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Lyss

Der Tote im Becken

Der Seeländer Manuel Ramseier war 18 Jahre alt, als er 1997 tot beim Kraftwerk Felsenau in Bern gefunden wurde. Was damals passiert ist, ist bis heute ungeklärt.

Illustration: Karin Widmer

Johannes Reichen

Brigitte Moret weiss, wer ihren Sohn Manuel Ramseier umgebracht hat. Das heisst, sie ist überzeugt davon, die Wahrheit zu kennen. Ihren Verdacht hat sie auch in einem Buch beschrieben. Veröffentlicht hat sie es bis jetzt nicht. Der Text liegt nur als Word-Dokument auf ihrem Computer. Vielleicht wird sie die Zeilen überhaupt nie publizieren. Denn sie fürchtet Rache von jenem Mann, den sie beschuldigt. «Es wäre zu gefährlich», sagt sie. Und deshalb will sie nicht sagen, wen sie im Verdacht hat.

Moret lebt zusammen mit ihrem Mann in Lyss. Ein schönes Haus, ein grosser Garten, ein Pool. Sie war Kindergärtnerin, vor zwei Jahren wurde sie pensioniert. Die Morets verbringen viel Zeit im Wohnwagen und in Südfrankreich. «Das lenkt ab», sagt sie. Im Hauseingang steht ein kleines Schulpult, es gehörte einst Manuel. In der Stube hängen Fotos des Jungen, mehr erinnert in diesem Haus nicht mehr an ihn. Und doch ist er omnipräsent. So etwas könne man nie vergessen. «Er ist mein Sohn.»

 

Schock in den Ferien

März 1997. «Die Koffer sind gepackt. Mein Mann, meine Tochter und ich freuen uns auf unsere Ferien in Tunesien», so beginnt Morets Buch. «Noch mehr hätte ich mich gefreut, wenn mein achtzehnjähriger Sohn Manuel auch mitgekommen wäre.» Manuel aber musste arbeiten, er blieb daheim, schlief in der Wohnung seines Vaters, Morets Exmann. Und er wollte später mit Freunden nach Spanien fahren.

Die Ferien der Morets begannen schön, die Tage vergingen unter der tunesischen Sonne, es wurde Sonntag, der 6. April 1997, am Abend ein Musical im Hotel. «Mir ist plötzlich kalt», schreibt sie, und dann habe sie auf einmal zu weinen begonnen. Das war, meint sie, eine Vorahnung. In den nächsten Tagen musste sie immer wieder an Manuel denken. Machte sich Sorgen um ihn – und sich selbst Vorwürfe, dass sie alleine verreist war. Und dann, vier Tage später, habe am Morgen das Telefon an der Hotel-Réception geklingelt.

«Meine Mutter ist am Telefon, sie weint, Manuel ist seit vier Tagen spurlos verschwunden. Ich habe es gewusst, eine Mutter spürt so etwas», schreibt sie im Buch. Zwei Tage später reiste sie in die Schweiz zurück. Nichts mehr war wie zuvor. Am Sonntag, dem Tag ihrer Vorahnung, hatte Manuel gegen Abend das Haus seiner Mutter in Lyss verlassen, und dann hatte sich seine Spur verloren.

 

Eine erfolglose Suche

Nach der Rückkehr in die Schweiz besucht Brigitte Moret den Treffpunkt seiner Freunde, unterhält sich mit ihnen, kommt aber nicht weiter. Sie sucht den Polizeiposten auf. «Ich merkte bald, dass ich da keine grosse Hilfe erwarten konnte», sagt sie. «Sie sagten mir, er sei sicher in der Karibik am sünnele.» Sie habe ihn dann auf eigene Faust zu suchen begonnen.

Einmal fuhr sie nach Thun ins Café Mokka, weil dort eine Technoparty stieg, die er vielleicht hätte besuchen können. Sie klapperte Waldhütten und Clubhäuser ab. Durchsuchte eine Höhle im Kanton Solothurn, vielleicht hauste er ja darin. Streifte durch einen Wald in Bern, denn dort war sein Portemonnaie gefunden worden. Und immer wieder hielt sie sich in Biel auf, bei der Szene auf der Kirchenterrasse, wo die Abhängigen und Abgehängten herumhingen.

Sie fiel auf ein Grossmaul herein, das behauptete, Manuels Aufenthaltsort zu kennen. Erhielt einen merkwürdigen Anruf, am anderen Ende rief jemand «Hallo Mami». Wer immer es war, ihr Sohn war es jedenfalls nicht, denn wie sich herausstellt, lebte er da bereits nicht mehr. Ein ganzer Monat verging zwischen seinem Verschwinden und dem Tag, an dem seine Leiche entdeckt wurde.

