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Agrarinitiativen

Die Agrarinitiativen – eine notwendige Radikalkur

Brigitte Jeckelmann

W ohl selten hat ein Abstimmungskampf wie jener zu den beiden Agrarinitiativen die Gemüter derart bewegt. Kein Wunder, denn Nahrung, Natur und Umwelt betreffen jede und jeden. Dass es dabei zu schlimmen Misstönen kommt wie Drohungen gegen Befürworter und Gegnerinnen, ist jedoch traurig und zeigt eine erschreckende Intoleranz gegenüber der freien Meinungsäusserung, eines Rechts, auf das Demokratien doch stolz sein sollten. Es zeigt aber auch auf, dass auf beiden Seiten grosse Ängste bestehen. Diese Ängste sind durchaus real – Bauern fürchten um ihre Existenz – Bürgerinnen und Bürger aber auch, denn es geht um die eigene Gesundheit und jene der Nachkommen. Doch die Debatte ist mittlerweile völlig aus dem Ruder gelaufen.
Klar ist: Es braucht einen Wandel in der Landwirtschaft. Waren synthetische Pestizide einst ein Segen, denn sie ermöglichen reichlich Ertrag, hat man nun erkannt: Sie schaden den Lebewesen im Boden und in den Gewässern. Sie gelangen ins Grundwasser, ins Trinkwasser, werden über die Luft verfrachtet, wir atmen sie ein, ohne uns dessen bewusst zu sein. Mit welchen Folgen, ist noch unklar. Es gibt zu denken, dass in Frankreich die Parkinsonsche Krankheit im Zusammenhang mit Pestiziden als Berufskrankheit von Landwirten anerkannt ist.
Wir stimmen am 13. Juni über den Einsatz von Steuergeldern und Pestiziden ab, doch sollten wir diese Vorlagen zum Anlass nehmen, generell über unseren Konsum und unsere landwirtschaftliche Produktion nachzudenken. Der Fleischhunger der Bevölkerung verursacht Stickstoffemissionen. Ammoniak, Lachgas und Stickstoffoxide verschmutzen die Luft und schlagen sich als Nitrat im Grundwasser und in den Böden nieder. Im Boden schädigt Nitrat die Mykorrhiza-Pilze, jene Organismen, die Pflanzen mit Nährstoffen versorgen. Auch in den Wäldern reichert sich Nitrat im Boden an und versauert diesen. Die Folgen sind drastisch: Die Bäume sind weniger gut im Boden verwurzelt, sie sind anfälliger auf Parasiten, auf Trockenheit, auf Windwurf und sie bilden weniger Holz. Wissenschaftler schlagen Alarm: Dies könne die Funktion der Schutzwälder gefährden. Waldböden sorgen mit ihrer Filterwirkung zudem für sauberes Trinkwasser. Fortlaufend hohe Stickstoffmengen beeinträchtigen diese Filterwirkung.
Abertausende Tonnen Futtermittel aus dem Ausland treiben Kühe, Schweine und Hühner zu immer mehr Leistung an. Die Landwirtschaft, so gewinnen Konsumentinnen und Konsumenten den Eindruck, ist zu einer Industrie geworden. Dies zeigt sich auch in der Bezeichnung «Fleischproduzenten». Dabei geht es hier um Tiere, Lebewesen, die fühlen, die Schmerz empfinden. Muss es denn sein, dass ein Küken innerhalb eines Monats derart mit Futter vollgestopft wird und so stark an Gewicht zunimmt, dass es zu schmerzhaften Veränderungen an den Beinen kommt? Ist es ethisch vertretbar, männliche Küken zu Biogas zu verarbeiten? Muss es sein, dass eine Kuh auf Teufel komm raus jedes Jahr ein Kälbchen gebärt, damit sie mehr und noch mehr Milch liefert? Es geht bestimmt auch anders. Ich erinnere mich an die Beobachtung eines Landwirts, der bei seinen Kühen nach der Umstellung auf Bio eine frappante Wesensveränderung festgestellt hat. Weniger gestresst seien sie, sagte er, viel ruhiger und zufriedener. Wie er selber übrigens auch.
Einen Gang runter schalten. Weniger ist mehr. Ausbrechen aus dem Hamsterrad, innehalten, durchatmen. Nicht immer nur produzieren, produzieren, produzieren. Ja, ohne chemische Pestizide und Futtermittel aus dem Ausland würde die inländische Produktion wohl zurückgehen. Doch wie schlimm wäre das eigentlich? Sehr viel wäre schon mit weniger Foodwaste auszugleichen. Ist es von Konsumentinnen und Konsumenten wirklich zuviel verlangt, weniger Essen wegzuschmeissen?
