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Stadt Bern

Der Lärm als Bühne für Konflikte

Ausgehlärm führt in Bern zum Dauerkonflikt zwischen Behörden, Anwohnern und Gastrobetreibern. Grossräte orten dabei auch einen Kompetenzenstreit zwischen Stadt und Kanton – und fordern für erstere mehr Zuständigkeiten.

Lebendige Städte sind laut, bisweilen auch in der Nacht - für manche ist das Lebensqualität, für andere Belästigung. Bild: Lars Baumann

Stefan von Bergen

Städte machen Lärm, und Lärm macht reizbar. Vor allem die Geräuschkulisse ausgehfreudiger Menschen gab dieses Jahr in Bern schon mehrfach Anlass zu bisweilen skurrilen Rechtsstreitigkeiten. So liess der Gemeinderat den innerstädtischen Standort für den geplanten Jugendclub «Tankere» an der Predigergasse fallen, nachdem Anwohner vom gegenüberliegenden Aareufer präventiv Lärmklage erhoben hatten. Der Club soll jetzt auf der Grossen Schanze untergebracht werden.

Skurrile Konflikte

Im Mai hat die Stadt eine Rüge wegen Lärms eingefangen – von der kantonalen Fachstelle für Lärmakustik. Bei der Zwischennutzung auf der Schützenmatte habe es die Stadt versäumt, im Betriebskonzept der Nutzer Schutzmassnahmen gegen erhebliche Lärmimmissionen zu verlangen, tadelte die Fachstelle in einer Stellungnahme, die der Regierungsstatthalter angeforderte hatte. Die Kantonspolizei Bern, zu der die Fachstelle gehört, erklärt auf Anfrage, man halte sich bei Stellungnahmen strikt an Lärmmessungen und die Vorgaben der eidgenössischen Lärmschutzverordnung.

Mitte August stoppte die kantonale Baudirektion die 2017 noch erlaubte Zwischennutzung eines Gebäudes am Egelsee als sommerlichen Parkcafés. Obwohl sich Hunderte Quartierbewohner und die Stadtbehörden dafür einsetzten, gab die kantonale Behörde ein paar Anwohnern recht, die sich nicht zuletzt auch am Nachtlärm störten. Der Bau des neuen Tierheims in einer Lichtung des Bremgartenwald war gar 13 Jahre lang blockiert – wegen befürchteten Hundegebells. Erst im Frühjahr konnte sich der Tierschutz Bern mit bis zu 700 Metern entfernten Anwohnern einigen, durch einen Kompromiss bei den Auslaufzeiten in den Aussengehegen.

Lauter Unzufriedene

Lärmkonflikte hinterlassen meist Unzufriedene. Anwohner fürchten verständlicherweise, das urbane Freizeitverhalten nach Feierabend überborde und bringe sie um den Schlaf. Gastrobetreiber und Veranstalter aber halten die Behörden und die Kläger für Spielverderber, die die Lebendigkeit der Stadt abwürgen und ihr ländliche Ruhe verordnen wollen. Selbst die Behörden geraten sich wegen Lärmfragen in die Haare.

So orten Berner Grossräte einen grundsätzlichen Konflikt zwischen Stadt und Kanton. Um diesen dreht sich in der Novembersession des Grossen Rates ein Vorstoss. Der Stadtberner SP-Grossrat David Stampfli und andere urbane Mitstreiter fordern in einer Motion, dass grosse Gemeinden auf ein Gesuch hin selber für gastgewerbliche Verfahren, also auch für Überzeitbewilligungen, zuständig sein sollen. Derzeit liegt das in der Hoheit des Kantons.

Der Vorstoss greift eine Kernforderung der Bar- und Clubkommission (Buck) der Stadt Bern auf. Der Verbund der Berner Bars fürchtet, dass das Nachtleben in der Stadt und ihr Geschäft eingeschränkt werde. Max Reichen, Buck-Geschäftsführer und Jurist, kritisiert, dass die kantonale Stelle den üblichen Lärmpegel in der Innenstadt zu wenig berücksichtige und «ein ambivalentes Verhältnis zur Stadt und zu ihrer Gastroszene» habe. Er plädiert dafür, dass in Bern, so wie in Zürich, eine städtische Fachstelle statt die Regierungsstatthalterämter für Alltagslärm zuständig sein sollten.

