bildung zu tun. Möglicherweise sind die schulischen Anforderungen in einigen Berufen zu hoch – doch diese Forderungen kommen nicht von uns, sondern von den Berufsverbänden.

Aber 1998 schlossen im Kanton Bern 22,3 Prozent mit einer Matura ab, 13 Jahre später waren es 34,1 Prozent!

In dieser Zeit wurde vor allem die Berufsmatura gesteigert. Die gymnasiale Matura liegt seit der Aufhebung der Seminare um 2002 relativ konstant bei 17 bis 19 Prozent. 2011 absolvierten 15,4 Prozent eine Berufsmatura. Vergleicht man diese Zahlen mit der gesamten Schweiz, so stellen wir fest, dass die gymnasiale Matura in Bern unter dem Durchschnitt liegt, die Berufsmatura hingegen darüber. Die Berufsmatura bedeutet eine Stärkung der Berufsbildung. Sie ist ein wichtiger Grund, wieso die Schweiz mit ihrer Berufsbildung so erfolgreich ist. In anderen Ländern versuchte man die Universitätsquote zu erhöhen, in Spanien etwa auf gegen 50 Prozent!

Mit dem Resultat, dass die Jugendarbeitslosigkeit riesig ist.

Frankreich hat festgestellt, dass diese Politik ein völliger Fehler war! Überspitzt gesagt, haben am Schluss alle einen Uni-Abschluss – und fahren danach Taxi. Denn man braucht gar nicht so viele Biologen und Historiker! Es braucht auch gute Berufsleute in allen Sparten. Wir haben in der Schweiz anspruchsvolle Berufsausbildungen, verbunden mit der Chance, sich weiterzuentwickeln mit einer Berufsmatura und, dank Passerelle-Angeboten, sogar mit einem Hochschulabschluss. Darum können wir den Oberstufenschülern heute mit gutem Gewissen sagen: Ihr könnt an den Gymer gehen oder eine Berufslehre machen, und habt danach alle Chancen.

Trotzdem beklagen sich KMU, dass sie Mühe haben, genügend geeignete Lernende zu finden. Der Grund sei, neben der demografischen Entwicklung, dass zu viele Schulabgänger ans Gymnasium wollen.

Es gibt eine Angst bei den Berufsbildnern, dass bei rückläufigen Schülerzahlen in der Volksschule die Gymnasien ihre Klassen füllen, und für die Berufsbildung gebe es dann zu wenige Anwärter. Doch da kann ich wirklich entwarnen. Im Gegenteil ist die Zahl der Lehrverträge in den letzten Jahren sogar massiv gestiegen. Die Wirtschaft hat sogar während der Krise weitere Stellen geschaffen – dafür gehört ihr ein Kompliment!

Trotzdem gibt es in den technischen Berufen einen Fachkräftemangel.

Tatsächlich fehlen teilweise junge Berufsleute. In anspruchsvollen Berufen wie etwa Polymechaniker bräuchten wir Lernende, die auch das Gymnasium schaffen würden. Doch diese wählen oft lieber einen Beruf wie Jurist oder Werbetechniker. Dazu kommt das Vorurteil, dass solche Berufe zu schwierig seien, und dass eine Karriere in diesen Berufen nicht möglich sei. Doch das ist ein Irrtum! Diese Berufe sind sehr gefragt und gut bezahlt.

Gibt es nicht auch das Vorurteil, dass man in diesen Berufen ständig dreckige Hände hat?

Genau, dieses Vorurteil kommt dann noch dazu. Dabei hat man als Polymechaniker heute kaum noch schwarze Finger.

Bei Gesprächen mit Wirtschaftsvertretern höre ich, dass ihnen die Schulabgänger mit technischem Gespür fehlen. Sollte hier nicht die Schule Gegensteuer geben?

Einverstanden. Das Problem liegt aber auf zwei Ebenen. Einerseits sind wir zwar von Technik umgeben und sind auf sie angewiesen. Trotzdem bevorzugen viele Jugendliche akademische Berufe, in denen die gesellschaftliche Anerkennung höher ist. Um dies zu ändern, muss man schon in der Schule beginnen. Mit dem Projekt «Bildung und Technik» wollen wir darum Schulen und Betriebe zusammenbringen. Der Kanton Bern ist der grösste Industriestandort der Schweiz, doch wer hat schon eine Ahnung was in unseren Hightech-Firmen in Biel, in Thun oder im Oberaargau gemacht wird? Dies wollen wir mit dem Projekt ändern.

Und die andere Seite?

Es kommen heute teilweise Kinder zur Schule, denen die Feinmotorik fehlt, weil die Eltern nicht mit ihnen basteln, oder sie nicht Geschirr abtrocknen müssen. Diese Kinder müssen lernen, wie man etwas in die Hand nimmt, wie man bastelt.

Ist hier nicht die Schule gefordert?

Vorab liegt dies an den Eltern. Doch wir wollen auch Lehrpersonen darin unterstützen, interessanten naturwissenschaftlichen Unterricht zu erteilen. Ich konnte kürzlich 500 von ihnen an der Uni begrüssen, die an einem entsprechenden Seminar teilnahmen. Es ist eine der Aufgaben der Schule, Begeisterung für naturwissenschaftliche Themen zu wecken.

Es ist doch auch so, dass ein grosser Teil der Lehrpersonen eher eine Affinität zum Schöngeistigen hat.

Ich glaube nicht, dass man das so allgemein sagen kann, ob das nicht nur ein Cliché ist. Ich wüsste von keinen erhärteten Facts. Es gibt eine Reihe von Gründen, die dazu führt, dass sich Schüler oft weniger für naturwissenschaftliche Themen interessieren. Es scheint mir zu einfach, nur den Lehrerinnen und Lehrern die Schuld zu geben. An der Pädagogischen Hochschule jedenfalls werden alle Fächer gleichermassen unterrichtet.

Die SVP hat kürzlich in einem Positionspapier gefordert, dass die Berufstauglichkeit zentral sein soll, und nicht die Zahl akademischer Abschlüsse. Zudem wehrt sich die Partei gegen «bürokratische Vorgaben aus dem Ausland».

Die Forderungen, wie sie die SVP in ihrem Positionspapier Bildung stellt, sind zum Teil richtig. Doch man muss da gar nichts fordern, weil unsere Bildung längst so funktioniert. Die Zahlen belegen, dass unser Bildungssystem sehr gut ist.

 

Maturitätsquote

Total Schweiz

24,9% (1998)

33,2% (2011)

Total Bern

22,3% (1998)

34,1% (2011)

Gymnasiale Matura Schweiz

17,9% (1998) 20,0% (2011)

Berufsmatura Schweiz

6,9% (1998) 13,2% (2011)

Gymnasiale Matura Bern

13,3% (1998) 18,8% (2011)

Berufsmatura Bern

9,0% (1998) 15,4% (2011)

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