Es gibt den schönen Begriff der Suffizienz, zu Deutsch Mässigung oder auch Genügsamkeit. Für Urs Niggli, den ehemaligen Direktor des Forschungsinstituts für biologischen Landbau, ist die Mässigung der einfachste Weg zu einem nachhaltigen Ernährungssystem, wie er in seinem Buch «Alle satt?» beschreibt. Längst ist klar: Zuviel essen macht krank. Der Mensch braucht nicht täglich ein Steak, um sich gesund zu ernähren. Er braucht im Februar auch keine Erdbeeren aus Spanien, keine Trauben aus Südamerika und auch keine Frühkartoffeln aus Ägypten.
Wie sich die Lebensmittelpreise bei einer all-fälligen Annahme der Initiativen entwickeln, ist schwer abschätzbar. Alles wird teurer, sagen die Gegner, denn die Produktionskosten würden steigen. Muss nicht zwingend sein, halten andere dagegen. Mehrere unabhängige Fachleute wagen auf Anfrage keine konkrete Prognose. Der Dachverband Bio Suisse hat für Irritation gesorgt, indem er sich für die Nein-Parole zur Trinkwasserinitiative ausgesprochen hatte. Die Begründung: Es käme zu einem Überangebot an Bio-Produkten und somit zu tieferen Preisen. Dies sei nicht im Interesse der Biobauern.
Eine Gruppe Agrarfachleute, die die Website umstrittene-pestizide.ch betreibt, nimmt den Grosshandel in die Pflicht. Dieser streiche übertriebene Handelsmargen ein. Zudem würde ein Verzicht auf chemische Pestizide, weniger Gülle und keine vorbeugenden Antibiotika bei Nutztieren zu sinkenden Kosten bei der Gesundheit und der Sanierung von Umweltschäden führen. Dies könnte höhere Lebensmittelpreise kompensieren, die Kaufkraft würde dadurch nicht geschmälert.  
So oder so. Die beiden Agrarinitiativen sind eine Chance, die es jetzt zu packen gilt. Denn die Zeit drängt. Dass es die Politik nicht ernst genug meint mit den Massnahmen zur Senkung von Pestiziden und Nährstoffeinträgen, hat sie mittlerweile unter Beweis gestellt. Die Agrarpolitik 22 plus landete in der Versenkung. Die parlamentarische Initiative zeigt zwar, dass der Handlungsbedarf erkannt ist. Doch konkrete Massnahmen, wie die Ziele zu erreichen sind, enthält diese nicht. So liegt es denn am Volk, ein deutliches Zeichen zu setzen. Immer wieder hört man von Bauern, wenn es um die Initiativen geht: Da wird Unmögliches verlangt. Wie um Gottes Willen soll man ohne Chemie auskommen? Schützen wir unsere Pflanzen, heisst es. Denn man würde ja bei Kopfweh auch zu Pillen greifen. Aber: Vielleicht wäre es klug, sich auch mal Gedanken über den Ursprung der Kopfschmerzen zu machen und nicht einfach Pillen einzuwerfen? Denn diese lindern zwar den Schmerz, doch sie können die wahren Gründe verschleiern und verhindern, dass rechtzeitig ein schweres Leiden angegangen wird.  
Urs Niggli bezeichnet die Agrarinitiativen als eine Radikalkur für die Landwirtschaft, den Handel, aber auch für die Konsumenten und Konsumentinnen. Sie alle sind zum Umdenken gefordert. Um beim Beispiel des leidenden Patienten zu bleiben: Eine Radikalkur ist bei manchen Krankheiten unumgänglich. Nach einem Herz-infarkt verordnen Ärztinnen Betroffenen oft eine radikale Änderung des Lebensstils. Nun ist die Natur die Patientin, die Lebensgrundlage der Bauern, der Konsumentinnen und Konsumenten. Das Volk entscheidet jetzt darüber: Soll man die Ursachen der Krankheit an der Wurzel packen – oder weiterhin lediglich an den Symptomen herumdoktern?
bjeckelmann@bielertagblatt.ch
Info:Die Quellenangaben finden Sie unterwww.bielertagblatt.ch/agrarinitiativen

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