Der Vorstoss für eine städtische Gastrohoheit wurde 2013 schon einmal in dieser Form eingereicht. Damals und auch jetzt wieder empfiehlt der Regierungsrat dem Kantonsparlament, den Vorstoss abzulehnen. Besonders für Überzeitbewilligungen brauche es die einheitliche, übergeordnete Bewilligungspraxis des Kantons und der Statthalter, findet die Kantonsregierung.

Veraltetes Lärmgesetz

Ein weiteres Mal dürfte die Lärmfrage nicht zu einem be- friedigenden Kompromiss führen. «Ausgerechnet bei den bisweilen harten Konflikten um Alltagslärm herrscht Rechtsunsicherheit, und es fehlen klare Massstäbe, weil man Alltagslärm anders als technischen Lärm nicht exakt messen kann», beschreibt der Stadtberner Anwalt Rudolf Muggli die unbefriedigende Situation. Er ist Spezialist für Lärmschutzrecht. In einigen Fällen hat er schon die Stadt Bern vertreten. Für ihn geht es bei Lärmstreitigkeiten eher um grundsätzliche Rechtsfragen als um die Zuständigkeit von Behörden.

Man könne die Problematik nur verstehen, wenn man sich die Ursprünge der eidgenössischen Lärmschutzverordnung von 1986 vor Augen führe, sagt Muggli. Diese entsprang damals der Erkenntnis, dass Lärm der Gesundheit schadet. Die Verordnung legte aber nur Grenzwerte für uniformen, technischen Lärm fest. «Der sogenannte Alltagslärm, den Menschen verursachen, kam in der Verordnung gar nicht vor», sagt Muggli. Erst im Nachhinein wurde auch der Alltagslärm in die Rechtsprechung aufgenommen. So gilt die von der Verordnung definierte Nachtruhezeit von 22 Uhr bis 6 Uhr früh auch für Alltagslärm.

Seither hat aber laut Muggli ein gesellschaftlicher Wandel eingesetzt. In der modernen Dienstleistungsgesellschaft ar-beiten immer mehr Leute mit gleitenden Arbeitszeiten, nicht mehr alle müssen also früh aufstehen und früh zu Bett gehen. Dank Teilzeitarbeit haben mehr Leute am Wochenende frei als in den 1980er-Jahren. Im Zuge der Mediterranisierung leben die Leute im Sommer in den Städten draussen. Jugendliche ziehen nachts durch die Strassen. «Die Lärmschutzverordnung ist veraltet», schliesst Muggli.

Immer häufiger enden Lärmstreite deshalb vor Gericht. Seit Ende der 1980er-Jahre muss das Bundesgericht Urteile in Streitigkeiten um Papageiengeschrei, abendliches Besteckgeklapper in Gartenrestaurants, Open-Air-Musik oder das Läuten von Kirchenglocken fällen. Gemäss Auskunft des Bundesamts für Umwelt (Bafu) ist einspracheberechtigt, wer sich von Lärm gestört fühlt und davon mehr betroffen ist als die Allgemeinheit. Die Gerichte müssen in sogenannten Einzelfallbeurteilungen die Lärmempfindlichkeit betroffener Personen berücksichtigen und möglichst objektiv die Lärmbelastung beurteilen.

Komplexe Mischrechnung

Weil sich Alltagslärm nicht präzis in Dezibel messen lässt, schuf der Cercle Bruit der kantonalen Lärmfachstellen Richtlinien und Excel-Tabellen für Alltagslärm. «Es geht dabei um komplizierte Berechnungen, nicht um klare Grenzwerte» erklärt Muggli. Die Tabellen liefern eine Mischrechnung, in der man den Lärmcharakter, Zeitpunkt und Häufigkeit des Lärms, die ortsübliche Lärmvorbelastung des Schauplatzes sowie das Ruhebedürfnis der Anwohner abwägt.

