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Strafvollzug

«Das Verfahren hat kafkaeske Züge angenommen»

Nächste Woche befasst sich das Obergericht erneut mit Igor L., bekannt als «der Schläger von Schüpfen». Sein Anwalt, Julian Burkhalter, kritisiert die Gerichte scharf.

Bild: Stefan Leimer

Interview: Brigitte Jeckelmann


Julian Burkhalter, wie geht es Igor L. heute?
Julian Burkhalter: Sehr gut. Seit Juni 2016 ist er in einer geschlossenen Einrichtung, die für ihn geeignet ist und seit Ende März bekommt er endlich eine umfassende Therapie.

Worin besteht diese?
Das ist ein sehr umfangreiches Setting aus Psychotherapie, Arbeitstherapie und mehr. Jetzt bekommt er auch die richtigen Medikamente, auf die er sehr gut anspricht. Endlich bekommt er auch Vollzugslockerungen. Er kann sich in der Gemeinde Rheinau mehr oder weniger frei bewegen und arbeitet schon seit Juni 2016 in der Küche der Institution. Gefährlich ist er schon lange nicht mehr.

14 Monate war das ursprüngliche Urteil des Obergerichts – jetzt ist Igor L. seit sieben Jahren in Haft. Wie konnte das passieren?
Igor L. wurde nach Artikel 59 verurteilt, weggesperrt auf unbestimmte Zeit (siehe Text links, Anm. d. Red.). Zuerst muss man wissen, dass der 59er nicht tatschuldbezogen ist. Das Verschulden spielt gar keine Rolle. Es bedeutet, dass man bei einer Freiheitsstrafe von einigen Monaten ohne weiteres zehn Jahre in Haft bleiben kann. Der Witz des 59ers ist, dass es ein «Open-End-Setting» ist. Man weiss, wann die Massnahme anfängt, aber man weiss nicht, wann sie aufhört. Es geht nur um die Gefährlichkeit. Und das entscheidet ein Psychiater in einem Gespräch, das vielleicht eine Stunde dauert.

Nicht das Gericht?
Der Richter darf eigentlich von der Meinung des Psychiaters nicht abweichen. Der Psychiater masst sich an, über die Zukunft eine Prognose stellen zu können. Die Psychiater sagen selber, dass ihre Diagnosen im besten Fall nur zu 60 Prozent zutreffen. Für einen Mörder ist das weniger problematisch. Ein Mörder hat sowieso eine Freiheitsstrafe von 10, 15 oder 20 Jahren. Für einen Täter mit einem vergleichsweise geringen Verschulden ist das das Ende des Lebens. Zu Wissen, woran man ist, ist ja das, was einen zum Weitergehen veranlasst, wenn man in Haft ist. Dass man sagt, an dem und dem Datum komme ich frei und wenn ich mich gut verhalte, komme ich sogar schon früher frei. Ein Vergewaltiger bekommt drei Jahre und wenn er sich gut verhält, ist er nach zwei Jahren frei. Aber die psychisch kranken Straftäter werden im Moment schlechter behandelt als die Gesunden. Das verstehe ich nicht.

Zurück zu meiner vorherigen Frage – warum hat sich die Haftzeit bei Igor L. derart in die Länge gezogen?
Weil Richter, Vollzugsbehörde und Psychiater die Verantwortung hin und herschieben. Keiner will den Schwarzen Peter, wenn etwas passiert. Das geschieht vor allem bei Straftätern, die ein grosses öffentliches Interesse erregen und für viel Medienpräsenz sorgen. Das war bei Igor L. der Fall. Dazu kommt, dass für Igor L. zum Zeitpunkt der Verurteilung im Juni 2011 eine Therapie verordnet wurde. Doch weil angeblich kein Platz in einer geeigneten Institution frei war, sass er einfach im Gefängnis. Das hat seine Krankheit verschlimmert.

