Sie sind hier

Abo

Russland

«Die Literatur nützt nichts»

Nächstes Wochenende wählt Russland sein Parlament, die Duma. Der Schriftsteller Michail Schischkin mag seine Stimme nicht abgeben. Er sagt: «Ich will keine Verbrechen legitimieren.» Schischkin zeichnet ein überaus düsteres Bild des Landes. Im schlimmsten Fall drohe ihm der Zerfall, und sicher leben könne darin nur, wer lüge oder schweige. Und die Kunst? Sie könne höchstens helfen, das Leben etwas leichter zu ertragen.

Michail Schischkin hat sich an seinem Wohnort im Kanton Solothurn seine Idylle eingerichtet:«Ich wollte mir den Traum vom Garten einer Datscha verwirklichen.» copyright: tobias graden/bieler tagblatt

Interview: Tobias Graden


Michail Schischkin, nächstes Wochenende wird in Russland die Duma gewählt, doch hierzulande liest man kaum etwas davon. Warum?
Michail Schischkin: Solange der Mann (Putin, Anm. d. Red.) mit seiner Bande im Kreml sitzt, gibt es keine Wahl. Vielleicht hat man darum kein Interesse.

Aber es wird doch gewählt.
Normalerweise bringen Wahlen eine Veränderung. Aber wenn sich grundsätzlich nichts verändern kann – warum sollte das Interesse wecken?

Immerhin treten dieses Mal mehr Parteien an und die Hürde zum Einzug ins Parlament wurde von 7 auf 5 Prozent gesenkt.
Sprechen Sie etwa über Prozente, wenn eine Katze mit einer Maus spielt? (seufzt) Ich nehme jedenfalls nicht teil an diesen Wahlen.

Warum nicht?
Stellen Sie sich vor: Ein Einbrecher kommt zu Ihnen nach Hause, raubt Sie aus und vergewaltigt Ihre Tochter. Danach sagt er zu Ihnen: Jetzt trinken wir ein Glas darauf. Was würden Sie tun?

Es gibt aber auch Oppositionelle, die sich zur Wahl stellen.
Sie sind Kämpfer, sie können nicht anders. Aber gewinnen können sie ohnehin nicht.

Was ist mit den normalen Leuten?
Für die meisten Menschen ist ein ruhiges Leben und die Familie das Wichtigste. Sie wollen aber auch nicht zu der Bande (den Machthabern im Kreml, Anm. d. Red.) gehören. Doch irgendwann muss man sich entscheiden, auf welcher Seite man steht. Und dann ist es für viele das einfachste zu migrieren.

Wäre Ihre Stimme nicht wenigstens ein kleines Zeichen für die Opposition?
Das ganze Spiel ist so konzipiert, dass es der Legitimierung der Bande dient, mithin der Legitimierung des Verbrechens, etwa der Annexion der Krim. Und das soll ich mit meiner Stimme legitimieren?

Laut dem unabhängigen Meinungsforschungsinstitut Lewada glaubt sogar die Hälfte der russischen Wähler nicht, dass es faire Wahlen gibt.
Ja. Lewada hat auch Umfragen zur Unterstützung von «Einiges Russland» (der Partei Putins, Anm. d. Red.) durchgeführt. Die Werte lagen zuletzt bei 30 Prozent, sie sind deutlich zurückgegangen. Was dann passiert, hat man diesen Mittwoch gesehen.

Das Institut muss sich nun per Gesetz als «ausländischer Agent» bekennen.
Genau. Anders gesagt: Es gibt kein Lewada-Zentrum mehr.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs dachte man im Westen, nun werde in der ehemaligen Sowjetunion die Demokratie anbrechen, es war gar die Rede vom «Ende der Geschichte». Warum ist es anders gekommen?
Es war für mich die schönste Zeit des Lebens. Ich war jung und habe gehofft: Endlich ist die Epoche der Gewalt zu Ende. Doch in Russland wird immer wieder das gleiche Spiel gespielt. Putin ist nur der Schauspieler, die Rollen sind seit Jahrhunderten verteilt: Hier der Zar, dort das Fussvolk, das die Stiefel leckt. Alle Versuche, dies zu ändern, sind gescheitert. Man kann die Bevölkerung eben nicht ersetzen. Diese Leute haben vor 25 Jahren die Möglichkeit gehabt, ihr Haus so zu bauen, wie sie es wollen – sie haben wieder die gleiche Baracke gebaut.