 

Ein schrecklicher Fund

Es war Donnerstag, der 8. Mai 1997, Auffahrt, und Manuel Ramseier lag mit gefesselten Beinen im Ausgleichsbecken des Kraftwerks Felsenau an der Aare. Er wies Verletzungen am Kopf und Rücken auf. Ihr Mann überbrachte ihr die Nachricht. «Ich konnte nicht weinen, stand wohl unter Schock.» Jetzt war sein Tod Gewissheit. Ansonsten war aber wenig klar. Auch am nächsten und am übernächsten Tag nicht, und ebenso eine Woche später nicht. Die damalige Stadtpolizei Bern suchte nach Hinweisen.

Als nach zwei Jahren die Umstände des Todes noch immer ungeklärt waren, setzte Brigitte Moret eine Belohnung für Hinweise aus: 20 000 Franken. Es nützte nichts, bis heute hat sie davon keinen Franken ausgegeben. Das Geld liegt aber immer noch bereit für Tippgeber. Vor drei Jahren, sagt Moret, sei sie nochmals von der Polizei befragt worden. Doch der Fall ist bis heute nicht geklärt.

«Die Leiche von Manuel Ramseier lag wohl mehrere Wochen im Wasser, was die Untersuchungen erschwerte», sagt heute Polizeisprecher Patrick Jean. Es habe keine Hinweise auf Gewalteinwirkung gegeben. Nur die Beine waren eben gefesselt. Ein Tötungsdelikt sei also nicht eindeutig erkennbar gewesen, aber auch nicht auszuschliessen. «Die Ermittlungsweise orientierte sich deshalb an einem möglicherweise vorliegenden Tötungsdelikt.» Der Verdacht habe sich aber nicht erhärtet.

 

Ein ruhiger junger Mann

Das ist auch der Grund, dass der Fall vor rund 13 Jahren auf der Website der Kapo von der Liste der «ungeklärten Tötungsdelikte» gestrichen wurde. Vor ein paar Jahren sagte ein Polizeisprecher in einem Zeitungsbericht, dass von einem Suizid ausgegangen werde. Von dieser Theorie hält Brigitte Moret nichts. «Er hatte ein kleines Goldarmband und eine Goldhalskette, die ich ihm geschenkt habe, ausserdem ein Käppi, das er immer getragen hat – all das ist verschwunden.» Das seien Hinweise darauf, dass er ermordet worden sei.

«Er war ein lebensfroher Mensch, das hätte er nie gemacht», sagt sie auch. Ein ruhiger und lieber Bub. Er machte eine Lehre als Maurer, traf sich gerne mit seinen Freunden. Streit mochte er nicht, dafür liebte er Tiere. Besonders gut gefiel es ihm, wenn die Familie auf Safari nach Kenia fuhr – das kam mehrmals vor. Daheim ass er besonders gerne Rahmschnitzel mit Nüdeli – das Gericht kocht Moret bis heute nicht. Auswärts mochte er am liebsten Moules et Frites – Muscheln isst seine Mutter an jedem 8. November, Manuels Geburtstag.

 

Mit der Ungewissheit leben

März 2020. Spiegelglatt liegt das Ausgleichsbecken beim Kraftwerk Felsenau in der Sonne. Es ist eingezäunt, hat die Form eines Trapezes. Eine kühle, namenlose Skulptur ragt aus dem Wasser, sie wurde ein paar Jahre vor Manuels Tod installiert. Es ist der Ort, an dem Manuel starb. Aber ist es auch ein Ort, an dem ein Mensch Suizid begeht? Schwer vorstellbar. Ein paar Meter weiter unten am Hang fliesst die Aare vorbei. Brigitte Moret war einmal da, kurz nach dem Fund, auf Wunsch eines Fernsehsenders. Heute kann sie das nicht mehr. «Das würde ich nicht ertragen.» Auch ihr Psychologe hat ihr davon abgeraten. Seit 23 Jahren versucht sie irgendwie, mit dem Verlust zu leben.

Sie betreut eine Website zum Gedenken an ihren Sohn, www.manuelramseier.ch. Sie gründete in Bern eine Selbsthilfegruppe, die es nicht mehr gibt. Reist regelmässig nach Deutschland zu Treffen von Betroffenen. Sie engagierte sich für die Verwahrungsinitiative stark, die 2004 angenommen wurde. Dabei sei es ihr nicht nur um Manuel gegangen, sondern auch um missbrauchte Kinder oder den mehrfachen Kindermörder Werner Ferrari. Sie hatte eine Mutter kennen gelernt, deren Kind von ihm umgebracht worden war.

«Früher stellte ich mir vor, dass ich den Mörder meines Jungen erschiessen würde, wenn ich ihn sehe», sagt sie. Heute denke sie das nicht mehr. Überhaupt müsse sie sich wohl damit abfinden, dass er nie gefunden werde. Ihren Verdacht hat sie der Polizei mitgeteilt. Auch ihr Buch mit der ganzen Geschichte hat sie den Ermittlern zur Verfügung gestellt. Aber es ist, wie es ist, sagt sie. «Es gibt einfach keine Beweise.»

 

Stichwörter: Lyss, Tote, Becken, Wasser, Seeland, Kraftwerk

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