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Lehrermangel

Ohne Diplom im Klassenzimmer

Heute beginnt das neue Schuljahr – und weil es an Lehrern fehlt, stehen auch in Seeländer Schulhäusern Studenten vor 
der Klasse. Der Kanton versucht seit rund fünf Jahren, dem drohenden Lehrermangel mit einem Studiengang für Quereinsteiger beizukommen.

Deborah Maurer hat mit 40 Jahren entschieden, sich zur Primarlehrerin umschulen zu lassen. Sie unterrichtet an der Walkermatte in Biel. Peter Samuel Jaggi
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Lino Schaeren

Im Kanton Bern fehlt es an Lehrpersonen. Das liegt an der Einführung des Lehrplans 21, der weniger Hausaufgaben, dafür aber mehr Lektionen mit sich bringt. Aber nicht nur. Während die Schülerzahlen steigen, werden nach wie vor mehr Lehrkräfte pensioniert, als mit einem Diplom von der Pädagogischen Hochschule Bern (PH Bern) abgehen. Die Schere geht weiter auseinander. In anderen Kantonen ist deshalb seit Jahren von einem Lehrermangel die Rede, in Bern sprach man bis zuletzt lediglich von einer Knappheit. Die Schulen konnten sich immer gerade noch so helfen. Bis jetzt.

Denn für das Schuljahr 2018/19 wurden kantonsweit etliche Stellen nicht besetzt, darunter auch einige im Seeland. Nun springen Studenten ein: Insgesamt 31 angehende Lehrpersonen, die das dritte Studienjahr an der Neuen Mittelschule Bern (NMS Bern) und der PH Bern in Angriff nehmen, springen an 20 Schulen im ganzen Kanton ins kalte Wasser und unterrichten als vollwertige Lehrkraft – trotz fehlendem Diplom.

Laut der Erziehungsdirektion des Kantons Bern haben sich ursprünglich sogar 40 Schulen mit unbesetzten Stellen bei der PH Bern gemeldet, die Hälfte davon hat zwischenzeitlich doch noch eine andere Lösung gefunden. Derzeit seien noch fünf Teilpensen offen, davon zwei im Kreis Biel-Seeland.

Dass jetzt Studenten in die Bresche springen, ist eine Notlösung, allerdings eine, die absehbar war und entsprechend vorbereitet werden konnte.

 

Mangel hat sich abgezeichnet
Beim Kanton wird bestätigt: Das Szenario, Studenten als Lehrer einzusetzen, besteht bereits seit 2014. Nur zur Anwendung kam es praktisch nie. «Wir fragen die Studierenden seit mehreren Jahren vorsorglich an, ob sie grundsätzlich bereit wären, einzuspringen», sagt Martin Stadelmann, Leiter des Instituts Vorschulstufe und Primarstufe an der NMS Bern. Das Angebot scheint verlockend: Ohne das Studium unterbrechen oder verlängern zu müssen, können die angehenden Lehrkräfte bei annähernd vollem Lohn Berufserfahrung sammeln. Entgegen seiner ursprünglichen Annahme, so Stadelmann, sei die Begeisterung aber jeweils nicht sonderlich gross, etliche der Angefragten würden abwinken. «Viele Studierende sagen, sie bevorzugten die angeleitete Situation eines Praktikums und möchten nicht Teile des Studiums verpassen.»

Dass der Studenten-Notfallplan im Kanton Bern in diesem Jahr erstmals im grösseren Stil zur Anwendung kommt, hat sich laut dem Institutsleiter schon vor einigen Monaten angekündigt. «Studierende im letzten Studienjahr, haben im Frühling blitzschnell eine Stelle für das neue Schuljahr gefunden, teils wurden sie sogar aktiv von Schulen angefragt», sagt Stadelmann, was ungewöhnlich sei. Dass die Abgänger der Hochschulen sich ihre Stelle quasi hätten aussuchen können, sei ein starkes Indiz gewesen für einen zunehmenden Mangel an Lehrpersonen. Sowieso war der Lehrermangel im Kanton Bern nur eine Frage der Zeit, er war aufgrund der Entwicklung der Schülerzahlen und der Pensionierungen schon vor Jahren absehbar. Die schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) hat deshalb 2012 in ihrem Reglement zur Diplomanerkennung die Möglichkeit einer Ausbildung geschaffen, die mit einer Teilzeitanstellung als Lehrkraft einhergeht. An der NMS Bern wurde so 2013 das Modell 30+ ins Leben gerufen.

