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Corona

Zwei Stunden Büro sind fast zu viel

Die ersten Long-Covid-Patientinnen kämpfen sich zurück in den Job. Für Sandra Bigai sind selbst einfachste Dinge eine grosse Herausforderung.

Long-Covid-Patientin Sandra Bigai: Jeder Hintergrundreiz, jedes Telefongeklingel im Büro kostet Energie. Bild: Keystone

Isabel Strassheim

Zurück ins Büro: Für Sandra Bigai heisst das, zweimal die Woche zwei Stunden arbeiten zu gehen. Bei ihr geht es bei der Rückkehr an den Arbeitsplatz um mehr als die Aufhebung der Homeoffice-Pflicht, denn das Coronavirus verfolgt sie weiter. Sie hat Long Covid und merkt bei jeder einzelnen Mail, die sie schreibt, wie anstrengend das für Körper und Kopf ist. «Ich muss über jede Mail-Zeile nachdenken, nichts geht automatisch», sagt die 53-Jährige. Dazu kommt, dass jeder Hintergrundreiz Kraft kostet.

Die Büroatmosphäre strengt Bigai nicht nur an, sie kann sogar körperlich schädlich für sie sein. «Ich muss die ersten Alarmsignale wie Nebel im Kopf oder Müdigkeit ernst nehmen und darf nicht über meine Grenze gehen», sagt sie.

Bigai hat Mitte Januar ihren Wiedereinstieg im Job gestartet. Sie arbeitet bei der Basler Adullam-Stiftung für Marketing und Kommunikation und hat sich im März 2020 mit Covid-19 infiziert. Nach einer langen Odyssee von einer Ärztin zur anderen im April 2021 erhielt sie schliesslich die Diagnose: Long-Covid-Syndrom. Neun Monate fiel sie dann komplett aus.

Sie hat Glück, denn ihr Chef nimmt ihre Erkrankung ernst. Oft gelten die Betroffenen aber als Simulanten oder als psychosomatisch Kranke. Long Covid ist jedoch eine rein körperliche Krankheit. Sie muss noch weiter erforscht werden, die Symptome sind verschieden.

Eine Konstante gibt es jedoch bei allen Erkrankten: Sie dürfen sich nicht überanstrengen, wie Mediziner Gregory Fretz betont, der als einer der Ersten in der Schweiz am Kantonsspital Chur eine Long-Covid-Sprechstunde eingerichtet hat: «Weil die Energiereserven deutlich eingeschränkt sind, ist das Energiemanagement die Basis für die Therapie», erklärt er. Der Akku der Erkrankten dürfe nie leer werden, sonst habe das negative Folgen. Das bedeutet: «Die Patientinnen müssen sich genau einteilen, was sie innerhalb eines Tages machen.»

Dabei müssen auch Anstrengungen wie das Aufstehen und das Anziehen berücksichtigt werden. Oder eben Hintergrund-Wahrnehmungen wie grelles Licht. Auch sie kosten körperliche Kraft.

Daran musste sich Bigai erst gewöhnen und in der Reha-Klinik lernen, nicht über die Grenzen ihres Körpers hinauszugehen. «Ich darf und kann mich nicht mehr über meinen Kopf steuern», sagt sie. Sie muss jedes Erschöpfungssignal ernst nehmen und akzeptieren, wenn ihr Energiebudget durch scheinbare Nebensächlichkeiten schon verbraucht ist.

 

Es ist anspruchsvoll

Auch ihr Chef muss das. Zum Start ihres Arbeitsversuchs wollte er sie über die seit ihrem Krankheitsausfall eingetretenen Veränderungen im Betrieb informieren. Aber schon dieses Gespräch war zu viel. Die eigentliche Arbeit hatte noch gar nicht begonnen, und Bigais Energie war schon verbraucht. «Ich habe rasch bemerkt, dass ihre Aufnahmefähigkeit noch deutlich eingeschränkt ist», sagt Martin Birrer, der Direktor der Adullam-Stiftung. Auch während Bigais Absenz hatte Birrer regelmässig mit ihr Kontakt und war über ihre Fortschritte und Rückschläge informiert. Für ihn ist klar, dass Long Covid eine ernsthafte körperliche Krankheit ist. Grundsätzlich hat für den Direktor der Adullam-Stiftung bei kranken Mitarbeitenden ihre vollständige Genesung Priorität. «Kommt jemand zu schnell oder mit einem überfordernden Pensum wieder zur Arbeit, bringt das weder dem Betrieb noch den Mitarbeitenden etwas», sagt Birrer. Und er fügt an: «Dieses Prinzip auch bei Long Covid durchzuhalten, ist aber durchaus anspruchsvoll.»

