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Jeder für sich und doch zusammen

Im Engel-Haus in Twann lebt eine bunte Gemeinschaft von Menschen. Von einem speziellen Projekt und einem Traum, der wahr geworden ist.

Leben im Engel-Haus: Erika Reckeweg, Ruth Imhof, Trudy Römer, Aldo Colemberg, Ursula Kohler, Pascale Pohl, Ursula Magri und Anita Baumgartner (von links). Raphael Schaefer
  • Dossier
von Brigitte Jeckelmann
 
Das Engel-Haus in Twann könnte viele Geschichten erzählen: 1670 erbaut, musste das einst stolze Winzerhaus zahlreiche Besitzerwechsel über sich ergehen lassen. Bis es zuletzt lange Zeit leer stand und zu zerfallen drohte – hätte es nicht vor rund sieben Jahren die Wohnbaugenossenschaft Zuhause am Bielersee gekauft. 
 
Die Twannerin Anita Baumgartner hatte einen Traum: Das Engel-Haus sollte wieder zum Leben erweckt werden. Sie stellte ein Frauenteam zusammen, das aus dem Haus ein Begegnungs- und Kulturzentrum für das ganze Dorf machen wollte. Zugleich sollten neun altersgerechte Wohnungen ansässigen Seniorinnen und Senioren ein Zuhause bieten. Kann das gelingen? Es kann. Dies zeigt ein Besuch bei den Bewohnerinnen und Bewohnern des Hauses. An einem verregneten Nachmittag sitzen sieben von ihnen zusammen an einem grossen, viereckigen Tisch und gewähren einen kurzen Einblick in ihr Leben.
 
Haus mit Charakter
So charaktervoll wie das frühere Winzerhaus, das heute restauriert und umgebaut ist, sind auch die Menschen, die darin wohnen. Da ist zum Beispiel Trudy Römer auf der rechten Seite am Tisch. «Eine Zugezogene», wie sie sagt, vor über 50 Jahren nach Tüscherz gekommen, inzwischen längst in der Gegend verwurzelt und «eine von hier». Sie führte zusammen mit ihrem Mann einen Weinbaubetrieb und war fast 40 Jahre lang die Wirtin des «Rebhauses» in Wingreis. Nun ist der Weinbaubetrieb verpachtet, die Wohnung hat das Ehepaar den Kindern übergeben. Wegziehen kam nicht infrage, die Wohnungen im Engel-Haus kamen gerade recht. Heute fühle sie sich hier sehr wohl, sagt Trudy Römer. Hier im Engel-Haus, wo sie zusammen mit ihrem Mann in einer Wohnung lebt, im Kreis ihrer Kinder, Enkel, Freunden und Bekannten und als Teil des Dorflebens. Ähnlich beschreiben das auch die übrigen Bewohnerinnen:
 
Ruth Imhof, die «vor über 70 Jahren in Klein-Twann auf die Welt kam», jahrzehntelang den Bahnhofskiosk in Twann führte und nun, wo die Kinder aus dem Haus waren, zu viel Platz für sich alleine hatte. In der Gemeinschaft im Engel-Haus, eingebettet im Dorf wie Trudy Römer, hat sie sich behaglich eingerichtet. Ruth Imhof geniesst in ihrer Wohnung vom Bett aus nachts den Blick in den Sternenhimmel, tagsüber auf den See. Sie findet das herrlich. Ursula Magri legt grossen Wert auf die Selbstständigkeit und die Unabhängigkeit, die jede und jeder in seiner Wohnung hat. 
 
Die Bewohnerinnen und Bewohner pflegen die Gesellschaft untereinander, wenn es sich ergibt, bei Gesprächen, wenn man sich im Treppenhaus begegnet, oder in der Bibliothek. Diese ist zugleich die Dorfbibliothek. Twannerinnen und Twanner gehen dort ein und aus. Da kommt es wie von selbst zu Begegnungen, der Austausch zwischen den Bewohnern des Engel-Hauses und der Dorfbevölkerung geschieht fliessend. Das Dorf und seine Menschen sind Bestandteil des Lebens jener, die im Engel-Haus leben. Umgekehrt gehört das Haus ebenso zum Dorf. 
 
