Sie sind hier

Abo

EM 2016

Mit der Hingabe Contes

Der Titelverteidiger fährt nach Hause. Spanien ist im EM-Achtelfinal gegen starke Italiener chancenlos und verliert 0:2. Der italienische Coach Antonio Conte überzeugt mit seiner Taktik und Leidenschaft.

Voller Hingabe bejubelt Italien-Coach Antonio Conte den Sieger seiner Mannschaft gegen Spanien. keystone
  • Video

von Fabian Ruch, Paris

Dringend notwendig: eine Spezialkamera auf Antonio Conte.

Der italienische Trainer ist ein Ereignis, wie er an der Seitenlinie herumturnt, gestikuliert, schreit, tanzt, antreibt. Am Montagabend funktioniert der italienische Nationaltrainer die rund 100 Qua¬dratmeter grosse Coachingzone im Stade de France zu seinem persönlichen Fitnessbereich um. Er ist während des EM-Achtel¬finals gegen Spanien ständig unterwegs, wobei er sich, wenn man es genau nimmt, selten in der erlaubten Zone aufhält – sondern davor, daneben, fast auf dem Feld.

Antonio Conte verschiebt Grenzen. Und seine gelebte Leidenschaft färbt auf Italiens Nationalteam ab. Die Squadra azzurra revanchiert sich für die 0:4-Niederlage im EM-Final vor vier Jahren. Und hätte gestern in Paris mindestens mit vier Toren Unterschied gewinnen müssen.

Starke Abwehr um Bonucci

Obwohl sich in Italiens Kader keine hochkarätigen Mittelfeldspieler und Stürmer befinden, zeigen die Akteure Contes eine hervorragende Leistung. Vom Grossmeister der Taktik glänzend eingestellt, überrennen die Italiener den Favoriten förmlich. Einzig Torhüter David de Gea hat es der Titelverteidiger zu verdanken, liegt er nicht bereits nach einer halben Stunde mit zwei, drei Toren zurück. De Gea pariert gegen Graziano Pelle stark, er lenkt einen Schuss Emanuele  Giaccherinis an den Pfosten, er hält einen Freistoss Eders und den Nachschuss von Giaccherini, ist dann aber gegen Giorgio Chiellinis Abstaubertor machtlos.

Das 1:0 fällt in der 33. Minute und belohnt die wie aufgedreht spielenden Italiener für ihren -herausragenden Vortrag. Hinten schirmen die Senatoren von Juventus um den souveränen Leonardo Bonucci den Strafraum derart locker ab, dass hinter ihnen auch ein 76-Jähriger hätte im Tor stehen können. Gianluigi Buffon, halb so alt, hat wohl selten in einem bedeutenden Länderspiel weniger zu tun gehabt.

Trainer als Kilometerfresser

Auch nach dem Seitenwechsel fällt den ideenlosen, schwerfälligen Spaniern wenig ein. Italien hat alles im Griff, vergibt aber das 2:0, zum Beispiel durch Eder, der an de Gea scheitert, und darum geht das Schauspiel von Conte an der Seitenlinie mit unverminderter Intensität und Hingabe weiter.

Er verhält sich wie der grösste Fan seines Teams, was er ja vermutlich ist, erteilt pausenlos Kommandos, spielt die Pässe mit, mimt fast die Grätschen seiner Abwehrhaudegen, regt sich über Schiedsrichterentscheide auf und kickt den Ball einmal sogar weit in die Zuschauerränge. Er ist die personifizierte Passion. Man würde gerne wissen, wie viele Kilometer der 46-Jährige in seinem Rausch hin und her läuft.

Nun wartet der Weltmeister

Erst ganz gegen Ende wird Spanien besser. Andres Iniesta provoziert mit seinen gummiartigen Beinen einige Halbchancen, doch im Prinzip kann den Spaniern einzig ein Tor nach einer Standardsituation helfen. Die kopfballstarken Innenverteidiger Sergio Ramos und Gerard Piqué aber können sich nicht durchsetzen, erst in der 90. Minute präsentiert sich Piqué aus dem Nichts die Ausgleichschance. Er verpasst das 1:1, beinahe im Gegenzug schliesst Pelle einen weiteren starken Vorstoss der Italiener mit dem 2:0 ab. Antonio Conte, völlig verschwitzt, ist nun nicht mehr zu halten.

Er klettert in seiner Ekstase beinahe auf das Dach der Ersatzbank, ballt die Fäuste, umarmt jeden, der sich ihm in den Weg stellt. Und nach dem Schlusspfiff stürzen sich die euphorisierten Reservisten Italiens auf Conte und begraben ihn unter sich. «Dank Conte glauben wir daran, etwas gewinnen zu können», sagt Stürmer Eder nach dem Sieg gegen Spanien.

Der brillante Stratege Conte, früherer Juventus-Meistertrainer, hat bei Italien eine stürmische Mentalität verbreitet und eine funktionale Spielweise eingeführt, welche Italien vom zweiten EM-Titel nach 1968 träumen lässt. In jenem Jahr wurde Conte, der nach der Euro zu Chelsea wechselt, gezeugt. «Das war eine starke Leistung von uns», sagt der Coach. «Doch gegen Deutschland wird es noch schwieriger.»

Und vielleicht gibt es ja im Viertelfinal des Weltmeisters Deutschland gegen Angstgegner Italien tatsächlich eine Trainerkamera. Es würde sich doppelt lohnen. Hier der wilde Conte in seiner Obsession, dort der eitle Joachim Löw, der gerne an seinem Körper herumspielt.
 

Stichwörter: EM 2016, Italien, Antonio Conte

Nachrichten zu EM 2016 »