Was ist der Hauptgrund?
Es fehlte das Bürgertum, die Mittelklasse. Man hatte 150 Millionen Sklaven, was will man mit ihnen schon bauen? Jetzt hat sich eine gewisse Mittelschicht ausgebildet, es gab die «Weisse Revolution» 2011 in Moskau. Ich war dabei, es war ein tolles Gefühl. Was hat die Bande gemacht? Sie hat das Spiel mit der Demokratie fallen gelassen und ist zurück zum mittelalterlichen System gegangen.

Wusste das Volk also nicht, was es mit seiner neugewonnen Freiheit anfangen sollte?
Es hat sich gesagt: Die oben entscheiden ohnehin alles. Jetzt zum Beispiel sitzt Michail Chodorkowski in London und versucht, die Menschen mittels Information und Aufklärung zu verändern und so zum Präsidenten zu werden. Ich wäre glücklich, ein Russland mit einem solchen Präsidenten zu haben. Doch wo finden wir ein solches Russland für Chodorkowski? Das gibt es nicht!

Putin hat Beliebtheitswerte, wie man sie sich höher kaum vorstellen kann, über 80 Prozent. Dies, obwohl es den Menschen nach so vielen Putin-Jahren nachweislich schlechter geht. Wie ist das zu erklären?
Die Leute denken: Die Bojaren um den Zaren sind schlecht, aber der Zar ist gut. Schauen Sie die kürzlichen Bauernproteste im Süden Russlands: Die Bauern sagten, die lokalen Machthaber seien schlecht. Sie wollten dies Putin mitteilen und machten sich auf den Marsch nach Moskau. Sofort wurden sie verhaftet. Man kann sich kaum vorstellen, wie primitiv das Denken der Leute ist und wie gross ihre Liebe zum Zaren.

Aus westlicher Sicht würde man sagen: Eine Regierung, die eine solche Bilanz hat wie Putin, wäre längst abgewählt worden. Warum verbinden die Menschen in Russland ihre Lage nicht mit der Politik des Präsidenten?
Nach der Geschichte mit der Krim hätte ich gesagt, es sei wegen der Euphorie. Ich verfolge den Blogger Aleksandr Gorny, er bloggt von der Krim. Er war vor zwei Jahren überzeugt, es werde nun alles besser. Mittlerweile ist er gegen die Partei «Einiges Russland», gegen die Regierung. Doch er sagt: Putin muss helfen. An ihn glaubt er. Wie soll man das erklären?

Ist es den Menschen wichtiger, Russland als Weltmacht zu sehen, als genug zu essen zu haben?
Das war schon immer so. Nehmen Sie das Beispiel von meinem Vater. Sein Vater – mein Grossvater – wurde verhaftet, er starb in Stalins Gulag. Mein Vater musste das immer verheimlichen, denn sein Vater galt als Feind des Volkes. Dann kam der Krieg. Mein Vater meldete sich freiwillig und kämpfte – gegen den Faschismus, für seine Heimat. In Wirklichkeit hat er das Regime verteidigt. Jedes Regime missbraucht die besten Gefühle seiner Untertanen: die Liebe zum Vaterland. Putin macht dasselbe. Als die Sowjetunion zusammenbrach, haben die Menschen nichts bekommen von den demokratischen Umwälzungen, aber sie haben das Gefühl der Grösse verloren. Putin gibt ihnen wenigstens das wieder.

Mir als Schweizer ist es wichtiger, dass es mir gut geht, als dass mein Land eine wichtige Rolle spielt.
Als Schweizer können Sie das nicht verstehen. Sie können auch was anderes nicht verstehen: Als die Olympischen Spiele in Sotschi nahten, habe ich überall versucht zu erklären, dass man diese boykottieren müsse. Aber wer hört schon auf einen Schriftsteller? Die Schweiz stellte ihr Hüsli in Sotschi auf, es kam Putin, und der Bundespräsident persönlich hat seine Stiefel geleckt. Für Putin ist das ein Zeichen der Legitimation – ein paar Wochen danach annektierte er die Krim.