Gesellschaft bei Bedarf
Ursula Magri  lebt seit über 50 Jahren in Twann. Als ihre Augen immer schlechter wurden, drängte sich eine Veränderung auf. Das Engel-Haus war die Lösung. Ursula Magris Tochter und der Sohn leben mit ihren Familien ebenfalls im Ort, so kann sie in ihrer Nähe bleiben. Zudem: «Ich kenne hier alle Leute.» Wenn sie im Dorf unterwegs ist, erkennt sie die Menschen an den Umrissen und an der Stimme. 
 
Ursula Magri sagt, sie schätze es, dass sie jederzeit Gesellschaft haben könne, wenn ihr danach sei. «Ich kann hier aber auch meine Ruhe haben, wenn ich will.» Nähe und Distanz in ausgewogenem Verhältnis – so stimmt es für alle, wie sich im Gespräch herausstellt. Oben am Tisch sitzt Anita Baumgartner. Sie, die dafür sorgt, dass im Engel-Haus jeder hat, was er braucht. Während sie der Runde beim Diskutieren zuhört, schmunzelt sie vor sich hin. «Ich kann kaum beschreiben, wie sehr ich mich freue», sagt sie. Die Bewohnerinnen und Bewohner bezeichnet sie als «meine erweiterte Familie». Die Fürsorge liegt ihr im Blut: Sie war manches Jahr Stützpunktleiterin der Spitex Bielersee in Twann. 
 
Nun ist sie zwar pensioniert, arbeitet aber weiterhin bei der Spitex und macht den mehrheitlich weiblichen Bewohnerinnen immer wieder mit kleinen Aufmerksamkeiten eine Freude: Mal sind es Grittibenzen am Samichlaus, mal Süssigkeiten an Ostern, Blumen oder Früchte und Gemüse aus dem eigenen Garten. «Sie ist hier die Tätschmeisterin», sagt Trudy Römer, die sich aus der Gesprächsrunde verabschiedet: «Mein Enkel feiert heute seinen 11. Geburtstag, da darf ich nicht fehlen.»
 
Auch für Erika Reckeweg, einst aus Deutschland in die Schweiz und dann nach Twann ins Engel-Haus gezogen, um in der Nähe der Familie zu sein, ist die Atmosphäre im Haus etwas Besonderes. Die Verbindung von Alt und Neu sei es, die ihr gefalle, sagt sie. Der Blick auf die Reben und auf den Twannbach geniesse sie sehr. Und dem Zusammenleben könne Sie viel Positives abgewinnen. 
 
Die Werkstatt des Grossvaters
Pascale Pohl ist mit Abstand die Jüngste im Engel-Haus. Sie hat ihren Wohnsitz von Biel nach Twann verlegt und lebt seit zwei Jahren in der Wohngemeinschaft. Sie sagt, sie fühle sich im Haus, im Dorf und überhaupt in der Gegend sehr wohl. Sie liebt die Natur, die Pflanzen, die Tiere und die Menschen. Und sie ist des Lobes voll über die Twannerinnen und Twanner: «Ich habe kaum anderswo offenere Menschen getroffen.» 
 
Dass die Menschen im Engel-Haus gut miteinander klar kommen, ist offensichtlich. Man ist per Du, der Ton ist freundschaftlich, scherzend. Das lockere Miteinander tut auch Ursula Kohler gut. Sie schwärmt von der «wunderbaren, einmaligen Kulisse». Von ihrer Wohnung könne sie einen direkten Blick in die Werkstatt ihres Grossvaters werfen. Damit meint sie die Berner Alpen, wo ihr Grossvater einst Bergführer war und bei dem sie eine glückliche Zeit verbracht hat. 
 
Daran erinnern sie auch die beiden Möbel in ihrer Wohnung, die der Grossvater eigens für sie gezimmert hat: ein filigraner Schemel und eine kunstvoll angefertigte Kommode. An der Wand am Kopfende ihres Bettes prangt ein altes Gemälde, das restauriert wurde. Es stellt ein Wappen dar, eine Art Kugel mit einem schwarzen Schaf darüber. Ursula Kohler sagt, dem schwarzen Schaf fühle sie sich eng verbunden. 
 
Ob sie sich hier wohlfühle? Sie blickt hinauf zum Schaf, hinüber zum See und dorthin, wo die Wolken derzeit die Alpen verdecken. Sie sagt: «Ja, ich fühle mich hier zuhause.»
 
Stichwörter: Twann, Engel-Haus, Bielersee

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