Die Vorgesetzten müssen sich auf eine ganz neue Art der Wiedereingliederung einstellen. Die Invalidenversicherung kannte bislang Startpensen von um die 20 Prozent – bei Long Covid kann es jedoch sein, dass die Betroffenen mit viel kleineren Pensen beginnen müssen, so wie Sandra Bigai. «In Dreivierteln der Fälle bieten die Arbeitgebenden auch dafür Hand», sagt Mediziner Fretz.

Was bei Long Covid dazu kommt: Noch ist nicht klar, wie lange das Krankheitsbild anhält und die Betroffenen beeinträchtigt. Ob es Wochen, Monate oder Jahre sind, während denen die Probleme anhalten, kann niemand sagen.

«Ich habe Respekt davor, was in zwei, drei Jahren da auf uns zukommen könnte», sagt Fretz. Denn Long Covid tritt bei geschätzt 10 bis 20 Prozent der Infizierten auf, dies aber erst ein paar Monate nach ihrer Covid-19-Erkrankung. Sie sind dann zunächst krankgeschrieben, und vier bis sechs Monaten später stellt sich dann erst die Frage, ob ein IV-Antrag gestellt werden soll. Deshalb warnt Fretz: «Die Anträge auf Wiedereingliederung bei der IV oder auch auf Rente werden erst noch folgen.»

Bis Ende letzten Jahres haben 1775 Personen mit Long Covid einen IV-Antrag gestellt, das sind rund zwei Prozent aller Gesuche. Wie viele Renten oder IV-Massnahmen von den Long-Covid-Anträgen gutgeheissen wurden, macht die IV-Stellen-Konferenz erst im März publik. Die grösste Schweizer Krankenversicherung Helsana hat seit Ausbruch der Pandemie bei der Krankentaggeldversicherung rund 360 Covid-Fälle registriert, die länger als 90 Tage dauerten.

Betroffene werden noch zu oft nicht ernst genommen, von der Medizin, den Versicherungen und den Arbeitgebern. «Es ist ein Kampf an allen Fronten, und viele schaffen den Wiedereinstieg nicht», sagt Bigai.

Es gibt Long-Covid-Patienten, bei denen die Unfallversicherung anders als bei Bigai die Krankheit nicht anerkennt, obwohl sie sich bei der Arbeit angesteckt haben – meist im Gesundheitsbereich. Die Suva prüft solche Fälle auch im Auftrag von Krankentaggeldversicherern und urteilt dann etwa so: Es liegen keine «objektivierbaren Pathologien» vor, deswegen könne «das Vorhandensein eines Long-Covid-Syndroms nicht bewiesen werden». Ein weiteres Problem beim Nachweis ist, dass die Krankheit oft erst Monate später nach der Infektion mit Covid-19 auftritt, der Zusammenhang also nicht klar auf der Hand liegt.

 

Hart formulierte Gutachten

Die Probleme mit der Anerkennung sind Fretz aus der Long-Covid-Sprechstunde bekannt: «Ist die Unfallversicherung in der Pflicht, sind die Entscheide der einzelnen Versicherungen sehr verschieden, wie wir gemerkt haben», sagt der Mediziner. Dasselbe gelte für die Krankentaggeldversicherung. «Wir haben hier zum Teil recht hart formulierte Gutachten gesehen, die davon ausgehen, Erkrankte seien fähig, 100 Prozent wieder zu arbeiten, obwohl sie noch sehr starke und die Leistungsfähigkeit massiv einschränkende Beschwerden haben.» Der Umgang mit Long Covid wird zurzeit in den Branchenverbänden thematisiert mit dem Ziel, eine einheitliche Lösung zu finden, wie ein Sprecher der Helsana, der grössten Schweizer Krankenkasse, sagt.

Die Probleme betreffen jedoch auch ganz simple Details, an die die Verbände nicht unbedingt denken: Denn für Schwerstbetroffene ist es unmöglich, die stundenlangen Abklärung der IV auch nur körperlich zu überstehen, wie Fretz sagt. «Zudem haben die Gutachterinnen und Gutachter noch gar keine Erfahrung mit Long Covid und können das allein schon deshalb schwer einschätzen.» Fretz fordert deshalb die Schaffung einer unabhängigen und zentralen Schweizer Gutachtenstelle.

Stichwörter: Corona, Wirtschaft, Büro, Arbeit, Virus

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