Sie sagen, die Menschen in Russland könnten nicht anders handeln, als sei das quasi genetisch festgelegt.
Wenn man es streng darwinistisch sieht, dann ist es so. Wenn eine Population über viele Generationen hinweg bestimmte Eigenschaften zum Überleben braucht, dann bilden sich diese stärker heraus. In Russland sind das Lügen und Schweigen. Wer dagegen zu viel Initiative zeigt und zu viel im Kopf hat, dem ist dieser über die Jahrhunderte immer wieder weggekürzt worden. Hinzu kommt: Es gab Wellen der Emigration. Die grösste war nicht etwa 1917, sondern sie findet jetzt statt. Millionen Menschen verlassen das Land, und zwar die besten. Die Elite Russlands lebt heute in den USA, Leute wie Sergej Brin (Mitgründer von Google, Anm. d. Red.).

Dient der Konflikt in der Ukraine dazu, von den Problemen im Land abzulenken?
Die Gründe liegen tiefer. Die Ukraine und Russland haben eine gemeinsame Vergangenheit. Wenn die Ukraine es schafft, ihre Zukunft anders zu meistern, ist sie plötzlich ein Beispiel für Russland: Schaut, wir können das tun!

Wie wird der Ukraine-Konflikt Ihrer Meinung nach ausgehen?
Dieser Konflikt ist ein Krebs. Er wird nach Russland hinüberwachsen. Verhältnisse wie im Donbass, wo jede Bande mit ihrem Boss so viel Einfluss erkämpft, wie sie kann, werden wir auch in Russland sehen.

Wie soll sich der Westen gegenüber Russland verhalten?
Er muss vor allem eines begreifen: Der Westen versteht sich nicht als im Krieg mit Russland stehend – doch Russland befindet sich im Krieg gegen den Westen. Daraus folgen absolut verschiedene Verhaltensweisen. Es ist natürlich nicht ein Panzerkrieg, sondern ein Cyberkrieg. Schauen Sie, was bei den Wahlen in den USA passiert ist. Der Westen muss sich also wehren.

Mit welchen Mitteln?
Indem er wenigstens nicht mit Schweizer Hüsli nach Russland geht. Wer dortige Anlässe nicht boykottiert, geht ins Bett mit den Verbrechern.

Russland ist aber aussenpolitisch durchaus stärker geworden, man sieht es an der Lage in Syrien und im neuerlichen Schulterschluss mit der Türkei. Der Westen steckt in der Zwickmühle, wenn er nicht in einen offenen Konflikt eintreten will.
Weil er keinen offenen Konflikt will, wird der Westen immer ausweichen. Sei es in der Ukraine, in Syrien, womöglich im Baltikum, wer weiss, was noch kommt. Er wird nicht einen Dritten Weltkrieg wegen ukrainischen Städten riskieren.

Es gibt jedoch auch im Westen nicht wenige Menschen, die von Putin mehr halten als von ihren eigenen Regierungen. In Deutschland vertrauen ihm 29 Prozent gleich stark oder stärker als der Bundeskanzlerin. Wie ist das zu erklären?
Diese Menschen sind schlecht integriert, sozial benachteiligt, nicht gut gebildet. Ihre Regierung ist für sie ein Feind. Der Feind ihres Feindes ist aber schon fast ihr Freund. Wer sind aus der Sicht dieser Menschen ihre Feinde? Die Grossunternehmen, der Kapitalismus, das amerikanische Imperium, die eigene Regierung. Putin dagegen ist ein Symbol, eine Abstraktion. Wenn sie wirklich im Lande Putins leben müssten, würden sie sofort Amerika um Hilfe bitten.

Schmerzt es Sie zu sehen, was in Ihrer Heimat passiert?
(seufzt) Würde es Sie schmerzen, wenn Sie sähen, wie Ihre Mutter betrunken in der Pfütze liegt? Klar tut das weh! Es ist meine Heimat, mein Land, dort liegen meine Eltern begraben.

Sind Sie noch oft in Russland?
Seit zwei Jahren gehe ich nicht mehr hin, ich schreibe auch nichts mehr in Russland, es macht keinen Sinn. Die Menschen leben wieder in der Angst, die mir schon damals in der Sowjetunion nicht behagte. Solange man schweigt, ist alles in Ordnung. So haben wir schon die Sowjetunion überlebt. Aber diese Erniedrigung will ich nicht mehr haben. Wer versteht, was passiert, verlässt das Land ohnehin.