Es richtet sich an Quereinsteiger: Personen, die mindestens 30 Jahre alt sind und bereits über Erfahrung in einem anderen Berufsfeld verfügen, können ab dem zweiten von drei Studienjahren bereits in einem Pensum von zirka 40 Prozent an einer Schule arbeiten. Während der Einsatz der «normalen» Studenten als Notfallplan gilt, ist 30+ die konzeptionelle Antwort des Kantons auf den Lehrermangel. Sechs Personen haben das Studienmodell bisher abgeschlossen, derzeit wird es von 14 weiteren durchlaufen. Eine davon ist Deborah Maurer aus Port.

 

«Wird sich noch akzentuieren»
Maurer begrüsst am Montag an der Walkermatte eine 1. Klasse, es ist bereits ihr zweites Jahr an der Bieler Schule parallel zum Studium in Bern. Die 42-Jährige ist studierte Betriebswirtschafterin, hat bei diversen grossen Schweizer Firmen gearbeitet und bis 2012 sieben Jahre in Brasilien gelebt. Nach einigen Jahren mit den kleinen Kindern zuhause wollte sie zurück ins Berufsleben. Nicht aber ins Büro. Maurer absolvierte 2016 in Bern ein Assessment das im Rahmen des Studienmodells 30+ notwendig ist, um ab dem 2. Studienjahr eine Schulklasse unterrichten zu können: sie unterrichtete während 20 Minuten unter strenger Beobachtung eine Schulklasse – und wurde für fähig befunden. Seither ist sie Teil des Studienmodells.

An der Walkermatte führt Maurer zusammen mit einer diplomierten Lehrerin eine Klasse. Diese habe den Posten der Klassenlehrerin inne, was ihr ermögliche, sich etwas mehr auf das Unterrichten zu konzentrieren. Nebenbei studiert Maurer und absolviert auch mal ein Praktikum, ebenfalls an der Walkermatte bei einer weiteren Mitarbeiterin aus dem Kollegium. «Es ist schon viel», sagt Maurer, doch mit guter Planung sei alles unter einen Hut zu kriegen. Sie ist vom Lehrerberuf begeistert, vor allem die Vielseitigkeit fasziniert sie. Und auch vom Modell 30+ ist die dreifache Mutter überzeugt: Es ermögliche ihr eine Ausbildung, ohne dabei auf eine Entschädigung verzichten zu müssen. Ein nicht unwesentliches Argument, gerade für Eltern, bei denen ein Partner die Branche wechseln möchte.

Auch beim Kanton sieht man Zukunft im Angebot für Quereinsteiger: «Wir sind überzeugt, dass die Absolvierenden aufgrund ihrer früheren Tätigkeiten wertvolle Erfahrungen in den Lehrberuf einbringen können», heisst es bei der Erziehungsdirektion. 30+ habe sich in der Praxis bewährt, bisher seien von Schulen, die Absolventen eingestellt haben, keine negativen Stimmen laut geworden. Dass das Modell überzeugt, zeigt auch, dass man gemäss Kanton derzeit auch bei der PH Bern, an die das Institut NMS angegliedert ist, über die Einführung eines berufsbegleitenden Studiengangs für die Primarstufe laut nachdenkt.

Denn: Mit dem jetzigen Einspringen von Studenten ist der Lehrermangel im Kanton Bern nicht behoben. Die Aushilfslehrkräfte sollen nach einem halben Jahr schliesslich an die Hochschule zurückkehren und das Studium regulär beenden. Martin Stadelmann sagt: «Wir wollen nicht ein falsches Signal setzen und die Studierenden ein Jahr vor Studienabschluss in den Beruf entlassen.» Die Rückkehrer müssten wie alle anderen auch noch Lehrveranstaltungen besuchen und ihr Abschlusspraktikum absolvieren.

Spätestens im Winter also werden wieder etliche Stellen frei sein, die nicht mit diplomierten Lehrpersonen besetzt werden können. Bei der Erziehungsdirektion geht man gar davon aus, dass sich die Situation in den nächsten Jahren noch akzentuieren wird: Nebst den steigenden Schülerzahlen und der Schere bei Pensionierung und Ausbildung auch deshalb, weil der Lehrplan 21 im kommenden Jahr auch im 8. und 2020 im 9. Schuljahr eingeführt werde, so Erwin Sommer, Vorsteher des kantonalen Amts für Kindergarten, Vorschule und Beratung.

Betroffen vom Lehrermangel seien alle Teile des Kantons, sagt Stadelmann. Auffallend sei einzig, dass besonders viele Stellen im Oberaargau und entlang des Jurasüdfusses nicht besetzt werden konnten. Der Institutsleiter vermutet, dass das mit der Nähe zum Kanton Solothurn zu tun haben könnte: Wer im Nachbarskanton unterrichtet, erhält einen deutlich besseren Anfangslohn. Ob das mit ein Grund dafür ist, dass in diesem Sommer ausgerechnet in der Gemeinde Lengnau unmittelbar an der Kantonsgrenze gleich zwei Stellen nicht besetzt werden konnten, bleibt Spekulation.

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