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Berlin

Stadt der Obdachlosen

Obdachlose gehören zu Berlin wie die Berliner Schnauze. Das musste Fernweh-Autor Donat Blum schon vor 15 Jahren, 
bei seinem ersten Besuch in der Metropole, lernen. Besonders um die Weihnachtszeit werden die Randständigen wieder sichtbar.

Dank einer Online-Petition bleiben auch in diesem Winter zwei U-Bahnhöfe als sogenannte «Kältebahnhöfe» durchgehend offen. Der Senat lässt in ihnen Dixi-Toiletten aufstellen, und die Bahnhöfe werden von Sozialarbeitern betreut. Bild: Donat Blum
  • Dossier

Donat Blum

Ein Bekannter, ein pensionierter Sozialarbeiter, der kürzlich zum ersten Mal in Berlin zu Besuch war, betonte in einer Mischung aus Mitleid und Faszination immer wieder, wie auffällig die vielen Obdachlosen seien.

Und auch ich kann mich gut erinnern, wie mir bei meinem ersten Besuch in der Stadt vor 15 Jahren die zahlreichen Obdachlosen ins Auge stachen: Ein junges Pärchen, das höchstens zehn Jahre älter war als ich, sass auf einer Fussgängerbrücke einer U-Bahnstation. Neben sich zwei prall gefüllte Rucksäcke, mehrere halb zerfetzte Plastiktüten und zwei Hunde, für die sie eine Decke ausgebreitet hatten.


Eine ungewohnte Situation
Ich wusste damals nicht recht, wie ich mich verhalten sollte. Ich wollte hinschauen, weil mich interessierte, ob sie tatsächlich Obdachlose waren oder doch Durchreisende. Es war für mich unvorstellbar, dass sie permanent auf der Strasse lebten. Und ich hatte Angst, weil ich, ein Jugendlicher aus der Schweiz – und dort erst noch aus einer kleinen Kleinstadt – keine Ahnung hatte, wie darauf reagieren. Ich sah die aufgeschnittene Pet-Flasche, in die ich etwas Geld hätte reinlegen können. Doch die Zeit des Vorübergehens reichte nicht aus, um einen Entschluss zu fassen. Ich war überfordert. Die Situation war zu ungewohnt.

In der Schweiz findet jede und jeder, der es will, für die Nacht ein Dach über dem Kopf. So hatte ich es gelernt. Und so schien es mir in der Tat. Oder zumindest kann jede und jeder gelegentlich irgendwo duschen. Aufsuchende Sozialarbeiter ziehen durch die Strassen und weisen auf entsprechende Angebote und Verhaltensregeln hin. In Biel redet man eher von «Alkis» als von Obdachlosen und drückt aus, dass sie in der Nacht wohl alle die eine oder andere Unterkunft finden. Mit Wegweisungsartikeln wurde dieses Bild einer Schweiz ohne Obdachlose in vielen Schweizer Städten perfektioniert.


«Gewöhn dich dran»
Ganz anders in Berlin. Alljährlich, wenn die Nächte eisig werden, werden Obdachlose im öffentlichen Raum, in Zeitungen und in sozialen Medien zu einem der brennenden Themen: In einer Gruppe auf Facebook, die sich «Free Advice Berlin» nennt, werden Tipps ausgetauscht, wie man am besten mit dem beissenden Gestank umgeht, der sich nicht selten in der U-Bahn ausbreitet. Dick eingepackte Obdachlose ziehen mit Sack und Pack durch die Züge, fragen nach Geld oder folgen anderen, unersichtlichen Zielen. Die Geruchswolken, die sie zurücklassen, hängen noch Stationen später in den Wagen. Einige Fahrgäste ziehen die Schals vor die Nase, andere verbergen das Gesicht in ihren Mantelkragen und nur wenige scheinen den Gestank ausblenden zu können. Auf Facebook empfiehlt jemand, Tigerbalsam unter die Nase zu reiben. Andere schreiben: «Das ist Berlin. Gewöhn dich dran oder zieh halt weg. Obdachlose gehören viel länger zu dieser Stadt als du Yuppie.»