Haben Sie Angst?
Ich habe Angst um meine Freunde. Es gibt viele Leute, die nicht weggehen können. Sie bleiben dort und erwarten nichts Gutes.  

Und Sie selber?
Ich bin in der Öffentlichkeit auch schon bedrängt worden. In Russland ist es aber viel schlimmer. Die Journalistin Alla Latynina wurde mit Fäkalien begossen, die Schriftstellerin Ljudmila Ulizkaja mit grünen Chemikalien beworfen. Der Mob findet, dass man mit einer Landesverräterin alles tun darf.

Jetzt sitzen wir hier in Ihrem Garten, in der vollkommenen Blumenidylle…
…ich habe das alles selber eingerichtet. Ich wollte meinen Traum vom Garten einer Datscha verwirklichen.

Was bedeutet es für Ihr Schreiben, wenn in der Heimat schlimme Dinge passieren und Sie in einem solchen Garten in der Schweiz sitzen?
Das hat mit dem Schreiben nichts zu tun. In meinen Büchern wird nie die aktuelle Politik vorkommen. Die Kunst beschäftigt sich mit den tiefen Gegebenheiten des menschlichen Seins, und da entdeckt man, was die Menschen vereint.

Woran schreiben Sie zurzeit?
(schweigt) Lassen wir die Frage.  

Weil sie Druck erzeugt?
Nein. Aber ich müsste nun zu viel erzählen und erklären, um eine einfache Frage zu beantworten, und das will ich nicht.

Wo steht Russland in zehn Jahren?
Im besten Fall dort, wo es heute steht. Im schlimmsten Fall gibt es kein Russland mehr auf der Landkarte.

Das, was jetzt ist, ist der beste Fall?
Hélas (seufzt).

Was kann die Literatur tun in einem solchen Moment?
Die Literatur nützt nichts.

Das können Sie nicht ernst meinen.
Ich habe immer gedacht: Mit den Büchern kannst Du die Welt ein bisschen verbessern. Aber das denken wohl zu Beginn alle Schriftsteller. Die russische Literatur konnte einzig den Menschen helfen, das Leben etwas besser zu ertragen, im Gulag zu überleben. Ist das alles, was die Literatur leisten kann? Das bringt mich zur Verzweiflung. Die Leute, die meine Bücher lesen, können doch nicht zum Schluss kommen, in Kiew regierten die Nazis und wir müssten diese unbedingt bekämpfen! Nein: Die Literatur nützt nichts!

Die Kunst kann den Wert des Lebens aufzuzeigen, zumindest eine Gegenwelt darstellen, einen Möglichkeitsraum schaffen.
Nehmen Sie Nazideutschland: Die Menschen, die Hitler geliebt haben, hatten Goethe, Schiller, all die deutschen Klassiker gelesen, sie kannten die zeitgenössische Literatur, Stefan Zweig, Thomas Mann. Was konnte also Stefan Zweig schon im Kopf haben, bevor er sich mit seiner Frau im brasilianischen Exil umbrachte? Was haben seine Bücher genützt? Die Masse folgte ihrem Führer in die Katastrophe. Dasselbe passiert in Russland. Es macht traurig, dieses Gefühl der Hilflosigkeit.

Sie finden zum Schluss dieses Gesprächs keine einzige versöhnliche, zuversichtliche Note?
Ich habe fünf Kinder. Ich muss optimistisch sein.

 

Zur Person
- geboren am 18. Januar 1961 in Moskau
- Studium der Germanistik und Anglistik an der Staatlichen Pädagogischen Universität Moskau
- zuerst Tätigkeit als Journalist, dann als Lehrer
- Heirat mit einer Schweizerin, ab 1995 lebte er mit seiner Familie in Zürich, da Tätigkeit als Russischlehrer, Lehrer und Dolmetscher für das Migrationsamt
- seit Erscheinen des Romans «Das Venushaar» 2005 lebt er von seiner schriftstellerischen Tätigkeit, er lebt mit seiner jetzigen Frau im Kanton Solothurn
- Schischkin gilt als bedeutender zeitgenössischer russischer Schriftsteller, er hat diverse Preise erhalten.
- Schischkin betätigt sich auch als Essayist und Publizist und äussert sich dort und in Interviews kritisch zur derzeitigen Lage in Russland.

Kommentare

wernerwalter

Sehr ausgewogen und hochstehend, dieses Interview! Ironie aus...


Nachrichten zu Kultur »