An welcher psychischen Krankheit leidet Igor L.?
Er hat eine paranoide Schizophrenie. Doch diese Diagnose haben die forensischen Gutachter erst im letzten Frühling gestellt. Vorher war die Rede von einer Persönlichkeitsstörung. Das ist etwas ganz Anderes. Aber es gab schon viel früher Hinweise auf eine Schizophrenie. Doch diese wurden nicht weiterverfolgt. Warum, weiss ich nicht. Fakt ist, dass er während all der Jahre schwer psychisch krank war und ohne Therapie im Gefängnis sass. Die engen Vorschriften in der Haft haben seine Krankheitssymptome stimuliert.

Gibt es weitere Gründe für die lange Haftzeit?
Das Amt für Justizvollzug hat einen Antrag auf Verlängerung der Massnahme zu spät gestellt, nämlich erst dann, als diese beinahe abgelaufen war. Die Haft nach Ablauf der fünfjährigen Massnahme, die sich daraus ergeben hat, hat keine gesetzliche Grundlage. Dagegen haben wir bis vor Bundesgericht geklagt. Auch dieses sagte, dass die gesetzliche Grundlage fehlt, aber getan hat es nichts. Deshalb sind wir jetzt an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg gelangt.

Wie lautet Ihre Klage an den EGMR?
Wir haben dort ein Feststellungsbegehren in folgenden fünf Punkten gestellt: Man hat einen psychisch kranken Menschen unmenschlich und erniedrigend behandelt. Man hat ohne anfechtbare Verfügung eine Zwangsmedikation durchgeführt, ihn ohne gesetzliche Grundlage in Haft versetzt, das Verfahren dauerte viel zu lange und das Setting war ungeeignet für einen psychisch Kranken. Wir wollen, dass festgestellt wird, dass damit die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt wurde. Das wäre schon mal ein Riesenschritt.

Was nützt Igor L. das Urteil des EGMR, wenn es positiv ausfällt?
Wir hätten dann zumindest eine Feststellung. Diese könnte dann vielleicht wegweisend sein zur Erkenntnis, dass Artikel 59 ungeeignet ist, um die totale Sicherheit zu gewährleisten.

Wie meinen Sie das?
Das Bedürfnis nach dieser Sicherheit hat ungefähr Mitte der 90er- Jahre nach Fällen wie jenem auf dem Hönggerberg, bei dem ein Straftäter im Urlaub eine junge Frau ermordet hatte, dazu geführt, dass in der Schweiz ein Umbau vom liberalen Rechtsstaat zu einem fürsorgerischen Präventionsstaat stattgefunden hat. Dieser Umbau ist viel zu schnell gegangen. Unsere Gesetze und die Verfahren sind nicht dafür geeignet. Das zeigt sich darin, dass die nach Artikel 59 Verurteilten jährlich zunehmen. Doch es gibt viel zu wenig geeignete Einrichtungen. Das Strafrecht ist eigentlich nicht dazu programmiert, Sicherheit zu schaffen. Das macht das Polizeirecht. Das Strafrecht kommt immer zu spät. Bis jetzt war das gut genug. Aber plötzlich hat man das Gefühl, man müsse künftige Straftaten verhindern, Unrecht verhindern, das noch gar nicht passiert ist. Und damit sind wir überfordert. Wenn wir jetzt ein Urteil des EGMR hätten, das sagt, dass man bei Igor L. eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung durchgeführt hat, könnte das auch für künftige Betroffene etwas ändern.

Wann rechnen Sie mit einem Entscheid?
Momentan hat der EGMR 150 000 Beschwerden hängig, davon etwa 1200 aus der Schweiz. Normalerweise wartet man fünf Jahre. Aber ich habe Hoffnungen, dass wir schon im nächsten Jahr ein Urteil haben werden, weil der Schriftenwechsel bisher sehr zügig verlaufen ist.

Der nächste Termin, an dem sich für Igor L. etwas entscheiden könnte, ist in der kommenden Woche vor dem Obergericht. Worum geht es dann?
Das weiss ich auch nicht so genau. Die Massnahme wurde seit Juni 2016 de facto ja bereits verlängert. Jetzt geht es um die Frage, ob die Massnahme um weitere vier Jahre rückwirkend verlängert werden soll. Das Verfahren hat kafkaeske Züge angenommen.

