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Babyfenster

Was geschieht nun mit dem Berner Säugling?

Zum fünften Mal hat eine Mutter vergangene Woche ihr Neugeborenes ins Babyfenster des Lindenhofspitals gelegt. Die Notlösung funktioniert, doch es stünden bessere Alternativen bereit.

Hier wurde der Bub abgegeben: Das Babyfenster im Lindenhofspital. Symbolfoto: Adrian Moser

Benjamin Bitoun

Am Dienstag, dem 3. August, ertönt um 21.39 Uhr ein Alarmton, der bei der diensthabenden Hebamme auf der Geburtenabteilung im Lindenhofspital den Puls höherschlagen lässt: Es wurde ein Baby ins Babyfenster des Spitals gelegt.

Der Junge sei wohlauf und bereits einige Tage zuvor zur Welt gekommen, hält der Kanton tags darauf in einer knappen Mitteilung fest. Es ist das fünfte Kind, das seit der Eröffnung des Babyfensters beim Lindenhof im Jahr 2013 anonym abgegeben wurde, der erste Bub nach vier Mädchen.

Gut zehn Tage später ist der Kleine noch immer auf der Geburtenabteilung des Spitals, schreibt die Lindenhofgruppe auf Anfrage. Pflegefachpersonen der Neonatologie pflegen und betreuen ihn. Sie führen auch ein Tagebuch und halten seinen Start ins Leben in Wort und Bild fest – für später, wenn die grossen Fragen zu den ersten Tagen auftauchen.

Der Start ins Leben beginnt mit Elternsuche

Seinen Namen, der aus Datenschutzgründen nicht genannt wird, hat der kleine Junge bereits von der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) Bern erhalten. Sie hat auch einen Vormund bestimmt. Wie lange das Baby noch im Spital bleibt, liegt im Ermessen der Ärzte.

Danach kommt der Kleine in eine Pflegefamilie oder in eine für die Pflege von Säuglingen spezialisierte Institution. Was es für ihn werden wird – «das hängt nicht zuletzt davon ab, ob bereits eine geeignete Familie gefunden werden konnte oder wo ein Platz frei ist», sagt Charlotte Christener, Präsidentin der Kesb Bern.

Ein Jahr muss das Kind mit seinen Pflegeeltern zusammenleben, bevor diese es adoptieren können. So lange hat seine leibliche Mutter Zeit, um sich zu melden und ihr Kind zurückzufordern. Das steht auch im Brief, der für sie auf dem Bettchen hinter der Scheibe liegt. Mit anderen Worten: Anders als das Babyfenster, das die Mutter nach dem Hineinlegen des Kindes nicht mehr öffnen kann, steht ihr das Fenster zurück in dessen Leben ein Jahr lang offen.

Dazu sagt die Kesb: «Wenn sich die abgebende Mutter bei uns meldet, wird nach Interesse des Kindes und in Zusammenarbeit mit den involvierten Stellen und Personen nach Wegen und Möglichkeiten gesucht, wie dieses für beide Seiten sehr einschneidende Ereignis bestmöglich bewältigt werden kann.»

Ein toter Säugling am Seeufer war der Auslöser

Eine Strafe muss die Mutter in diesem Fall nicht befürchten – anders als die Frau, die Anfang 2020 ihr neugeborenes Mädchen in einer Kartonschachtel und nur mit einer Wolldecke umhüllt im Werkhof von Därstetten ausgesetzt hat. Die Kesb betont: «Da das Kind durch die Abgabe im Babyfenster nicht an Leib und Leben bedroht wird, ist die abgebende Mutter vor einer Strafverfolgung geschützt.»

In der Schweiz gibt es inzwischen acht Babyfenster. Das erste wurde vor 20 Jahren im Spital Einsiedeln SZ eröffnet, symbolisch am Muttertag, am 9. Mai 2001. Auslöser war der Fall eines ausgesetzten Babys, das zwei Jahre zuvor die Schweiz erschüttert hatte; ein Fall ähnlich dem von Därstetten – jedoch ohne Happy End. Als eine Passantin den kleinen Jungen am Ufer des Sihlsees in der Nähe von Einsiedeln fand, war er tot.

In der Folge finanzierte die Stiftung Schweizerische Hilfe für Mutter und Kind (SHMK) nach Vorbild der Hamburger Babyklappe im Spital Einsiedeln das erste Babyfenster. Die Anti-Abtreibungs-Organisation, die aufgrund ihrer fragwürdigen Beratungsmethoden für schwangere Frauen nicht unumstritten ist, betreibt heute die meisten der acht Fenster in der Schweiz. Auch das des Lindenhofspitals, das 2013 in Betrieb genommen wurde.