Obdachlose gehören zu Berlin wie die Berliner Schnauze. Die kommunale Politik tut sich mit effektiven humanen Lösungen seit Jahrzehnten schwer. Einige sind aus freiem Willen obdachlos. Die meisten sind es nicht.


Kältebahnhöfe eingerichtet
Und so wurde im vergangenen Monat von privater Seite eine Online-Petition gestartet, um die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) dazu zu bringen, doch noch einige U-Bahn-Stationen über Nacht offen zu halten. So wie sie es in den vergangenen Jahren getan hatten, nun aber verweigern wollten. Ein erfolgreicher Druckversuch, damit sich der Senat um die Obdachlosen in den U-Bahn-Stationen kümmert. Die beiden Akteure haben schliesslich die einvernehmliche Lösung gefunden: Zwei U-Bahnhöfe bleiben während dem Winter als sogenannte «Kältebahnhöfe» durchgehend offen. Der Senat lässt in ihnen Dixi-Toiletten aufstellen und die Bahnhöfe werden von Sozialarbeitern betreut.

Zudem werden die Bahnhöfe regelmässig vom Kältebus angefahren. Eine Berliner Institution, die beispielsweise in Hamburg von Sozialarbeitern immer wieder als vorbildlich gerühmt wird. Kaum setzt der Winter ein und beginnt neben unserem Haus das Lager zu wachsen, wird auch seine Rufnummer in den sozialen Medien rumgereicht und auf Plakaten im öffentlichen Raum beworben. Der Kältebus kann und soll gerufen werden, wenn man auf Obdachlose trifft, die es nicht mehr aus eigener Kraft in eine Notschlafstelle schaffen. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen suchen das Gespräch mit den Obdachlosen und bringen sie auf Wunsch in eine Notunterkunft. Wenn sie denn wollen: In den meisten Institutionen sind keine Hunde zugelassen und unter Obdachlosen weitverbreitete, unbehandelte psychische Krankheiten verunmöglichen nicht selten die Unterbringung in geschlossenen Räumen oder in Gruppen.


Platz für 5000 Obdachlose
Schätzungen gehen von bis zu 10 000 Obdachlosen auf Berlins Strassen aus. Ein grosser Teil von ihnen stammt aus Osteuropa. Die polnische Botschaft schätzt, dass je nach Jahreszeit zwischen 1000 bis 1500 Obdachlose allein aus Polen stammen. Wanderarbeiter, die auf Baustellen eingesetzt werden, und oft aufgrund von Betrug beim Lohn oder durch Anwerben unter falschen Voraussetzungen scheitern. Ob sie in einer der Notunterkünfte übernachten dürfen, hängt vom guten Willen der jeweiligen Betreiber ab. Rechtlich ist eine Betreuung für Menschen aus dem Ausland nicht vorgesehen.

Obdachlose – ausländische und inländische – gehören zu Berlin wie die Berliner Schnauze. Das stimmt auch insofern, als dass der gesellschaftliche Diskurs über sie und den Umgang mit ihnen weit zurückreicht. 1868 eröffnete die Stadt in Prenzlauerberg eine der ersten Einrichtungen für Obdachlose in ganz Europa. Bis zu 5000 Menschen fanden in der «Palme» vorübergehend Platz. Eine derart beeindruckende Institution, dass sie und ihre temporären Bewohner in den Arbeiten zahlreicher Künstler Niederschlag fanden – wie beispielsweise in den Illustrationen von Käthe Kollwitz oder im Roman «Alexanderplatz» von Alfred Döblin – und so das Bild der Stadt der Obdachlosen prägten.

Info: Der Schriftsteller Donat Blum ist Absolvent des Schweizerischen Literaturinstituts in Biel und pendelt zwischen Berlin und der Schweiz. Aktuell ist er mit seinem Debüt-Roman «Opoe» auf Lesetour.

Donat Blum

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