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Le Landeron

Er geht freiwillig ins Gefängnis

Alle drei Wochen reist Ueli Beer von Bern in die Justizvollzugsanstalt St. Johannsen, wo er einen Insassen besucht. Sein Delikt billigt Beer nicht. Aber er versucht, den Menschen dahinter zu sehen.

«Wie kannst du nur?», bekam Ueli Beer von Bekannten schon zu hören. Er selbst sieht in seinen Besuchen in St. Johannsen einen tieferen Sinn. Manuel Zingg

BZ/Jessica King


Der Regen tropft von seinem Schirm, als Ueli Beer durch das Tor der Justizvollzugsanstalt St. Johannsen tritt. Er weiss genau, wo er hinmuss: rechts abbiegen, durch den Innenhof, zum beigen Gebäude mit dem runden Eingang. Hier wartet Samuel K.* im Trockenen, grauer Pulli, graue Haare. «Hoi», sagt Beer, schüttelt ihm kräftig die Hand. Samuel K. lächelt.


Die zwei könnten alte Freunde sein. Sind sie aber nicht. Sie kennen sich erst seit April. Ueli Beer ist einer von 159 freiwilligen Mitarbeitenden, die im ganzen Kanton Bern Gefängnisinsassen besuchen. Eineinhalb Stunden lang treffen sie sich jeweils, ungefähr einmal alle drei Wochen. Seit 2015 hat Beer vier Männer begleitet, einen über vier Jahre lang, einen anderen nur ein paar Monate. Der Mann habe damals keinen Besuch mehr von ihm gewünscht, weil die politischen Ansichten zu verschieden waren, sagt Beer: «Ich war ihm zu links.»


Nichts mehr zu sagen
Meistens dauern solche Beziehungen laut der Fachstelle Freie Mitarbeit im Amt für Justizvollzug zwei bis drei Jahre. Die Gründe, warum sie enden, sind vielfältig: Der oder die Eingewiesene wird entlassen und das Mandat endet offiziell. Die eingewiesene Person wird in einen anderen Kanton verlegt oder ausgeschafft. Oder, wie bei anderen Beziehungen auch, man hat sich irgendwann einfach nicht mehr so viel zu sagen.


Als Ueli Beer Samuel K. zum ersten Mal besucht, denkt er: sympathischer Mann. Kommunikativ. Sehr interessiert. Samuel K. denkt: Was hält er wohl von mir? Ursprünglich hatte er sich für die Begleitung durch einen Freiwilligen angemeldet, weil er sich sorgte, den Draht zur Aussenwelt verloren zu haben. Seit über neun Jahren sitzt er im Gefängnis, zuerst im geschlossenen Vollzug, jetzt im offenen Setting. «Mich überkam ein mulmiges Gefühl beim Gedanken, nach meiner Entlassung Leute draussen kennen zu lernen», sagt er. «Mit den Besuchen wollte ich üben, über meinen Schatten zu springen.» Mittlerweile habe er diese sozialen Sorgen abgebaut. «Aber Ueli Beer gebe ich nicht mehr her.»


Beer lächelt, als er das hört. Die zwei sitzen im Besucherzimmer, kahle Wände, alte Tische. Im Hintergrund thront ein Metalldetektor. Beim Empfang musste Beer zuvor sein Weihnachtsgeschenk zur Kontrolle abgeben. Schokolade, in goldenem Papier eingepackt. Zweimal im Jahr sind Geschenke bis zu 30 Franken erlaubt: am Geburtstag und an Weihnachten.


Immer die gleichen Themen
Ueli Beer weiss vom Delikt, das Samuel K. begangen hat. Vor dem ersten Kennenlernen, dem sogenannten Chemie-Besuch, wurde er von der Fachstelle darüber informiert. Beer sieht kein Delikt als Ausschlussgrund, andere Freiwillige machen zur Bedingung, niemanden zu besuchen, der einen Mord begangen hat, Drogendealer war oder wegen Pädophilie verurteilt ist.