* * * * *

«Das Problem wird sich weiter verschärfen»

Der Strafrechtsexperte Jonas Weber von der Uni Bern bezeichnet den Fall Igor L. als «tragisch» und fordert von Gerichten, den Vollzugsbehörden und der Politik mehr Ehrlichkeit im Umgang mit Straftätern.


Nach Artikel 59 des Schweizerischen Strafgesetzbuches können Gerichte psychisch schwer gestörte Straftäter zu einer stationären Therapie in einer geeigneten Institution verurteilen. Dies längstens für fünf Jahre. Bleibt die Therapie erfolglos, können die Vollzugsbehörden beliebig oft eine Verlängerung um weitere fünf Jahre beantragen.
Für Betroffene wie Igor L. kann daraus eine Endlosschleife werden, wenn die psychisch kranken Täter keine Therapie bekommen, weil es schweizweit viel zu wenig geeignete Einrichtungen für die angeordneten Therapien gibt. Igor L. ist nicht der Einzige, der deshalb ein Vielfaches seiner ursprünglichen Strafdauer im Freiheitsentzug verbringen muss.
Für Fachleute wie den Strafrechtsprofessor Jonas Weber von der Universität Bern ist gerade der Fall Igor L. als tragisch zu bezeichnen: «Man muss sich fragen, ob diese Praxis noch verhältnismässig ist.»


300 auf der Warteliste
Momentan gebe es in Schweiz ungefähr 600 Personen, die zu einer solchen Massnahme verurteilt worden sind. Zur Verfügung stünden aber nur etwa 300 Plätze. Deshalb würden derzeit rund 300 psychisch kranke Straftäter in Gefängnissen auf ihre Therapie warten.
Und jedes Jahr kämen weitere dazu. Weber: «Falls nicht mehr Therapieeinrichtungen gebaut werden, wird sich das Problem bei gleich bleibender Anordnungshäufigkeit weiter verschärfen.»


Keine Perspektive
Hier sei die Politik gefordert. Doch für Weber ist klar: «Niemand nimmt für psychisch kranke Straftäter gerne Geld in die Hand.» Es sei jedoch unehrlich gegenüber den Betroffenen, wenn man ihnen eine Therapie verschreibe, die sie dann doch nicht bekommen, kritisiert er. Und auch das kostet den Staat Geld. Wie Weber sagt, ist es erwiesen, dass die Therapien einen Nutzen haben. Täter könnten dank diesen früher wieder ins tägliche Leben in Freiheit integriert werden. Ohne Therapie sitzen sie auf unbestimmte Zeit und ohne Perspektive im Gefängnis.


Weniger Massnahmen
Für Weber gibt es drei Auswege aus dem Dilemma: Die Gerichte orientieren sich am geringen Angebot an Therapieplätzen und ordnen weniger Massnahmen an, oder sie urteilen strenger und sprechen bei schwersten Straftaten statt einer Massnahme eine richtige Verwahrung aus. Oder die Kantone bauen die nötigen Kliniken – und müssten so unter dem Strich gegenüber dem heutigen Zustand weniger Geld für psychisch kranke Straftäter ausgeben.


Gesetz anpassen
Der Berner Jurist David Mühlemann von der Beratungsstelle für Menschen im Freiheitsentzug humanrights.ch verweist auf den Menschenrechtsrat der Organisation der vereinten Nationen Uno. Diese erachte den Artikel 59 in seinen jüngsten Empfehlungen vom Juli 2017 als nicht kompatibel mit dem Uno-Pakt II und empfehle der Schweiz eine Anpassung der Gesetzesnorm. Mühlemann: «Die Schweiz tut demnach gut daran, nicht erst das Urteil aus Strassburg zum Fall Igor L. abzuwarten, bevor sie die nötigen Rahmenbedingungen schafft, um solche Fälle in Zukunft zu verhindern.»
Womöglich denken die Gerichte nun doch langsam um. Die Zeitung «der Bund» berichtete jüngst über einen Fall am Bernischen Obergericht. Dieses habe ein Urteil des Regionalgerichts Bern-Mittelland über die dritte Verlängerung einer Massnahme als unzulässig befunden und die Vollzugsbehörden angewiesen, den Betroffnenen «per sofort» zu entlassen. Brigitte Jeckelmann

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