Die SHMK übernimmt nach eigenen Angaben jeweils sämtliche Kosten für ein neues Babyfenster. Die Inbetriebnahme koste einmalig rund 70 000 Franken, der Betrieb sämtlicher Fenster etwa 80 000 Franken pro Jahr. Sämtliche Kosten seien spendenfinanziert, heisst es auf Anfrage.

Für Dominik Müggler, Mitgründer der Betreiberstiftung, sind die Babyfenster eine Erfolgsgeschichte. Seit es sie gebe, sei die Zahl der getöteten oder ausgesetzten Babys in der Schweiz pro Jahr im Durchschnitt auf unter eins gesunken. «Babyfenster retten Leben», sagt er. «Bis heute konnten 27 Babys aufgenommen werden. Hinter jedem Fall steckt eine höchst dramatische Geschichte einer Mutter, die sich in einer extremen Notsituation befand.» Insgesamt 13 Mütter hätten sich nach der Abgabe gemeldet. Sechs wollten das Baby zurücknehmen.

Für Müggler ist klar, dass es noch weitere Babyfenster braucht – auch im Kanton Bern. «Für eine vollständige Abdeckung der Schweiz mit genügend Babyfenstern braucht es noch zusätzliche vier bis sechs Installationen.» Aktuell müssten vor allem Frauen aus der Westschweiz bis nach Sitten oder Bern reisen, um ein Baby anonym abzugeben.

Auch Bundesrat und Justiz hätten nach anfänglichen Bedenken die Babyfenster akzeptiert, fügt der SHMK-Präsident hinzu. Dies jedoch als Notlösung. Denn auch nach 20 Jahren bewegen sie sich rechtlich noch immer im Graubereich. Anonyme Geburten sind eigentlich illegal, weil sie «die Meldepflicht und den Anspruch auf Kenntnis der Abstammung verletzen», hielt der Bundesrat 2016 in einem Bericht fest. Doch er betont darin auch: «Die Rettung des Lebens eines Kindes wiegt die Verletzung seines Anspruchs auf Kenntnis der Abstammung bei weitem auf.»

«Babyfenster bieten eine Scheinlösung»

Dennoch: Verstummt ist die Kritik an den Babyfenstern nicht. Für Schwangere in Not brauche es zwar unbedingt Angebote, die Hilfe in Situationen böten, wo niemand von der Geburt erfahren dürfe, sagt etwa Barbara Berger, Leiterin von Sexuelle Gesundheit Schweiz. Die Organisation ist im Bereich der Familienplanung und Sexualerziehung tätig. «Babyfenster bieten jedoch eine Scheinlösung, weil sie die medizinische Versorgung der schwangeren und gebärenden Person ausser Acht lassen und die Abstammungsrechte des Kindes missachten.»

Als Alternative empfiehlt Berger die sogenannte vertrauliche Geburt. Die Vorteile gegenüber dem Babyfenster liegen auf der Hand: Schwangere müssen ihr Kind nicht unter schwierigen oder gefährlichen Umständen allein gebären, sondern in einem sicheren Umfeld mit medizinischer und psychologischer Betreuung.

Auch bei der vertraulichen Geburt wird die Identität der Mutter geschützt, betont Barbara Berger. «Im Unterschied zum Babyfenster werden aber die Meldepflicht an die Behörden und das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung gewahrt.»

Nur wenige vertrauliche Geburten

Die vertrauliche Geburt ist die bessere Lösung als ein zweites Babyfenster, das findet auch der Kanton Bern. Nach dem Vorfall in Därstetten hat sich der Grosse Rat gegen ein zweites Fenster im Kanton ausgesprochen. Seit Anfang Jahr ist die vertrauliche Geburt im Kanton Bern gesetzlich geregelt – und wird auch von der Betreiberin der Babyfenster befürwortet, wie Dominik Müggler sagt.

Das Problem der vertraulichen Geburt: Sie ist noch immer zu wenig bekannt und wird von vielen Spitälern auch nicht offensiv kommuniziert. Das habe auch mit den Babyfenstern zu tun, glaubt Barbara Berger von Sexuelle Gesundheit Schweiz. Da diese privat finanziert würden, böten die Spitäler sie im guten Glauben als vermeintliche Lösung an.

Berger schwebt vor, dass nebst dem Kind künftig auch das Wohl der Mutter stärker in den Fokus rückt. «Niemand will, dass Babys ausgesetzt werden. Aber die betroffenen Schwangeren müssen früher aufgefangen werden, um das Kind in einem sicheren medizinischen Setting zur Welt zu bringen.»

Wie etwa im Lindenhofspital. Auch dort wäre eine vertrauliche Geburt möglich, wie das Spital auf Anfrage bestätigt.

Stichwörter: Babyfenster, Spital, Säugling

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