Über die Beziehung zum anderen gefragt, überlegen beide ein paar Sekunden, bevor sie unabhängig voneinander fast das Gleiche sagen. «Ich billige das Delikt nicht. Aber ich sehe den Menschen dahinter», sagt Beer. «In St. Johannsen werde ich primär als Insasse definiert und wahrgenommen. Bei den Besuchen fühle ich mich als Person», sagt Samuel K.. Im Gefängnisalltag drehe sich für ihn alles um den Vollzug. Egal ob mit seinem Anwalt oder mit befreundeten Insassen, irgendwann lande man im Gespräch immer wieder bei den gleichen Themen: «kleine Verwahrung», Artikel 59, bedingte Entlassungen, Progressionsstufen im Vollzug.


Kürbisgratin gekocht
Ganz anders die Gespräche mit Ueli Beer. Über sein Delikt haben sie noch nie geredet. Sie plaudern stattdessen über den Alltag, über die Arbeit von Keller, über gutes Essen, über Ferien von Beer, manchmal lachen sie auch. Einmal erzählte Beer, der seit 20 Jahren in einem Kochclub ist, von einem besonders schmackhaften Gericht: Kürbisgratin mit Ziegenkäse. Samuel K. war neugierig, Beer schickte ihm das Rezept per Brief. Zehn Tage später erhielt er ein Foto zurück: Samuel K. mit einem noch dampfenden Kürbisgratin, gekocht für sich und andere Insassen. «Beer bringt mir ein Stück Normalität in den Vollzug», sagt er. «Dafür bin ich sehr dankbar.»


Die beiden siezen sich, die Herzlichkeit in den Stimmen ist aber offensichtlich. Was ist ihre Beziehung genau? Ist es Freundschaft? Den beiden ist die Frage sichtlich unangenehm, Samuel K. zuckt die Schultern. «Eigentlich ist es egal, wie man das definiert», sagt er. «Ob jetzt institutionalisierte Beziehung oder Freundschaft: Er ist ein wichtiger Teil von meinem sozialen Netz.» Zum Geburtstagsfest, das er in ein paar Monaten im Ausgang bei seiner Familie feiern darf, ist Ueli Beer eingeladen.


Nähe und Distanz
Die Gefängnisbesuche sind nicht die einzige Freiwilligenarbeit, die Beer leistet. Er arbeitet auch als Klassenassistent für Pro Senectute. Nach seiner Pensionierung wollte sich Ueli Beer nicht ausruhen, sondern etwas der Gesellschaft zurückgeben. Ihn reizte dabei, einen Einblick in die verborgene Welt des Justizvollzugs zu erhalten – ein Thema, das ihm gänzlich unbekannt war. Die Ausbildung durch die Fachstelle dauerte sechs Monate und bestand aus zwölf Modulen. Darunter, ganz wichtig: Nähe und Distanz.
Vorwürfe von anderen


Auf die Arbeit mit den Kindern erhält er viel positives Feedback. Auf die Arbeit im Gefängnis? Weniger. Die Fragen sind oft dieselben: «Wie kannst du nur?» «Jetzt erhalten Häftlinge auch noch Besuch?» «Was ist das für eine Kuscheljustiz?» Beer versucht jeweils, diese Sichtweise sanft zu korrigieren, denn er hat schon zu viele Geschichten von Insassen gehört, die vom Gegenteil zeugen. Er zählt Beispiele aus dem Gefängnisalltag auf, spricht von den langen Tagen alleine in der Zelle, ohne Handy, ohne Internet, ohne Kontakt zur Aussenwelt, von durchgetakteten Tagen und strengen Regeln. «Die Männer hier haben alle etwas auf dem Kerbholz», sagt Beer. «Aber nach der Verbüssung ihrer Strafe müssen sie sich in der Freiheit wieder zurechtfinden. Zu dieser Reintegration kann ich vielleicht ein wenig beitragen.»


Im kühlen Besuchszimmer diskutieren die beiden nun über den ersten begleiteten Ausgang, den Samuel K. haben wird. In einem kleinen Rayon darf er mit Ueli Beer die Gegend erkunden. «Wir könnten auf einen Hoger laufen», schlägt Beer vor. «Vielleicht das Stedtli anschauen?», erwidert Samuel K.. Auf jeden Fall, sind sie sich einig, essen sie was Gutes.


*Name geändert

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