Nachts etwa ist die Lärmempfindlichkeit höher als tagsüber. Die Beurteilung des Alltagslärms bleibt also trotz Excel-Tabellen eine ziemlich unexakte Wissenschaft.

Rudolf Mugglis Fazit: «Wir sind heute bei Lärmstreitigkeiten konfrontiert mit einer toxischen Mischung.» Ihre Bestandteile: ein lückenhaftes, veraltetes Gesetz; überforderte Behörden, die ihren Ermessensspielraum nicht richtig auszunutzen wagen; komplexe und teure Gutachten, mit denen Fachleute unter sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen Objektivität herzustellen versuchen. Und zu guter Letzt: Das widersprüchliche Wesen Mensch, das alles will, aber nicht vor seiner Haustür.

Lärmklagen können ins Geld gehen. Über 10 000 Franken kann ein Lärmschutzgutachten wie jenes kosten, das beim Tierheimprojekt im Bremgartenwald vom Tierschutz erstellt werden musste. «Wenn nicht geklagt wird, heisst das noch nicht, dass Lärm nicht stört», sagt Rudolf Muggli. Oft fehle es Betroffenen an Zeit und Geld. Es sei deshalb nicht weiter erstaunlich, dass häufig Pensionierte Lärmklagen einreichten.

Lärmstreitigkeiten haben laut Muggli auch eine psychologische Seite. «Lärm ist eine Bühne, auf der man Konflikte austragen und inszenieren kann», sagt er. Wer Lärm mache, habe Macht. Hinter Lärmklagen steckten oft verborgene Motive. Etwa der Ärger zurückhaltender Personen auf ihre extrovertierten Nachbarn. Oft gehe es auch um den Generationenkonflikt zwischen älteren Leuten, die Ruhe suchen, und Jungen, die Betrieb wollen.

Kompromissvorbild Basel

Sieht Muggli einen Ausweg aus dem Lärmdilemma? «Man müsste die Gesetzesgrundlage anpassen und Lärmkonflikte lösungsorientiert angehen», sagt er und konstatiert gleich: «Man hat aber offenbar lieber Schuldige und personalisiert Streitigkeiten.» Der Berner Anwalt macht dennoch Vorschläge: Es brauche Anwälte, die deeskalierend auf Lärmkläger einwirkten. Und eine Kompromisskultur, in der Interessen offen gegeneinander abgewogen werden.

Muggli verweist auf die Sondernutzungspläne, welche die Stadt Basel für ihre Ausgehzonen und Plätze erarbeitet. Dafür wurde offen diskutiert, wie lebendig die Stadt sein solle, ob es eine Grenze des Überbordens gebe und inwiefern eine hörbare Lebendigkeit die Stadt aufwerte oder abwerte. Die Sonderzonen werden derzeit vom basel-städtischen Grossen Rat beraten.

Wann kommt Revision?

Auch das Nachtlebenkonzept der Stadt Bern geht in diese Richtung. Ist Muggli für eine städtische Hoheit in Lärmfragen? «Wenn die Rechtsgrundlagen des Bundes nicht ändern und den Alltagslärm nicht besser berücksichtigen, bringt eine städtische Bewilligungsinstanz nicht viel», erklärt er. Buck-Geschäftsführer Max Reichen geht weiter und fordert die Kommunalisierung des Gastgewerberechts und «mehr Einfluss für die Stadt in Lärmfragen».

Gemäss Auskunft des Bafu wird die Lärmschutzverordnung zwar derzeit im Bereich der Belastung durch Strassenlärm revidiert, beim Alltagslärm sei aber keine Anpassung in Vorbereitung. Die alten Fronten bleiben vorderhand bestehen.

Stichwörter: Stadt, Bern, Lärm

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